Materialfluss im Karlsruher Siemenswerk wird ausschließlich über AMRs (Autonomous Mobile Robots) gesteuert

Der Materialfluss im Karlsruher Siemens-Werk erfolgt ausschließlich über AMRs (Autonomous Mobile Robots) (Bild: Siemens)

Wo fängt man an, wie setzt man ihn um und wo hört man auf? Kurz gesagt: Man schaut bei Herausforderungen genau auf seine Stärken, nimmt Veränderungen und Risiken an und akzeptiert, dass es bei einer Matrixproduktion immer neue Facetten und Möglichkeiten gibt.

„In unserem Werk war der räumliche Fluss der Maschinen mit einer Produktionssegmentierung aufgrund der Produktvariabilität und der Volatilität nicht mehr zu halten“, nennt Manfred Kirchberger, Werksleiter des Karlsruher Siemens-Werks, die Herausforderung, die den Anstoß zum Aufbau einer Matrixproduktion gab. Als überzeugte Verfechter der Lean-Kultur war es nicht leicht, den räumlichen Fluss aufzubrechen.

Jedoch stellte die unterschiedliche Auslastung der teuren Maschinen den Gesamtsieger der ‚Fabrik des Jahres 2021‘ vor eine große Herausforderung: Wie kombiniert man die Vorteile einer Werkstattfertigung mit den Lean-Prinzipien und ersetzt den räumlichen durch einen virtuellen Fluss? Den Vorteil einer Werkstattfertigung mit einem Fluss zu verbinden, ohne dass jemand eingreifen muss, war in Karlsruhe unter anderem möglich, da die notwendigen flexiblen Prüfverfahren über Flying Probes bereits vorhanden waren.

Das sind die Vorteile einer Matrixproduktion

Zitat Manfred Kirchberger, Werksleiter des Karlsruher Siemens-Werks: „Matrix treibt Innovation und Veränderungen. Genau das brauchen wir in Deutschland auch, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Allerdings muss man eine Menge Voraussetzung dafür schaffen. Nicht nur technisch, wie eine andere IT-Architektur, sondern auch in den Abläufen oder in der Produktstruktur. Das Wesentliche liegt jedoch in der Kultur und der damit verbundenen Bereitschaft, diese Veränderung zu gehen.“
Manfred Kirchberger, Werksleiter des Karlsruher Siemens-Werks. (Bild: Siemens)

„Dies war jedoch kein Selbstläufer“, sagt Kirchberger und erklärt: „Vorher konnte dieser Flying Probes-Schritt vor oder nach der THT-Bestückung stattfinden. Hätte man dies so belassen, hätte man keine Matrix aufbauen können. Also legten wir fest, dass die elektrische Prüfung davor stattfinden soll, weil die verlorene Testabdeckung nach THT als Risiko beherrschbar war.“

Um dies zu realisieren war aber vorher noch eine intensive Qualitätsarbeit zusammen mit den Mitarbeitern notwendig, um die Stabilität der Prozesse deutlich zu erhöhen.

„Es ist immer ein ‚gefühltes Risiko‘ dabei, aber das Management war bereit, Vertrauen in die Prozessarbeit, die wir über die Menschen leisten, zu setzen. Durch diesen Kulturwandel haben wir die Voraussetzung für eine Grundstruktur in der Matrix geschaffen,“ sagt Kirchberger über die Vorgehensweise, die auch in allen anderen Bereichen angewendet wurde. Erst überlegen, was man erreichen will, dann Potenziale suchen und anschließend intensiv Verbesserungsarbeit leisten.

Die Benefits einer Matrixproduktion im Fluss waren klar: kürzere Durchlaufzeit und bessere Auslastung der Maschinen. Nun galt es einen Weg zu finden, wie man die Maschinen flexibel nutzen kann, und viele Nebenprozesse zu lösen. Um die Produkte von einer festen Zuordnung zu den Maschinenlinien zu lösen, musste Maschinen- und Programmgleichheit hergestellt werden. „Wir haben zusammen mit Lieferanten die Maschinen so weiterentwickelt, dass sie zum Beispiel die dafür notwendigen kurzen Rüstintervalle lösen können und die technologischen Anforderungen erfüllen, die wir brauchen“, erzählt Kirchberger über die Entwicklungsarbeit, die sich beim Aufbau einer Matrix nicht umgehen lässt.

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(Bild: SV Veranstaltungen)

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Hier hilft die Digitalisierung

Im Siegerwerk  (Gesamtsieger der ‚Fabrik des Jahres 2021) hat man es geschafft, die Werkstattfertigung mit einem Fluss zu verbinden, ohne dass jemand eingreifen muss.
Im Siegerwerk hat man es geschafft, die Werkstattfertigung mit einem Fluss zu verbinden, ohne dass jemand eingreifen muss. (Bild: Siemens)

Für die Prüfung von Baugruppen wird je nach Variante ein anderer Hardwareadapter benötigt. Aufgrund der hohen Variantenvielfalt und dem damit verbundenen Rüstaufwand, hat sich die ‚Fabrik des Jahres 2021‘ schon relativ früh für Flying Probes entschieden. Der klare Vorteil: Die Verlagerung der Komplexität in der Hardware in die Software. Es gab aber viele andere Prozesse und Themen zu lösen. Das Einstellen der Maschine für die Tests der verschiedenen Baugruppen sollte ohne Eingreifen eines Mitarbeiters erfolgen. „Klingt einfach, birgt aber ein paar Tücken.

