Illustration weltweite Liefernetze

Viele Krisen und unvorhergesehene Ereignisse können Liefernetze stören. Mit einem digitalen Zwilling ihrer Supply Chain bleiben Einzelhändler trotzdem lieferfähig, senken zugleich ihre Lagerbestände und sparen Transportkosten. - (Bild: Golden Sikorka - stock.adobe.com)

Werden im Baumarkt bald die Schrauben knapp? Ende April erklärte eine große deutsche Kette von Heimwerkermärkten der Nachrichtenagentur dpa, dass ihre Belieferung mit Metallteilen, Holz und Elektroartikeln stockt. Zuvor war am 23. März im Suezkanal der Containerfrachter 'Ever Given' auf Grund gelaufen und hatte die Durchfahrt durch die Wasserstraße fast eine Woche lang für zuletzt 422 Schiffe blockiert.

Durch den Kanal fließen 15 Prozent der globalen Handelsströme. Wegen der Havarie müssen derzeit auch viele Elektronikmärkte und Lebensmitteldiscounter Kunden enttäuschen, wenn diese nach Saison- oder Aktionsartikeln fragen.

Vor August wird sich dies wohl nicht ändern. Denn so lange wird es dauern, bis sich die durch den Unfall der 'Ever Given' verursachten Verzögerungen in den globalen Logistikketten auflösen, befürchtet die Vorstandsvorsitzende des Hamburger Hafens, Angela Titzrath.

Corona hat in der Logistik den größten Notstand seit Jahrzehnten ausgelöst

Der Zwischenfall trifft Reeder und ihre Kunden inmitten der größten Logistik-Krise der vergangenen Jahrzehnte. Seefahrtsexperten berichten, dass aufgrund der Corona-Krise derzeit zwei von drei Frachtern ihren Fahrplan nicht einhalten können, weil sie wegen der Hygienevorschriften in vielen Ländern und den in zahlreichen Häfen pandemiebedingt fehlenden Arbeitern oft tagelang auf ihre Abfertigung warten müssen.

Da die Schiffe länger unterwegs sind, befinden sich auch die von ihnen geladenen Container länger im Umlauf. Der Mangel an den Transportkisten führte in diesem Winter dazu, dass einige Reeder keine Buchungen mehr für Passagen von Asien nach Europa annahmen.

Luftfracht kann fehlende Kapazitäten der Containerschifffahrt kaum ausgleichen

Viele Unternehmen sind daher bereit, Waren teuer per Luftfracht zu transportieren. Wie die Internationale Air Transport Association meldet, ist die Cargo-Nachfrage bei Fluggesellschaften derzeit so groß wie noch nie. Da momentan aber fast 70 Prozent der Passagierflüge ausfallen, fehlen den Airlines Transportkapazitäten in den Laderäumen dieser Maschinen.

Autobahnen dagegen sind derzeit zwar trotz der Pandemie voll wie immer, doch Ankunftszeiten von Lkw-Transporten lassen sich seit Beginn der Krise kaum mehr zuverlässig planen. Fahrer verloren in den vergangenen 14 Monaten bei einer einzigen Tour oft mehrere Tage im Stau. Selbst wenn der Verkehr floss, mussten sie an innereuropäischen Grenzen ihre Fahrt für Einreisekontrollen unterbrechen. Zudem haben viele Spediteure Probleme mit der Disposition ihres Personals. Denn zum Fahrermangel, der die Branche seit Jahren belastet, kommen nun pandemiebedingte Reisebeschränkungen und Quarantänevorschriften.

Corona macht Prognosen zum Kaufverhalten von Kunden fast unmöglich

Martin Thesling Direktor Tech Sales in Zentraleuropa bei Delmia - Dassault Systemes
Martin Thesling ist Direktor Tech Sales in Zentraleuropa bei Delmia. - (Bild: Dassault Systèmes)

„Corona bringt jedoch nicht nur die Angebotsseite der Lieferketten unter Druck“, erklärt Martin Thesling, Direktor Tech Sales in Zentraleuropa bei Delmia, der auf Supply-Chain-Lösungen spezialisierten Marke des Software-Konzerns Dassault Systèmes. „Auch die Nachfrage der Kunden nach vielen Produkten lässt sich kaum mehr zuverlässig vorhersagen“, so Thesling. So hätte zu Beginn der Pandemie kein Einzelhändler mit Hamsterkäufen bei Hygieneartikeln gerechnet.

