Es ist ein Bild des Jammers. Mein alter großer Kirschbaum, der seit über 60 Jahren stolz in unserem Garten steht und etwa 12 m in den Himmel ragte, sodass die meisten Kirschen nicht gepflückt werden konnten; der immer im Frühling so prachtvoll blühte und allen im Ort einen wunderschönen Anblick bot und Symbol des Frühlings war; dieser Baum, in den man so schön hineinklettern konnte und unter dem ich zahlreiche Studien- und Bachelorarbeiten in der Hängematte liegend gelesen habe (und darüber oft dort eingeschlafen bin), dieser schöne große Baum musste in der letzten Woche brutal zurückgeschnitten werden. Die Monilinia-Krankheit hatte seine Äste an vielen Stellen befallen. Ein heimtückischer Pilz, der erst die Blüten und jetzt auch die Blätter befällt und drohte, den gesamten Baum absterben zu lassen. Durch einen radikalen Rückschnitt haben wir nun versucht, ihn noch zu retten. Denn wo sonst soll ich zukünftig meine Arbeiten lesen.
So steht jetzt da, wo mein Lieblingsbaum mich jeden Morgen zur Arbeit verabschiedet hatte, nur noch ein kümmerlicher Rest, ein dicker Stamm mit ein paar dicke Ast-Stümpfe. Ein wahrlich trauriger Anblick, der die eh schon triste November-Stimmung nochmals verstärkt. Aber es musste wohl sein, wie uns mehrfach versichert wurde.
Solche harten Veränderungen, Zäsuren sind für die betroffenen Personen schmerzlich. Nun wird mein Kirschbaum hoffentlich keine Schmerzen empfunden haben, aber für mich als Baum-Besitzer und Nutzer fühlt es sich bitter an. Und wie in Veränderungsprozessen üblich habe ich erstmal mit Schock und Widerstand reagiert. Aber mein Gärtnermeister, der mir die traurige Nachricht des Pilzbefalls und die daraus resultierenden nötigen Kappungen mitteilte, hat mein volles Vertrauen. Was vielleicht auch daran liegt, dass wir uns seit frühster Kindheit kennen und er quasi mein großer Bruder ist.
Harte Zäsuren sind manchmal notwendig, nicht nur in der Baumpflege, sondern in vielen Bereichen unseres Lebens. Aus den letzten Monaten der Corona-Bekämpfung kennen wir Zäsuren nur zu gut und mussten uns von vielen liebgewonnenen Gewohnheiten verabschieden. Die Industrie erlebt derzeit ebenfalls einige Zäsuren, wenn sich die Automobilindustrie beispielsweise vom wohlklingenden Verbrennermotor verabschieden will oder die Stahlindustrie ohne Kohle ihren Stahl herstellen will.
Und immer sind solche Zäsuren von Zweifel und Widerständen begleitet. Muss das wirklich sein? Kann es nicht so bleiben, wie es war? Es fällt schwer, sich von dem Gewohnten, doch so Bewährtem zu trennen. Immer wieder die gleichen Reaktionen, insbesondere, wenn derartige Veränderungen nicht langsam daherkommen, sondern einen schlagartig treffen. Ganz gleich, ob es ein alter Baum, ein liebgewonnenes Auto, ein jahrelang gelebter Ablauf auf der Arbeit ist. Wenn es plötzlich heißt, es geht nicht mehr so weiter, reagieren wir mit Schock, Verneinung, Wut, Trauer. Die klassischen Phasen der Trennung.
Der Autor Prof. Dr. Lennart Brumby
Prof. Dr. Lennart Brumby ist Studiengangsleiter für Service Engineering an der DHBW Mannheim. Der ausgewiesene Instandhaltungs-Experte ist Mitglied im DIN Normungsausschuss Instandhaltung, im EAMC European Asset Management Committee, im FVI Forum Vision Instandhaltung, in der GFIN Gesellschaft für Instandhaltung, im KVD Kundendienst-Verband Deutschland, im VDI Fachausschuss After Sales Service, im VDI Fachausschuss Instandhaltung und WVIS Wirtschaftsverband für Industrieservice. Seine Kolumne erscheint exklusiv beim Fachmagazin Instandhaltung.
Es kommt aber immer auch die Phase des Loslassens und der Neuorientierung. Die Trennung vom alten Baum, der den Weg freimacht, an gleicher Stelle wieder auszuschlagen oder doch etwas Neues zu pflanzen. Ein irreparabler Oldtimer, der die Suche nach einem neuen Oldtimer eröffnet. Oder eine jahrelang genutzte Software, die nun durch ein vollständig neues, wahrscheinlich sogar besseres System abgelöst wird. Mit diesem Wissen versuche ich mich zu trösten, auch wenn der aktuelle Anblick dieses tristen Baumstumpfes mir noch keine Signale des Neubeginns bietet.
„Man darf durch eine neue Tür nur gehen, wenn man die alte hinter sich zumachen kann“, hat der Theologe Friedrich von Bodelschwingh wohl einst gesagt. Und in diesem Sinne wende ich meinen Blick weg von dem gekappten Baum und freue mich auf das nächste Jahr, das mir hoffentlich wieder eine neue Laubkrone aufzeigt und ich den Baum stummen Freund schätzen und umarmen kann.
Ihr, immer noch seinem Kirschbaum nachtrauernden
Lennart Brumby