Woher weiß zum Beispiel die Maschine, welches Programm sie lädt? Funktionieren alle Programme auf jeder Maschine gleich? Obwohl sie baugleich sind, haben sie immer noch Toleranzen zueinander“, nennt Kirchberger einige der Fragen, die es zu beantworten galt. Auch die Digitalisierung hilft Fragestellungen zu lösen, welche vorher nicht aufgefallen waren. Zum Beispiel entscheidet eine KI, ob es sich um einen Pseudofehler bei der elektrischen Prüfung handelt oder nicht.

„Als Frontrunner muss man mehr investieren, weil man mit Lieferanten Lösungen entwickeln muss, die es im Markt noch nicht gibt“, sagt Kirchberger über die Tatsache, dass man für Innovation auch Geld in die Hand nehmen muss. In einer Matrix treibt eine kleine Innovation die nächste. Und so musste auch eine Lösung gefunden werden, die fertigen Teile zu stapeln und die Leertransporte zurückzuführen.

„Dabei sind coole Ideen mit unseren Facharbeitern entstanden, wie zum Beispiel einfache mechanische Wippen, die in die Automatisierung eingebunden wurden. Unsere Mitarbeiter sind begeistert, den Aufbau der Matrix aktiv mitzugestalten und die Verbesserung mit einzubringen“, verrät Kirchberger und erklärt damit auch, warum in seinem Werk trotz dem hohen Automatisierungsgrad der Mensch im Mittelpunkt steht.

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Was in einer Matrix oft unterschätzt wird

Ein weiteres Beispiel für Innovation: ein Ansaughilfenroboter. Für das Handling von Bauteilen mit ungünstiger Geometrie braucht man so genannte Ansaughilfen, die nach der Bestückung auf dem Bauteil verbleiben. Weil aber die Nadel im Flying Probe-Test für das mit dem Hilfsmittel bedeckten Bauteil keine Funktion feststellen würde, mussten die Facharbeiter in der Linie die Ansaughilfen manuell entfernen – tausende am Tag. „Wir haben vorher gar nicht daran gedacht, diesen Schritt zu automatisieren – er wurde eben einfach so mitgemacht“, gibt der Werksleiter zu.

Die Lösung entstand im Rahmen einer Masterarbeit mit dem KIT – Karlsruhe Institute of Technology: ein Ansaughilfenroboter, der wie ein Staubsauger die Ansaughilfen entfernt. Ihm zu sagen, wo die Teile sind, die er absaugen soll, war die eigentliche Kunst, denn aufgrund der hohen Varianz, galt es viele Daten auszulesen und zu pflegen.

Genau der Punkt, der laut Kirchberger in einer Matrix oft unterschätzt wird: „Eine Matrix in der Komplexität, wie wir sie haben, bekommt man ohne Digitalisierung nicht umgesetzt.“ In der einfachen Montage mag man ohne vielleicht noch eine Chance haben. Spätestens, wenn viele Verbindungen vorliegen und alles sehr flexibel eingestellt werden muss, braucht es aber Simulationstools für die Auslegung. „Und“, ergänzt Kirchberger, „Sie müssen eine andere Kultur im Umgang mit Daten haben. Sie müssen viel mehr Daten pflegen, sonst klappt es nicht. Der Anspruch an Genauigkeit und Disziplin ist in einer Matrix anders.“

Das ist der springende Punkt: Eine hochautomatisierte Matrix kann man nicht vom Ingenieurbüro kaufen. Die Automatisierungsstraßen oder gewisse Teile dafür ja. „Für das Zusammenspiel müssen Sie aber eine Kultur mit ihren Leuten entwickeln“, weiß Kirchberger. Diese Kulturentwicklung ist die Voraussetzung, um eine komplexe Matrixproduktion zu leben, denn diese ist dynamisch und verändert sich permanent. Die Anpassung und die Komplexität beherrschen kann nur der Mensch. Ebenso Kreativität bei neuen Herausforderungen entwickeln.

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Mini-Matrix hält Lean-Gedanken die Treue

Ende 2017 damit angefangen, ist man auch im Werk Karlsruhe mit der Matrix noch nicht durch. Wenn man ein Thema umsetzt, kommt das nächste. Und so ist die Mannschaft schon wieder im nächsten Bereich am Lernen und Verbessern. „Bei der Matrix tauschen Sie Verschwendungsarten. Sie haben einen deutlich höheren Transportaufwand, dafür bekommen Sie eine höhere Auslastung des Menschen oder der Maschinen. Damit dieser höhere Transportaufwand sich nicht nachteilig auswirkt, ist ein automatischer Transport notwendig“, erklärt der Werksleiter.