Unvorhergesehene Engpässe gab es dank Homeoffice und Homeschooling auch bei Webcams und Laptops. Da sich während der Pandemie das Freizeitverhalten vieler Menschen änderte, wurden im vergangenen Winter Spielekonsolen knapp. Im Sommer zuvor waren Fahrräder deutschlandweit so gut wie ausverkauft. Gleichzeitig blieben Kaufhäuser und Modeketten wegen des Lockdowns auf ihren Kollektionen sitzen.

Bei der Steuerung ihrer Lieferkette können Unternehmen auf belastbare Vorhersagen der Kundennachfrage aber ebenso wenig verzichten wie auf funktionierende Transportketten. Drei von vier Unternehmen haben dies durch die Störungen ihrer Lieferketten in der Corona-Pandemie erkannt. Um ihre Supply Chain widerstandsfähiger gegen solche Schocks zu machen, wollen sie in den kommenden drei Jahren massiv in die Digitalisierung ihrer Lieferketten investieren, ergab eine Studie der Unternehmensberatung Capgemini.

Podcast zum Thema

Lieferketten sind also enorm komplex und stellen alle Beteiligten vor besondere Herausforderungen, egal ob Einzelhandel oder produzierende Industrie. Was globale Liefernetze so komplex und vulnerabel macht, welche Herausforderungen dadurch entstehen und wie digitale Systeme dabei helfen die Supply Chain schockresistent zu machen, darüber sprechen wir im Podcast. Jetzt anhören!

Transparente Lieferketten sind agil und resilient

David Duinkerken, Senior Director Logistik für Europa bei Delmia, kann das nachvollziehen. „Einzelhändler, die mithilfe digitaler Tools die ganze Komplexität ihrer Lieferkette im Griff haben, können schnelle und besser informierte Entscheidungen treffen“, sagt Duinkerken. Jedes zweite von Delmia für eine aktuelle Studie zum Supply-Chain-Management befragte Unternehmen will diese Agilität nutzen, um sein Lager zu verkleinern und bei Lieferverzögerungen schneller und flexibler reagieren zu können.

Um dies zu erreichen, brauchen Firmen einen digitalen Zwilling ihrer Supply Chain. In dieses virtuelle Abbild der Lieferkette fliesen auf einer Plattform in Echtzeit Informationen zu Lagerbeständen, den bei Zulieferern bestellten Waren und deren Transportstatus, bis hin zu den Abverkäufen in einzelnen Filialen ein. So haben Unternehmen jederzeit den vollständigen Überblick darüber, was in ihrer Lieferkette gerade passiert. Data-Analytics-Tools und Künstliche Intelligenz erkennen anhand der Daten zudem, zu welchem Zeitpunkt mehr oder weniger von einem Produkt nachbestellt werden muss.

Da an Containern oder Fahrzeugen angebrachte Radio-Frequency-Identification-Sender oder Internet-of-Things-Sensoren den Aufenthaltsort und den Fortschritt einer Lieferung mitteilen, können die Systeme zudem frühzeitig Alarm schlagen, wenn Ware auf dem gewählten Transportweg nicht pünktlich eintrifft. Sie schlagen dann vor, auf welcher Route die Sendung ab einem bestimmten Umschlagplatz am besten weiterzuleiten ist oder, ob bei einem näher gelegenen Lieferanten ein Kontingent als Puffer für die Zeit bis zur Ankunft der Hauptlieferung bestellt werden soll.

Für die Optimierung der Lieferkette stehen unterschiedlichste Daten zur Verfügung

Die Tools nutzen für ihre Analysen Informationen, die sie aus den Enterprise-Ressource-Planning-Systemen des Unternehmens beziehen, ebenso wie Daten von Hafenbehörden, Airports oder Wetterämtern. Webcrawler speisen in die Systeme Informationen zur politischen Lage in Beschaffungsländern oder bei Lieferanten drohenden Streiks ein, die sie im Internet und sozialen Medien finden. „Es gibt sehr viele Unternehmen, die Daten sammeln, die sie selbst nicht nutzen, uns aber für unsere Business-Plattform anbieten“, ergänzt Martin Thesling von Delmia.

