BMW auf der IAA 2019

Im Blitzlichtgewitter: BMW-Präsentation auf der IAA 2019. - (Bild: IAA)

Zur Eröffnung der Automesse IAA in Frankfurt haben sich die Betriebsratschefs von BMW, Daimler und Volkswagen gegen eine Dämonisierung der Autoindustrie ausgesprochen. "In der öffentlichen Diskussion bekommt man im Moment den Eindruck, das Auto sei nichts als ein einziges Risiko. In der Gefahrenskala liegt es irgendwo zwischen Ebola und nordkoreanischen Raketen", sagte der oberste VW-Arbeitnehmervertreter Bernd Osterloh dem "Handelsblatt". Auch die Betriebsratsvorsitzenden von Daimler und BMW, Michael Brecht und Manfred Schoch, wandten sich gegen die zunehmende Kritik an Autos und speziell an SUVs.

Gleichwohl gilt: Die Branche steht am Scheideweg. Die Party der nicht endenwollenden Rekordmeldungen über gestiegene Verkaufszahlen scheint vorbei. Wie wird es mit der Automobilindustrie weitergehen? Bleibt Sie die dominierende Branche in Deutschland?

Wir fragten nach bei einem der es wissen muss: Rüdiger Tibbe. Er ist Experte für Transformations- und Turn­around-Management. Durch seine Zeit in der Autoindustrie hatte er im Laufe der Jahre Verantwortung für verschiedene Geschäftsbereiche und Projekte übernommen; sowohl in börsennotierten Konzernen als auch in mittelständischen Familienunternehmen.1995 ging er den Schritt vom angestellten Manager zum Start-up-Unternehmer. Heute ist er Senior Partner & Managing Director der Excelliance Industry Taskforce und springt als Geschäftsführer ad interim bei Unternehmen ein, die sich strategisch neu ausrichten oder saniert werden müssen.

Herr Tibbe, die Automobilindustrie feierte jahrelang neue Umsatz- und Gewinnrekorde. Ist diese große „Party“ zu Ende? Können Sie einen Ausblick auf 2020 geben?

Der Automobilmarkt ist in den letzten ca. 10 Jahren global um rund 50 Prozent gewachsen, auf 84 Millionen Pkw und SUV! Das ist eine tolle Erfolgsstory! Von daher sorgen Meldungen über Gewinnwarnungen, Kurzarbeit, Beschäftigungsabbau und Insolvenzen für große Verunsicherung. Betrachtet man die Vergangenheit, so gab es immer wieder Krisen und Dellen, meist ausgelöst durch  ein Potpourri politischer, ökonomischer und hausgemachter Einflussfaktoren. Heute kommt erschwerend der bevorstehende Technologiewandel hinzu.

In welche Richtung sich die Automobilindustrie technologisch auch bewegt, es wird hierdurch zu signifikanten Veränderungen kommen. Die konjunkturelle Abkühlung und die gleichzeitigen strukturellen Herausforderungen potenzieren die Risiken und verstärken den Handlungsdruck. Deshalb handelt es sich um eine äußerst ernst zu nehmende Situation, auch weil ausländische Märkte ebenso betroffen sind, insbesondere China.

Nachdem die Automobilproduktion in Deutschland bereits im Jahr 2018 um zehn Prozent gesunken ist, wird sie in diesem Jahr voraussichtlich um weitere fünf Prozent zurückgehen. 2020/21 werden wir hoffentlich die Talsohle durchschritten haben und uns wieder im Aufwärtstrend befinden.

Bis dahin schlägt die Situation auf Erlöse und Kosten von OEMs und Tiers durch, dies betrifft dann auch die Beschäftigten. Langfristig gesehen ist Mobilität ein globaler Wachstumsmarkt. Unter Berücksichtigung der Entwicklung zusätzlicher Absatzmärkte in Asien und Lateinamerika dürfte bis 2030 wohl die Schallmauer von 100 Millionen Fahrzeugen jährlich durchbrochen werden.

"Viele vergessen, dass wir schon einmal eine derartige Transformation erlebt haben." - Rüdiger Tibbe über den Wandel in der Automobilindustrie

Interessant wird zu beobachten sein, aus welchen alten und neuen Playern sich der Markt nach der Transformation zusammensetzen wird. Viele vergessen, dass wir schon einmal eine derartige Transformation erlebt haben: In New York City gelang von 1900 bis 1913 der vollständige Umstieg von Pferdekutschen auf Automobile.

Keiner der damaligen Lieferanten von Pferdekutschen hat die Transformation zum Automobilhersteller vollzogen. Von 2019 bis 2032 wäre dieselbe Spanne.

