Omar Abbosh, Chief Strategy Officer von Accenture

Er ist der Chief Strategy Officer von Accenture: Omar Abbosh. - (Bild: Accenture)

"‚Disruption‘ ist in der Wirtschaft ein geflügeltes Wort. Es bezeichnet die plötzliche Verdrängung eines bestehenden Geschäftsmodells durch ein neues: ‚Video killed the radio star‘, zum Beispiel, oder Smartphone-Apps verdrängen den Browser. Während schlagartige Disruption die Schlagzeilen schon seit einiger Zeit beherrscht, stellt kompressive Disruption – also der langsame Niedergang bestehender Geschäftsmodelle – eine weitaus gefährlichere Bedrohung für viele Unternehmen dar.

Gerade Industrieunternehmen erkennen diese Gefahr für ihr Kerngeschäft oft nicht rechtzeitig genug. Sie wiegen sich in falscher Sicherheit, weil sie angesichts ihrer Fabrikhallen und Maschinen meinen, ihre Wettbewerber müssten erst erhebliche Kapitalinvestitionen tätigen, bevor sie ihnen gefährlich werden könnten. Doch dieser Eindruck täuscht: Oft sind die Vermögenswerte der Unternehmen nämlich zugleich eine Last, da sie teuer zu betreiben und nicht immer voll ausgelastet sind. Geht die Profitabilität der Branche zurück – etwa durch intensiveren Wettbewerb, oder Verpflichtungen wie Schulden oder Pensionslasten – sorgen die teuren Anlagen schnell dafür, dass das Geld für ausgerechnet das fehlt, was das Wachstum zurückbringen könnte: Innovation.

Die klassische Management-Reaktion auf schleppendes Wachstum lautet nicht selten, bestehende Geschäftsmodelle auf noch mehr Effizienz zu trimmen. Das geschieht etwa indem Skaleneffekte weiter ausgereizt und so die Kosten pro Einheit gesenkt werden. Derlei löst das eigentliche Problem aber nicht: ein Geschäftsmodell, das im veränderten Marktumfeld nicht mehr funktioniert. Wer der kompressiven Disruption entgehen will, muss deshalb radikal handeln – und sich sich vom traditionellen Kerngeschäft trennen. Vielen Unternehmen fällt eine solche Neuausrichtung enorm schwer.

Vier Schritte in die Zukunft

Der erste Schritt dieser Trennung besteht in der Transformation des Kerngeschäfts mit dem Ziel, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Das verschafft Spielraum für zukünftige Investitionen. Eine größere Wettbewerbsfähigkeit lässt sich etwa durch Zero-Based Budgeting erreichen, über Verbesserungen in der Beschaffung, den Einsatz von Cloud-Technologien oder mithilfe intelligenter Automation.

Die zusätzlichen Gewinne können dann genutzt werden, um andere Teile des Unternehmens aufzubauen oder neu aufzustellen. Diese Umschichtung von Mitteln sehen wir derzeit bei vielen Autoherstellern, die höhere Margen im Kerngeschäft nutzen, um die Entwicklung von Elektroautos voranzutreiben.

Neue Wege in Vertrieb und Kundeninteraktion gehen

Die zweite Stufe der Transformation wird oft vernachlässigt: Organisationen müssen aus den genannten Gründen für zusätzliches Wachstum im Kerngeschäft sorgen und neue Wege in Vertrieb und Kundeninteraktion gehen. Über Instrumente wie digitales Marketing, Analytics und Interaktionen im Web erhalten sie neue operative Einblicke und rücken so näher an ihre Kunden heran.

Ein gutes Beispiel liefert Schneider Electric mit seiner digitalen ‚Energy University‘: Über das kostenfreie Online-Weiterbildungsangebot bietet das Unternehmen nicht nur Elektrikern einen Mehrwert, sondern lernt im Gegenzug auch viel über die Bedürfnisse einer wichtigen Zielgruppe.  

Zudem sollten die Unternehmen anfangen, kleinere strategische Wetten einzugehen und mit Nischenangeboten zu experimentieren, um zusätzliche Umsatzquellen zu erschliessen. Das Spektrum reicht von datenbasierten Services wie Predictive Maintenance bis hin zu neuen Vertriebsmodellen wie etwa Products-as-a-Service.

Unternehmen müssen Innovationsarchitektur aufbauen

Die dritte und potenziell schwierigste Herausforderung besteht darin, die Nischenangebote aus dem zweiten Schritt so zu skalieren, dass sie zur Grundlage für ein ganz neues Kerngeschäft werden. Über den Erfolg entscheidet hier vor allem, ob es dem Unternehmen gelingt, eine Innovationsarchitektur aufzubauen.

Gemeint ist eine Struktur, die dabei hilft, die wirklich zukunftsfähigen Nischenangebote auszuwählen, weiter zu entwickeln und zum Geschäftsmodell der Zukunft zu skalieren. Wichtig hierbei: das alte Kerngeschäft bleibt zunächst weiter bestehen, während gleichzeitig die gewählten Innovationen zu vollwertigen Geschäften aufgebaut werden.

Der vierte Schritt ist die intelligente Neuausrichtung, also die Trennung vom alten Kerngeschäft und die volle Fokussierung auf die neuen Umsatzbringer. In dieser Phase geht es vor allem darum, das Investitionsmanagement und die Kapitalallokation zu optimieren, die Kapitalströme vom Kern- bis zum Neugeschäft richtig zu steuern und während des Übergangs das Gleichgewicht zwischen alten Einnahmequellen und zukünftigen Geschäftsmodellen zu halten.

Wandel beherzt angehen

Wer zu schnell vom Kern- zum Neugeschäft kommen will, hat nicht selten mit Überinvestition und finanzieller Überforderung zu kämpfen. Wer jedoch zu langsam handelt, könnte sich schon bald in seiner Existenz bedroht sehen. Es kommt daher auf die sorgfältige Planung und das richtige Maß bei der Umsetzung des Wandels an.

Ich bin überzeugt, dass sich Unternehmen heute radikaler denn je dem „Neuen“ zuwenden müssen. Der Königsweg liegt in der bewussten Transformation des Kerngeschäfts bei gleichzeitiger Erschließung zukunftsfähiger Geschäftsmodelle und der Expansion in neue Branchen.

Diese kontinuierliche Reise erfordert Entscheider in den Unternehmen, die den Wandel beherzt angehen und das Timing, den Umfang und Investitionen richtung zu steuern wissen. Dabei gilt es, sowohl das Kern- wie auch das Neugeschäft im Blick zu halten."

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