
Für produzierende Unternehmen, die ihre Prozesse robuster, schneller und wirtschaftlicher gestalten wollen, stellt die Wertstromanalyse (WSA) ein zentrales Werkzeug dar. (Bild: fanjianhua - stock.adobe.com - KI-generiert)
Prozesse in ihrer Tiefe verstehen
Industrieunternehmen stehen zunehmend unter Druck: Globale Lieferketten sind fragiler geworden, Kundenanforderungen steigen, die Variantenvielfalt nimmt zu – und gleichzeitig wächst der Anspruch an Schnelligkeit, Flexibilität und Ressourceneffizienz. Um in diesem Spannungsfeld erfolgreich zu agieren, benötigen produzierende Unternehmen ein präzises Verständnis ihrer internen Abläufe. Nicht nur einzelne Maschinen oder Fertigungsschritte sind dabei relevant, sondern die gesamte Prozesskette – vom Kundenauftrag bis zum Warenausgang. Die Wertstromanalyse (WSA) hat sich als besonders wirksames Instrument etabliert, um diesen ganzheitlichen Blick auf die Produktion zu ermöglichen, Schwachstellen systematisch zu erkennen und Prozesse gezielt zu verbessern.
Ursprünge und konzeptioneller Rahmen
Die WSA ist fest im Lean-Management verankert, das auf die Prinzipien des Toyota-Produktionssystems zurückgeht. Sie folgt dem Grundgedanken, dass sämtliche Aktivitäten, die keinen direkten Kundennutzen stiften, als Verschwendung zu betrachten sind. Ziel ist es, diese nicht-wertschöpfenden Tätigkeiten konsequent zu identifizieren und zu eliminieren oder zumindest drastisch zu reduzieren. Dabei ist entscheidend: Die Wertstromanalyse betrachtet nicht isolierte Prozessabschnitte, sondern fokussiert auf den Fluss des Materials und der Information über den gesamten Wertstrom hinweg.
Im Unterschied zu herkömmlichen Prozessdarstellungen bietet die Wertstromanalyse eine strukturierte, visuell unterstützte Methode, die sowohl den Ist-Zustand als auch ein angestrebtes Soll-Szenario modelliert. Sie ist damit nicht nur Werkzeug der Analyse, sondern auch Treiber für strategische Prozessentwicklung.
Der methodische Ablauf einer Wertstromanalyse
Im Mittelpunkt steht die Erstellung einer sogenannten Wertstromkarte (engl. Value Stream Map), die sämtliche Schritte eines Prozesses in chronologischer Abfolge abbildet. Diese Karte umfasst sowohl den physischen Materialfluss – von der Anlieferung der Rohmaterialien bis zum Versand des Endprodukts – als auch den damit verbundenen Informationsfluss, beispielsweise Bestellwesen, Produktionsfreigaben oder Steuerungssignale.
Besonders bedeutsam ist dabei, dass die Wertstromkarte nicht aus der Perspektive einzelner Abteilungen gezeichnet wird, sondern aus Sicht des Gesamtprozesses. Diese ganzheitliche Betrachtung offenbart typischerweise eine Vielzahl an Ineffizienzen: unnötige Transporte, überhöhte Lagerbestände, Medienbrüche bei der Informationsübertragung oder nicht abgestimmte Taktzeiten.
Neben den konkreten Arbeitsstationen und -schritten werden auch zeitbezogene Kennzahlen erfasst – etwa Zykluszeiten, Rüstzeiten, Bearbeitungszeiten und Liegezeiten. Diese werden nicht selten zu einem zentralen Erkenntnistreiber, da sie die Differenz zwischen tatsächlicher Bearbeitungszeit und gesamter Durchlaufzeit offenlegen. In vielen Unternehmen liegt die wertschöpfende Zeit bei unter zehn Prozent der Gesamtzeit – ein Indikator für erhebliche Optimierungspotenziale.
Von der Analyse zur Verbesserung: Wertstromdesign
Die eigentliche Stärke der Wertstromanalyse liegt in ihrer Erweiterung durch das sogenannte Wertstromdesign. Aufbauend auf der Ist-Analyse wird ein Soll-Zustand definiert, der die Prinzipien des Lean-Managements konsequent berücksichtigt. Dabei stehen verschiedene Gestaltungshebel zur Verfügung: Synchronisation der Prozesse entlang eines gemeinsamen Takts, Einführung von Pull-Systemen, Reduktion von Beständen durch Supermarktprinzipien, Optimierung von Rüstvorgängen oder Neuanordnung von Materialflüssen.
Dieser Zukunftszustand wird ebenfalls als Wertstromkarte visualisiert und dient als Zielbild für die Prozessentwicklung. Daraus leiten sich konkrete Maßnahmenpakete ab, die systematisch umgesetzt werden – idealerweise im Rahmen kontinuierlicher Verbesserungsprozesse (KVP). Die Wertstromanalyse liefert somit nicht nur Analyseergebnisse, sondern eine strukturelle Grundlage für die Operationalisierung von Lean-Initiativen.