Wir alle wissen, dass die Technologie reif ist und sowohl amerikanische als  auch chinesische Konzerne mit voller Kraft und großen Erfolgen an den Zukunftstechnologien arbeiten. Ich hoffe sehr, dass die europäische Politik schnell die Rahmenbedingungen schafft, die deutschen Industrieunternehmen ihre alte (Technologie-)Vorreiterrolle zurückgewinnen und unsere Wirtschaft wieder eine Vertrauensbasis schafft. Ansonsten geht es uns hier wie den Herstellern der Pferdekutschen in NYC oder: Wer erinnert sich nicht an die Nokia-Story? Im November 2007 fragte die „Forbes“: “Nokia. One Billion Customers – Can anyone catch the cell phone king?” Der Rest ist Geschichte.

Automotive-Experte: Rüdiger Tibbe, Senior Partner & Managing Directorder Excelliance Industry Taskforce.
Automotive-Experte: Rüdiger Tibbe, Senior Partner & Managing Directorder Excelliance Industry Taskforce. - (Bild: oehlmann-photography.de)

E-Mobility und autonomes Fahren – die Automobilindustrie scheint nur noch über diese beiden (Zukunfts-)Themen zu sprechen. Verpassen es die Unternehmen, sich um die Gegenwart zu kümmern?

Die Reputation der deutschen Automobilindustrie hat in den letzten Jahren starken Schaden genommen. Dies hat Gegner auf den Plan gerufen, die jetzt mächtig Druck machen. Mit den genannten Themen E-Mobility und autonomes Fahren soll von den aktuellen Themen, wie Diesel, Klimawandel, CO2-Flottenbilanz abgelenkt und der Blick auf die Zukunft gerichtet werden.

Im Prinzip ist das ja auch richtig. Doch durch in der Vergangenheit verloren gegangenes Vertrauen stoßen die Diskussion um Klimawandel und bessere Luft in den Großstädten auf guten Nährboden und setzen der Branche gehörig zu. Die Automobilindustrie polarisiert und wird von Aktivisten in einer bisher völlig unbekannten Dimension angegriffen. Im Grunde ist auch das richtig, weil die offenen Themen sachlich aufgearbeitet werden müssen. Und wenn das öffentlich geschieht, umso besser.

Deshalb auch mein Kompliment an Herrn Dr. Diess [Volkswagen-Chef; Anmerkung der Redaktion], der sich einer Diskussion mit der Aktivistin Velo stellte. Meiner persönlichen Meinung nach müssen – in Zusammenarbeit aller Stakeholder aus Politik, Gewerkschaften, Aktivisten, OEMs und Tiers – parallel die aktuellen Themen offensiv abgearbeitet und Zukunftsthemen mit Nachdruck angestoßen werden.

Gleichzeitig gilt es, den technologischen Rückstand, insbesondere bei alternativen Antriebsarten, schnell aufzuholen. So wird das hohe Misstrauen gegenüber der Automobilindustrie reduziert und sukzessive wieder Vertrauen in sie aufgebaut. Doch dazu sehe ich bei den betroffenen Parteien weder die Voraussetzungen noch den Willen hierzu. Leider.

VW-Chef Herbert Diess auf der IAA
Konzernlenker: VW-Chef Herbert Diess. - (Bild: Volkswagen)

Insbesondere die Zuliefererindustrie scheint ob der Elektromobilität verunsichert. Was müssen Zulieferer tun, um sich fit für die Zukunft zu machen – und das bei den geringen Margen, die sie derzeit erzielen? Nutzt die Automobilindustrie schon die Chancen der Digitalisierung zur Genüge?

Ein technologischer Wandel vom Verbrennungsmotor zu alternativen Antriebskonzepten ist unausweichlich. Das verändert die Wertschöpfungsstruktur in der Automobilbranche und bedingt hohe Vorleistungen in Forschung und Entwicklung, mit offenem Ausgang. Von dieser Situation sind Zulieferer, insbesondere für Komponenten des Antriebsstrangs, ebenso stark betroffen.

Wenn sich Zulieferer jedoch für die Defensivrolle entscheiden nach dem Motto „Abwarten, was passiert“, schränken sie ihren Spielraum ein und reagieren nur noch anstatt proaktiv zu handeln. Zulieferer müssen ihre neue strategische Rolle in einer neuen Welt finden. Das ist für die Unternehmer und Manager Chance und Risiko zugleich. Doch Unentschlossenheit und Zögern waren im  Vergleich zur Politik im Geschäftsleben schon immer schlechte Wegbegleiter.

Die Chancen der Digitalisierung werden weit zu wenig genutzt. Hier muss sich allerdings die Politik mehr bewegen und entsprechende Infrastrukturen schaffen anstatt über SUV-Verbote und Mietpreisbremsen zu diskutieren. Sie reklamiert zwar für sich, diesbezüglich auf der Höhe zu sein, doch leider nur im Vergleich mit Entwicklungsländern, nicht mit anderen Industriestaaten.

