"Das kann doch nicht so schwer sein", habe ich mir gesagt, als kürzlich die Frage aufkam, was wir mit den mittlerweile viel zu langen Haaren unserer Kinder machen sollen. Nach mehreren Wochen Lockdown sahen wir alle etwas wild aus. Insbesondere meinem Sohn wuchsen die Haare schon vor die Augen. Und da die Friseure noch geschlossen waren und es auch nach Öffnung in absehbarer Zeit keine Termine zum Haareschneiden geben würde, musste da dringend was getan werden.
Bei meinen eigenen Friseurbesuchen ich immer aufmerksam verfolgt, wie mit Kamm und Schere oder Schneidapparat schnell die lästigen Haare gekürzt werden können: Erstmal den Kamm durch die Haare ziehen, dann fixieren und dann schnipp-schnapp-ab. Und immer wieder erneut von vorne. Im Besitz eines Haarschneideapparats bin ich ebenfalls. Also: "So schwer kann das doch wohl nicht sein."
Auch der Schauspieler George Clooney schneidet in Corona-Zeiten seinem Sohn die Haare, wie ich unlängst gelesen habe. Nein, nicht in der Gala beim Friseur, sondern in der SZ zu Hause. Allerdings darf George Clooney wohl nicht an die Haare seiner Tochter. Seine Frau würde ihn umbringen, wenn er versuchen würde, ihre Haare zu schneiden. Bei mir ist es meine Tochter selbst, die sich gegen einen Haarschnitt von mir wehrt, wenn ich es ihr anbiete.
Clooney vertraut beim Haareschneiden einem Haarschneidegerät, mit dem er auch selbst sich die Haare schneidet. Und falls der Schnitt mal nicht so gelingen sollte, sieht er es locker, denn die Haare wachsen ja wieder nach, sagt er. Noch so eine Eigenart, die ich mit dem Frauenschwarm George Clooney gemeinsam habe.
Dass es dann aber doch nicht so leicht ist, habe ich schon beim ersten Schnitt mit der Maschine gemerkt. Der blöde Kamm ließ sich nur schwer fixieren. Also musste ich immer wieder neu ansetzen. Aber auch der zweite Schnitt war nicht besser. Das sah beim Friseur doch so einfach aus, warum wollte mir das nicht gelingen? Und leider hatte ich die Symmetrie meines Schnitts nicht ganz so im Auge. Aber mein Sohn war geduldig, und ich führte mein Werk bis zum Ende durch. Über das Ergebnis möchte ich hier keine weiteren Aussagen treffen.
Leider denken wir nur allzu oft "Das kann doch nicht so schwer sein". In einer Art von Vermessenheit und Selbstüberhebung glauben wir, es besser zu wissen oder zu können als ausgewiesene Experten. Sei es beim samstäglichen Bundesliga-Fußball ("Den hätt‘ doch meine Oma reingemacht!"), bei den diversen Quizshows im Fernsehen ("Ich würde bis zum Millionenfrage kommen.") oder beim Klagen über die doch so unfähigen Manager und Politiker ("Wenn ich was zu sagen hätte, dann …").
Auch in der Instandhaltung begegnet uns leider oftmals ein gehöriges Maß an Selbstüberschätzung und gleichzeitig auch Geringschätzung der Leistung von Experten. „Das kann doch nicht so viel kosten“, sagte mir mal ein Kollege aus dem Vertrieb, als ich ihm die jährlichen Instandhaltungskosten unserer Fahrzeuge präsentierte. Er gab sogar zu, keine Ahnung von Instandhaltung zu haben, und trotzdem wollte er dem unangenehmen Ergebnis der Experten keinen Glauben schenken. Kein Einzelfall, so passiert es wahrscheinlich in vielen Unternehmen jeden Tag.
Die allermeisten Menschen überschätzen sich. Gerade in Bereichen, die einem gerade noch so mit scheinbar gesundem Menschenverstand nachvollziehbar erscheinen, wird gerne mitdiskutiert und der Expertenmeinung widersprochen. Das ist oftmals nicht nur für die eigentliche Sache nicht förderlich, auch die Experten wie z.B. die Instandhaltungsplaner werden solche wenig-qualifizierten Kommentare als Anmaßung und Arroganz empfinden. Es wäre daher wünschenswert, wenn wir unsere eigene Kompetenz eher mal hinterfragen, bevor wir uns in Diskussionen einbringen oder uns an so scheinbar einfachen Dingen wie Haareschneiden versuchen. Der Glaube an sich selbst ist zwar wichtig, die Grenze zur Selbstüberschätzung ist dabei aber oft fließend.
Mein Sohn hat übrigens seinen neuen, etwas zu kurz geratenen Haarschnitt stoisch hingenommen. Er fand es sogar ganz spannend, wie ich da fluchend mit dem blöden Schneidapparat vor ihm herumfuchtelte. Ich hoffe nur, dass die Lehrer in seiner Schule angesichts der neuen Frisur keine unangenehmen Fragen an mich richten. Der Hergang lässt sich nämlich nur schwer erklären. In ein paar Wochen wird man hoffentlich nichts mehr von meiner Aktion erkennen. Dann lassen wir lieber wieder jemanden an die Haare, der davon etwas mehr versteht.
Ihr
Lennart Brumby