Menschen und Maschinen im Verbund eines MES

Maßgeschneidert oder standardisiert heißt oftmals die Frage bei Manufacturing Execution Systemen. Aber warum eigentlich? Denn individuelle Lösungen und Standards schließen sich nicht aus. - (Bild: maslakhatul - stock-adobe.com)

Der Traum von der grünen Wiese: Eine Fabrik so planen und bauen, dass nicht nur Alles passt, sondern auch Alles zusammen passt. Digital, vernetzt und wandlungsfähig, unbelastet von bestehenden Systemen und Anlagen. Die Realität sieht freilich anders aus. „Wir haben in Deutschland kaum noch Greenfield, sondern vor allem Brownfield“, sagt Karl Tröger, Business Development Manager bei PSI Automotive & Industry. Gewachsene Strukturen, begrenzte Flächen und Maschinen aus unterschiedlichen Jahrzehnten in einer Fertigung sind der Normalfall.

Manufacturing Execution Systeme (MES) verwandeln Brownfield zwar nicht in grüne Wiese. Doch sie sind der Dreh- und Angelpunkt, der von Topfloor bis Shopfloor eine ganze Reihe von Ebenen und Bereichen horizontal und vertikal miteinander verzahnt. „MES sind ein fundamentaler Bestandteil der Digitalisierung der Fabrik. Ohne MES ist die strategische Entwicklung der digitalen Fabrik nicht möglich und es bleibt bei domänenspezifischen Einzellösungen“, betont Marc Bayer von der Unternehmensberatung RolandBerger. MES verbinden und bauen Brücken. Sie sorgen dafür, dass vorhandenen Ressourcen effizient genutzt werden und alle nötigen Informationen dort bereit stehen, wo sie benötigt werden.

Die Aufgaben eines Manufacturing Execution System (MES)

Feinplanung und Feinsteuerung, Auftrags-, Betriebsmittel-, Material- und Personalmanagement, Datenerfassung, Leistungsanalyse, Qualitäts-, Informations- und Energiemanagement. - Quelle: VDI 5600

Das funktioniert jedoch nur, wenn es gelingt Operational Technology (OT) aus dem 20. Jahrhundert mit Informationstechnologie (IT) aus dem 21. Jahrhundert zu verknüpfen. Und umgekehrt. Wenn es gelingt, gewachsene IT-Strukturen aufzubrechen, um unterschiedlichste Elemente immer wieder neu und nahtlos miteinander zu verbinden.

Klar ist: Die eine Lösung für Alle und Alles existiert genauso wenig wie der Stein der Weisen, der unedle Materie in Gold verwandelt. Das aktuelle Angebot an MES spiegelt das deutlich wieder. Es ist umfangreich und vielfältig, dabei aber doch nicht so vielfältig, dass am Ende auf Anpassungen bei der Implementierung vor Ort verzichtet werden kann. Digitalisierung im Brownfield braucht individuell anpassbare IT-Lösungen. Sie braucht aber auch mehr Standardisierung, soll sie ihr Potenzial voll entfalten.

Schlank, wandelbar und standardisiert

„IT-Systeme sind immer ein Spiegel der Gesellschaft und der Zeit, aus der sie kommen“, findet Karl Tröger. „In der heutigen ERP- und MES-Welt gibt es noch immer sehr viele Funktionssilos. Systeme mit einem immensen Datenspeicher, die nahezu Alles machen außer Staubsaugen. Im täglichen Leben haben wir uns dagegen längst an Apps mit deutlich reduzierterem Funktionsumfang gewöhnt und das wird auch durchschlagen auf Betriebssoftware wie MES“, erwartet er.

„Die Forderung lautet: Ich will nicht mehr mit einem IT-System Alles machen, sondern genau die Services bekommen, die ich benötige, um meine Ziele zu erreichen.“ Vom idealen MES der Zukunft hat er eine klare Vorstellung: „Es ist modularisiert, autonom und schlank und es fußt in den Kernelementen auf Standards.“

Der Weg dorthin führt über die Vereinheitlichung von Schnittstellen, Datenmodellen und Übertragungsprotokollen. „Einzelne Elemente oder Funktionen müssen problemlos aneinander andocken und sich zu einem neuen System oder einer neuen Funktionalität konfigurieren können. Gegebenenfalls auch nur temporär“, denkt Tröger. Etwa so wie sich in der Baubranche Arbeitsgemeinschaften zur Errichtung einer Autobahnbrücke bilden und nach Abschluss ihrer Aufgabe wieder auseinander gehen.

„Wer das beherrscht, hat ein wandelbares Produktionssystem und eine wandelbare Software und ist auch für Unvorhersehbares gewappnet. Die Wandelbarkeit der Produktion, die ja gewollt ist, muss sich in der Wandelbarkeit der dazugehörigen IT wieder spiegeln“, fordert er.