Hier besteht akuter Handlungsbedarf. Autonomes Fahren gemäß Level 5 ist keine Vision mehr. Die Technik hierfür ist weitestgehend vorhanden. Es müssen damit nun Erfahrungen gemacht werden, also Millionen von Kilometern gefahren werden, damit die Software lernen und Fehler ausgemerzt werden können. Hierzu mangelt es vornehmlich an der Infrastruktur, der Klärung regulatorischer und ethischer Fragen, der Gesetzgebung sowie der Interaktion aller Beteiligten. Da sind uns beispielsweise China, Japan und die USA um einiges voraus. Vollautomatisches Einparken in Parkhäusern ist heute schon möglich und könnte der erste Schritt sein.

"Autonomes Fahren gemäß Level 5 ist keine Vision mehr." - Rüdiger Tibbe über die Mobilität der Zukunft

Wie können die deutschen Automobilhersteller ihre scheinbar marktdominierende Position halten?

Die deutsche Automobilindustrie hat sich in der Vergangenheit den Markt für anspruchsvolle und hochwertige Fahrzeuge, Aggregate und Komponenten eine herausragende Marktposition erschlossen. Theoretisch bietet das die große Chance, die erarbeitete Technologieführerschaft auch in Zukunftstechnologien zu transferieren. Doch gerade das Beispiel neuer Antriebstechnologien zeigt, wie schnell innovative Firmen in diesem Bereich eine starke Marktposition aufbauen können. Im Vergleich zu den etablierten OEMs gibt es hier keine „Altlasten“.

Deshalb ist der technologische Vorsprung der deutschen Hersteller ein theoretischer Vorteil, doch in der neuen Welt werden die hochspezialisierten Experten nicht mehr benötigt. Allenfalls können wir unsere Kompetenz bei Fahrwerk- und Assistenzsystemen noch als Wettbewerbsvorteil einsetzen. Doch gerade beim autonomen Fahren sind uns andere heute voraus.

Ich komme zurück auf mein eingangs genanntes Beispiel mit der Postkutsche: Von der Postkutsche zum Auto stieg die Komplexität, vom Verbrennungsmotor zum Elektrofahrzeug nimmt sie deutlich ab. Wie wir wissen, kommt das Know-how für Batterietechnologien nicht aus Deutschland. Und ich frage mich aus verschiedenen Gründen hierüber hinaus, ob die „Einbahnstrategie Elektromobilität“ langfristig aufgehen wird? Mein Fazit: Die deutsche Automobilindustrie hat eine gute Ausgangsbasis, doch die Geschichte hat an den Beispielen Pharma, Fotografie und Unterhaltung auch gezeigt, dass Industrieführungsrollen durch veränderte Marktsituationen schnell verspielt sind.

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VW kooperiert mit Ford unter anderem beim autonomen Fahren, BMW und Daimler arbeiten beim Thema Carsharing zusammen – wie werden solche Kooperationen die Automobilindustrie verändern?

Kooperationen in der Automobilindustrie sind ja nichts Neues, insbesondere wenn es – wie teilweise in der Vergangenheit – nicht um Machtzuwachs, sondern um die komplementäre Ergänzung von Kompetenzen geht. Das ist bei beiden Ihrerseits angesprochenen Konstellationen der Fall.

Die Kooperation Ford/VW war für mich eine Überraschung und ein extrem cleverer Schachzug. Ich bin überzeugt, dass aktuell an weiteren Kooperationen gearbeitet wird. Denn die Chancen liegen auf der Hand, da kann 1+1 auch mal 3 ergeben. Wichtig dabei wird es sein, aus der Vergangenheit zu lernen, Rollen und Verantwortlichkeiten klar abzustecken und eindeutige Ziele zu kommunizieren.

Dann können strategische Allianzen eine Erfolgsstory werden. Anderenfalls würde eine potenzielle Auflösung einer Kooperation viel Zeit und Energie kosten, was sich die Unternehmen gerade heute überhaupt nicht leisten können.

Scheinbar still und heimlich entwickeln sich die chinesischen Automobilhersteller zu veritablen Konkurrenten deutscher Premiumhersteller. Wann wird der erste chinesische Autobauer zu einem echten Herausforderer deutscher Premium-Autobauer auch hierzulande?

China gewinnt als Produktionsstandort weiter an Bedeutung, ist aktuell allerdings mit einem Abschwung des heimischen Marktes konfrontiert. Das soll unter anderem auch dazu führen, dass schon ab 2020 einige Elektro-Modelle in Europa präsentiert werden. Hinzu kommt, dass der europäische Markt in China hoch angesehen ist.

Erfolgreiche Verkäufe in Europa würden den Absatz auf dem heimischen Markt direkt befeuern. Als strategischer Wettbewerbsvorteil kommt hinzu, dass die chinesischen Hersteller sich in Bezug auf Qualität und Preis durchaus mit den etablierten deutschen Marken messen können, da sie einen Technologievorsprung bei der Elektromobilität haben.

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