Dass man älter wird, merkt man ja nicht nur am spärlichen Haar oder dem morgendlich beschwerlichen Aufstehen, sondern auch an grundsätzlichen Haltungen, die mehr und mehr konträr zu aktuellen Trends stehen können. So geht es mir beispielsweise, wenn ich die Empfehlung höre, alle Musik- und Fernseh-Sendungen auch jederzeit in der Mediathek abzurufen. Mit „wann immer ihr wollt“ wird eine Allzeit-Verfügbarkeit angepriesen, die natürlich sehr bequem ist, weil ich mich nicht mehr nach bestimmte Sendezeiten richten muss. Dadurch entsteht allerdings auch eine Beliebigkeit, die den jeweiligen Sendungen einen gewissen Reiz nimmt.
Ich selbst habe das bei einem früheren Lieblingstermin erlebt: Der Sonntagabend nach der Tagesschau war bei uns zuhause lange Jahre für den Tatort-Film fest reserviert. Ein Jour fixe, auf den wir uns früher die ganze Woche gefreut hatten. Irgendwann entdeckten wir aber die wunderbare Welt der Mediatheken mit allen verpassten Tatort-Folgen. Ziemlich schnell verlor dann der Traditions-Termin am Sonntagabend für uns an Bedeutung, denn man konnte den jeweiligen Tatort ja jederzeit auch später anschauen. Dazu kam es dann aber nie, denn es ergab sich selten Zeit, das Angebot der Mediatheken zu nutzen. Letztlich schauen wir uns heute kaum noch einen Tatort an, weder zum Sendetermin noch in der Mediathek.
Der Autor Prof. Dr. Lennart Brumby
Prof. Dr. Lennart Brumby ist Studiengangsleiter für Service Engineering an der DHBW Mannheim. Der ausgewiesene Instandhaltungs-Experte ist Mitglied im DIN Normungsausschuss Instandhaltung, im EAMC European Asset Management Committee, im FVI Forum Vision Instandhaltung, in der GFIN Gesellschaft für Instandhaltung, im KVD Kundendienst-Verband Deutschland, im VDI Fachausschuss After Sales Service, im VDI Fachausschuss Instandhaltung und WVIS Wirtschaftsverband für Industrieservice. Seine Kolumne erscheint exklusiv beim Fachmagazin Instandhaltung.
Es mag ein technischer Fortschritt sein, dass wir in die Lage versetzt werden, manche Ereignisse nicht mehr Zeitpunkt-abhängig zu machen, sondern unabhängig von einem bestimmten Zeitpunkt stattfinden zu lassen. Wir sehen das bei den beschriebenen Fernseh- und Musik-Sendungen, bei klassischen Büro-Arbeiten, die früher zwischen 8-17 Uhr und nun im Homeoffice zu beliebiger Zeit erledigt werden, bei zahlreichen Vorlesungen, die aufgezeichnet werden und später (zumindest theoretisch) durchgearbeitet werden können oder bei der Verfügbarkeit von Weihnachts-Schnuckelei, die ja bereits im Herbst erhältlich sind.
Ein Nachteil dieser „Allzeit-Verfügbarkeit“ ist es aber, dass ein gewisser Reiz verloren geht, der früher eben in der zeitlichen Beschränktheit bestand. Dass es diese eine Sache nur zu einem bestimmten Zeitpunkt gab und eben nicht später „konsumiert“ werden konnte. Es ist dieser „Zauber des Moments“ und die Chance auf etwas Überraschendes, die dabei verloren gehen. Und es verändert das Anspruchsdenken vieler, die sich an die Allzeit-Verfügbarkeit gewöhnt haben und nicht mehr verstehen können, warum z.B. sie zu einem bestimmten Ereignis wie einer Vorlesung anwesend sein sollen.
Was hat das jetzt mit unserer Instandhaltung zu tun, mögen Sie sich fragen? In einer Diskussion über die Attraktivität der Instandhaltung, der ich vor ein paar Tagen beiwohnte, wurde eingeworfen, dass junge Menschen der Generation Y und Z kaum noch feste Arbeitszeiten mit Anwesenheitspflicht akzeptieren wollen, und man allein schon aus diesem Grund verstärkt in die präventive und prädiktive Instandhaltung investieren müsse.
Dieses Argument hat sicherlich seine Berechtigung, und nicht nur aus diesem Grund sollten Unternehmen sich intensiv mit der proaktiven Instandhaltung beschäftigen. Was man zur Beschreibung der Attraktivität der Instandhaltung aber auch anführen kann, ist der „Zauber des Instandsetzungsmoments“: Wenn eine wichtige Maschine überraschend ausfällt, viele deshalb verzweifelt sind, und es dann einem oder einer gelingt, als „Held:in der Instandhaltung“ diese Maschine schnell wieder zu reparieren.
Rational betrachtet wollen wir natürlich solche überraschenden Situationen vermeiden, emotional gesehen sind es aber eben diese Momente, die uns mit Stolz erfüllen und von denen die Produktionsverantwortlichen dann in ihrem Jahresrückblick erzählen.
Der technische Fortschritt, der uns die „wann immer ihr wollt“-Möglichkeiten liefert, mag uns unser Leben bequemer machen. Positive Überraschungen entstehen aber nur in den Momenten, die wir nicht geplant haben.
In dem Sinne wünsche ich allen viele positive Überraschungen zum Jahresabschluss und dass wir in manchen Situationen auch dem „Zauber des Moments“ noch eine Chance geben.
Ihr, langsam vor-weihnachtlich-gestimmter
Lennart Brumby