Stabile Struktur aus Standards

Die Grundsteine für ein umfassendes Standardisierungsgerüst sind längst gelegt und es wächst stetig und parallel in unterschiedlichsten Initiativen. Angefangen bei Projekten wie BaSys 4.0 und BaSys 4.2 in denen eine Middleware für Industrie 4.0 entsteht, über die Verwaltungsschale der Plattform Industrie 4.0 oder die Business Process Model and Notation (BPMN) bis hin zur Open Source Schnittstelle OPC UA.

Damit Standards wirken, müssen sie jedoch auch einheitlich angewandt werden: „Mit unendlichem Aufwand lässt sich Alles vernetzen, aber davon müssen wir weg kommen“, fordert Tröger. Es reiche nicht aus, vorhandene Standards nur zu 90 Prozent umzusetzen. „Wenn eine Anlage zwar eine OPC UA-Schnittstelle hat, diese jedoch an einer Stelle geringfügig anders verwendet wird, dann entwickelt sich eine einfache Anbindung – beispielsweise einer Maschine an ein MES – schnell zu einem komplexen Individualprojekt“, weiß er aus Erfahrung.

MES-Baukasten auf der Plattform

Thorsten Strebel, Geschäftsführer Products and Services bei MPDV, setzt auf standardisierte Individual-Software: An die Stelle eines integrierten MES, das alle klassischen Funktionen umfasst, treten standardisierte Apps, die über eine gemeinsame Plattform zugänglich und beliebig kombinierbar sind. „Wichtig für eine solche individuelle Standardsoftware ist eine umfassende Interoperabilität, die durch ein semantisches Informationsmodell geschaffen wird. So können einzelne Funktionen unabhängig voneinander auf den gleichen Daten arbeiten“, erklärt Strebel.

Im Idealfall tauschen die einzelnen Apps von verschiedenen Anbietern, Anwendern und Dienstleistern auf der Plattform auch Daten untereinander aus. Der große Vorteil für den Kunden: Er kann sich ‚sein’ MES individuell nach seinen Bedürfnissen zusammenstellen und nutzt und bezahlt nur die Lösungen, die er auch wirklich benötigt. „Plattformen sind die Zukunft der Fertigungs-IT. Unternehmen, die sich dem gegenüber verschließen, haben es auf lange Sicht schwer, sich auf dem internationalen Markt zu behaupten. Partnerschaften, Offenheit und Interoperabilität sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft am Markt“, ist Strebel sicher.

Thorsten Strebel von MPDV

„Plattformen sind die Zukunft der Fertigungs-IT. Unternehmen, die sich dem gegenüber verschließen, haben es auf lange Sicht schwer, sich auf dem internationalen Markt zu behaupten", sagt Thorsten Strebel von MPDV. - Bild: MPDV

KMU sind noch immer skeptisch

Allgemeingültige Standards und modulare, flexible MES, die sich einfacher als bisher auf die jeweiligen Anforderungen zuschneiden lassen, kämen auch kleinen und mittleren Unternehmen entgegen. „Wenn es um die Einführung eines MES geht, sind KMU noch immer eher skeptisch und zurückhaltend. Sei es wegen begrenzter Ressourcen in der eigenen IT-Abteilung, weil sie große Investitionen fürchten oder den Nutzen für sich nicht sehen“, ist die Erfahrung von Antonia Namneck vom Institut für Integrierte Produktion Hannover (IPH). Dabei lohnt sich auch für viele KMU der Einsatz eines MES – etwa wenn die Durchlaufzeit in der Produktion kurz und die Produktvielfalt groß ist.

„Wer ein MES einführen möchte, sollte sich auf jeden Fall die Zeit nehmen, ein detailliertes Lastenheft zu schreiben und eine gründliche Auswahl durchzuführen“, empfiehlt sie. Namneck berät Unternehmen bei der Auswahl und Einführung von Manufacturing Execution und ERP-Systemen und arbeitet im Projekt ‚MES-ready’ an einen Software-Check, mit dem insbesondere KMU feststellen können, ob sie die nötigen Voraussetzungen für die erfolgreiche Einführung eines MES erfüllen, wo noch Handlungsbedarf besteht und welche Software für sie in Frage kommt.

„Nicht jedes Unternehmen muss zwingend ein MES anschaffen“, stellt Namneck klar. Oft kann es schon ausreichen, die Möglichkeiten eines vorhandenen ERP besser auszuschöpfen. „Aber jedes Unternehmen profitiert grundsätzlich davon, sich mit dieser Frage zu beschäftigen und bestehende Prozesse von Zeit zu Zeit zu hinterfragen“, ist sie überzeugt.

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