David Duinkerken Senior Director Logistik Europa bei Delmia - Dassault Systemes
David Duinkerken ist Senior Director Logistik Europa bei Delmia. - (Bild: Dassault Systemes)

Entscheidend ist für den Wirtschaftsmathematiker und Experten für Supply-Chain-Netzwerke allerdings nicht, möglichst viele Daten zu sammeln, sondern diese klug auszuwerten und so zur Grundlage von Entscheidungen zu machen. „Dazu müssen die unterschiedlichen Daten zunächst aus Silos geholt und in einer Single Source of Truth wie der 3D-Business-Plattform von Dassault Systèmes zusammengeführt werden“, erklärt Thesling.

Das sieht auch sein Kollege David Duinkerken so. „Wenn Einzelhändler das Potenzial ihrer Supply Chain heben wollen, müssen sie die Zahl der Systeme reduzieren, mit denen sie ihre Lieferkette planen“, rät Duinkerken.

Wer Störungen in der Supply Chain simuliert, bleibt in Notfällen handlungsfähig

Erst dann können sie die Vielzahl der in dem digitalen Abbild ihrer Lieferkette enthaltenen Informationen auch für Simulationen nutzen, die zeigen, wie sich der Ausfall eines Lieferanten, die Schließung eines Hafens oder Airports oder die Verzögerung von Lieferungen aufgrund von Erdbeben oder Streiks auf die Supply Chain auswirken könnten. Nur mit solchen Simulationen lassen sich auch Pläne erarbeiten, nach denen Einkäufer und Disponenten im Notfall vorgehen können.

„Damit die Simulationen zu sinnvollen Handlungs- und Verbesserungsvorschlägen für die Supply Chain führen, müssen sich die für die Analyse der Daten genutzten Algorithmen allerdings an die speziellen Erfordernisse eines Unternehmens und seiner Lieferkette anpassen lassen“, gibt Martin Thesling zu bedenken. „Jeder Kunde und jedes Projekt stellen eigene Anforderungen. Diese Komplexität der analogen Welt kann Software nur abbilden, wenn sie wirklich anpassungsfähig ist.“

Auf der letzten Meile zählen die Erfahrung und das Wissen von Planern und Disponenten

Diesen Anspruch erfüllt sie erst, wenn sie auch das Wissen und die Erfahrung von Einkäufern, Logistikexperten und Disponenten eines Einzelhändlers einbeziehen kann. „Sonst konfigurieren Entwickler unter Umständen eine Optimierungssoftware, die zu 99 Prozent perfekt arbeitet. Das eine Prozent an Vorschlägen, das sie nicht berechnen kann, weil sich eine entscheidende Information nicht einpflegen lässt, sorgt aber dafür, dass das System die Lieferkette zu null Prozent optimiert“, veranschaulicht Thesling das Problem.

Nur mit einer derart flexiblen Software lassen sich auch Transporte auf der anspruchsvollen letzten Meile optimieren. Denn um Touren hier so zu planen, dass alle Filialen pünktlich beliefert werden und Lkw bei der Beladung im Distributionszentrum möglichst kurze Wartezeiten haben, muss die genutzte Software wissen, zu welcher Zeit, es in welchen Straßen in der Regel zu Staus kommt und wo gerade Baustellen sind. Immer wieder müssen sich in das System neue Anlieferungsadressen, oder Zufahrtsbeschränkungen einpflegen lassen, weil die Stadtverwaltung eine Straße zur Einbahnstraße erklärt hat oder den Lieferverkehr nur noch zu bestimmten Zeiten erlaubt. Zugleich muss das Planungssystem aber auch automatisiert verfügbare Informationen verarbeiten – etwa die aktuelle Nachfrage nach einzelnen Produkten in bestimmten Filialen.

Erst wenn der an den digitalen Zwilling angeschlossene Routenplaner all dies berücksichtigt, optimiert er Touren so, dass Ware jeden Morgen pünktlich im Regal steht, Fahrer auf ihrer Strecke möglichst wenig Sprit verbrauchen und die Warenbestände im Zentrallager zugleich so niedrig wie möglich gehalten werden können, ohne, dass im Baumarkt die Schrauben ausgehen.

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