Kultureller Wandel als Bestandteil des Erfolgs
Die Durchführung einer Wertstromanalyse hat weitreichendere Implikationen als lediglich technische oder logistische Optimierungen. Sie erfordert und fördert ein abteilungsübergreifendes Denken. Da die Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette analysiert werden, müssen Mitarbeitende aus Produktion, Logistik, Planung, Qualitätssicherung und oft auch Vertrieb gemeinsam an einem Tisch sitzen. Die gemeinsame Erstellung und Diskussion der Wertstromkarte schafft ein neues Verständnis für gegenseitige Abhängigkeiten und legt die Basis für echte bereichsübergreifende Zusammenarbeit.
In vielen Unternehmen ist dies der Beginn eines kulturellen Wandels, in dem Silodenken durch systemisches Prozessdenken ersetzt wird. Die Sprache der Wertstromanalyse – visuell, nachvollziehbar, faktenbasiert – ist dabei ein kraftvolles Kommunikationsmittel, das Verständnis, Akzeptanz und Engagement in der Belegschaft fördert
Digitale Potenziale und Zukunftsperspektiven
Auch im Zeitalter der Digitalisierung bleibt die Wertstromanalyse aktuell – sie erfährt sogar eine neue Dynamik. Digitale Tools ermöglichen heute die automatische Erfassung von Prozessdaten und deren Integration in digitale Wertstrommodelle. Sensorik in Maschinen, ERP-Systeme und MES-Anwendungen liefern Echtzeitinformationen über Produktionsabläufe, Stillstände und Durchlaufzeiten. Diese Daten lassen sich nicht nur zur Analyse des Status quo verwenden, sondern auch für Simulationen von Soll-Prozessen oder zur Verknüpfung mit KI-basierten Optimierungsalgorithmen.
Dennoch bleibt der Kern der Methode unangetastet: Die WSA lebt von der aktiven Einbindung der Mitarbeitenden und der klaren, ganzheitlichen Sicht auf Prozesse. Sie ist kein rein technokratisches Analysewerkzeug, sondern ein strategischer Hebel für lernende Organisationen.
Ein unverzichtbares Werkzeug der Prozessarchitektur
Die Wertstromanalyse ist mehr als ein Instrument zur Effizienzsteigerung – sie ist Ausdruck einer Haltung: der konsequenten Kundenorientierung, der Bereitschaft zur Transparenz und der Überzeugung, dass Verbesserung nicht punktuell, sondern systemisch erfolgen muss. Gerade in Zeiten wachsender Komplexität ist die Fähigkeit, Prozesse zu durchdringen und gezielt zu gestalten, ein entscheidender Wettbewerbsvorteil.
Für produzierende Unternehmen, die ihre Prozesse robuster, schneller und wirtschaftlicher gestalten wollen, stellt die WSA ein zentrales Werkzeug dar. Richtig eingesetzt, entfaltet sie Wirkung auf mehreren Ebenen: Sie verbessert die Abläufe, stärkt die Zusammenarbeit, fördert das Denken in Zusammenhängen – und schafft die Grundlage für eine zukunftsfähige Wertschöpfung.
Glossar: Zentrale Begriffe der Wertstromanalyse
Wertstrom
Gesamtheit aller Aktivitäten – wertschöpfend und nicht-wertschöpfend –, die notwendig sind, um ein Produkt oder eine Dienstleistung vom Auftrag bis zur Lieferung bereitzustellen.
Wertstromanalyse (WSA)
Methode zur strukturierten Visualisierung und Analyse des Material- und Informationsflusses innerhalb eines Wertstroms.
Wertstromdesign
Weiterentwicklung der WSA; Gestaltung eines optimierten Soll-Zustands mit Ziel der Effizienzsteigerung und Reduktion von Verschwendung.
Lean-Management
Managementphilosophie mit dem Ziel, Prozesse schlank zu gestalten, Kundenwert zu maximieren und Verschwendung zu vermeiden.
Zykluszeit
Die Zeit, die für die Bearbeitung eines einzelnen Teils oder einer Einheit an einem Arbeitsplatz benötigt wird.
Taktzeit
Die zur Erfüllung der Kundennachfrage erforderliche Zeitspanne, in der ein Produkt hergestellt werden muss.
Rüstzeit
Zeitaufwand für das Umstellen von Maschinen auf ein neues Produkt oder einen neuen Fertigungsauftrag.
Pull-Prinzip
Produktionssteuerung, bei der Material oder Produktion nur auf Abruf des nachgelagerten Prozesses erfolgt.
Supermarktprinzip
Materialbereitstellungssystem, bei dem ein fest definierter Bestand durch Entnahme automatisch zur Nachlieferung führt – ähnlich dem Prinzip eines Supermarktregals.
KVP (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess)
Systematische Methode zur permanenten Optimierung von Prozessen durch schrittweise Veränderungen.