Ist die Anzahl der notwendigen Transporte pro Produkt sehr hoch, spielen plötzlich die Zeiten des Andock-Vorganges der AMRs (Autonomer Mobiler Roboter) eine große Rolle. Die jüngste Innovation ist die so genannte Mini-Matrix. Der Transport erfolgt nicht mehr im freien Raum, sondern begrenzt sich auf Platten, auf denen Träger völlig chaotisch fahren können. Damit eröffnen sich weitere Einsatzmöglichkeiten der Matrixproduktion in nach Lean-Prinzipien gestalteten Flusslinien.

Die nächsten Schritte liegen für Siemens darin, Simulationsmodelle zu verfeinern, sowie in Zusammenarbeit mit Universitäten und Siemens Forschungsabteilungen im Bereich Quantencomputing zu experimentieren. Die steigende Anzahl an Verbindungen und Möglichkeiten in Echtzeit zu verarbeiten, bringen die derzeitigen Rechner irgendwann an ihre Grenzen. Deshalb wird untersucht, ob dies ein möglicher Ansatz wäre, um die Herausforderung der Zukunft zu lösen.

Blick auf die Fertigungsinseln: An diesen Koppelplätzen ist die Produktvarianz gut zu erkennen.
Blick auf die Fertigungsinseln: An diesen Koppelplätzen ist die Produktvarianz gut zu erkennen. (Bild: ABB)

ABB: Große Erfolge auf kleinem Raum

Das Problem, das es bei ABB in Ratingen zu lösen galt, war Platz. „Wir haben zwar nicht tausende Konfigurationsmöglichkeiten wie bei einem Auto, aber es gibt einige Produkte, die manche Arbeitsstationen anlaufen und manche nicht. Und deshalb haben wir in bestimmten Produktionslinien eine Matrixproduktion“, sagt Dr. Thorsten Fugel, Werksleiter der ‚Fabrik des Jahres 2021‘ in der Kategorie ‚Hervorragende Serienfertigung‘.

Auch wenn der Begriff Matrix wegen der Anordnung der Prozessmodule erst später definiert wurde: Aufgrund der begrenzten Produktionsfläche gab es in Ratingen von Anfang an Fertigungsinseln, an deren Stationen mehrere Tätigkeiten ausgeführt werden konnten. Für alle Produkte universell, konnte man die Stationen entsprechend auslasten. Rund sieben verschiedene Inseln gibt es inzwischen, die einfach – für selten gefertigte Varianten – oder bis zu dreimal vorhanden sein können. Neben universellen Notinseln für spezielle Konfigurationen existieren zum Beispiel drei Koppelplätze, auf denen alle Varianten produziert und somit die Fertigungskapazität flexibel erhöht werden kann.

Als die Fabrik vor 20 Jahren gebaut wurde, wurden die Produkte noch über ein Schienensystem an der Decke zu den einzelnen Stationen transportiert. „Von der Steuerung her war dies natürlich Industrie 4.0“, denkt Fugel an die an den Produkten angebrachten Papierkarten zurück, auf denen die zu durchlaufenden Prozessschritte festgehalten wurden. Dennoch war man mit diesem Prinzip sehr flexibel, was die Planung der Fertigungskapazitäten anging. Diese aber zu steigern, war mit dem zeitaufwändigen Absetzen und Einspannen der Produkte in die Schiene nicht möglich. Heute übernehmen den Platzverhältnissen und Produktabmessungen angepasste Wägen mit RFID-Code den Transport zwischen den Stationen, gesteuert von einem Produktionsbegleitsystem.

„Fahrerlose Transportsysteme brauchen mehr Platz, vor allem wenn sie die Wege der Menschen kreuzen. Den haben wir nach wie vor nicht. Deshalb sind wir in der Linie für die kleineren Produkte mit dem Menschen als Transportsystem effizienter“, erklärt Fugel. Das Ergebnis: Im Vergleich zu damals produziert ABB mit der gleichen Anzahl an Mitarbeitenden das Fünffache. Bei großen, schweren Produkten, die bis zu zwei Tonnen wiegen können, befindet sich das Werk gerade in der Transformation: Die Materialversorgung zur Insel als auch den Weitertransport sollen künftig AGVs übernehmen.

Das sind die Industrietrends 2023

Fachkräftemangel, Energiekrise, Ukrainekrieg und natürlich die Inflation: Der Industrie steht ein herausforderndes Jahr bevor.

 

PRODUKTION hat nachgehakt und Verbände und Unternehmen nach Wachstumsmärkten, Wettbewerbsfähigkeit und den Konjunkturerwartungen gefragt. Einen Einblick geben neben dem VDMA, VDW und ZVEI folgende Unternehmen: Trumpf, Schunk, Franke, Beckhoff und Benteler.

 

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