Grimme, Lean

In den modernen Produktionshallen bei Grimme gibt es überall analoge Kennzahlentafeln, die manuell gepflegt werden. Hier nutzt man die sogenannte ‚Power of the Pen‘. - (Bild: Grimme)

Digitalisierung und Automatisierung sorgen für strukturierte Abläufe in der Produktion. „Der Auftrag steuert sich selbst durch die Fabrik“, heißt die Devise. In der ‚Smart Factory‘ läuft alles automatisch dank IT-Steuerung. Kann man nun auf kontinuierliche Verbesserung und Lean Management verzichten? Produktion geht der Frage nach, ob Lean Management im Umfeld von Industrie 4.0 noch eine Rolle spielt.

Mit dem Toyota-Produktionssystem (TPS) hielt Lean Management Einzug in europäische Fabriken. Anfangs ging es um einfache Tools wie Kanban oder Poka Yoke und punktuelle Verbesserungen am Arbeitsplatz – also Dinge, die bei den japanischen Vorbildern in den Fabriken auf Anhieb sichtbar waren.

Dann rückte das Thema ‚stabile Prozesse‘ in den Fokus. Schnell wurde klar, dass ‚Lean‘ ohne die Mitarbeiter nicht geht und das Motto lautete „Der Mensch im Mittelpunkt“. Dies hatte zur Folge, dass im Lean-Prozess auch dem Management eine spezielle Rolle zukam. Der Tenor lautete nun: Die Führungskräfte müssen einen fruchtbaren Boden bereiten, damit Lean gedeihen kann.

Spätestens seit Mike Rother vor zirka 10 Jahren die Toyota-KATA vorstellte, ist man sich einig, dass der Schlüssel zum Erfolg in der Entwicklung der Mitarbeiter zu Problemlösern liegt. Stand der Dinge ist, dass nun verstärkt Führungskräfte als Coach agieren und anhand der Coachingkata den Mitarbeitern die Verbesserungskata beibringen – im Idealfall während gleichzeitig Prozesse verbessert werden.

Zauberwort Industrie 4.0

Parallel zu dieser Entwicklung von ‚Lean‘ eroberte die IT die Produktionshallen. Industrie 4.0 heißt das Zauberwort. Mobile Endgeräte wie Tablets werden genutzt, um Produktionsabläufe zu steuern. In der ‚Smart Factory‘ bewegen sich Teile wie von Geisterhand durch die Fabrik und sind zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Lagerverwaltung, Kanban, Termine etc. werden vollautomatisch gesteuert. Der Mitarbeiter in der Fabrik wird zum ‚Dirigenten der Wertschöpfungskette‘ und überwacht nur noch, dass alles rund läuft. Und schon taucht die Frage auf: Braucht Industrie 4.0 noch Lean Management?

»Wenn Sie schlechte Prozesse haben und diese digitalisieren, dann haben Sie teure schlechte Prozesse.«

Frank Robin, Grimme Landmaschinenfabrik GmbH & Co. KG

„Das Toyota-Produktionssystem ist ein Managementsystem, welches durch moderne IT allenfalls unterstützt werden kann – jedoch nicht ersetzt werden kann“, sagt Frank Robin, Gesamtverantwortlicher Qualität, Lean Management und Instandhaltung bei der Grimme Landmaschinenfabrik.

Das Unternehmen ist Weltmarktführer im Bereich der Kartoffeltechnik und setzt auf Hightech bei seinen Produkten: Fast alle Maschinen sind mit moderner Elektronik ausgerüstet und einige aktuelle Modelle funken bereits ihre Zustands- und Ertragsdaten in die Grimme-eigene Cloud. Bei der Fertigung und Montage seiner Hightech-Landmaschinen setzt das Unternehmen nicht nur auf Technologie, sondern in hohem Maße auf die Fähigkeiten der Mitarbeiter.

Industrie 4.0 nur ein Kunstwort

Die Bezeichnung ‚Industrie 4.0‘ hält Frank Robin für ein Kunstwort, das in aller Munde ist, seit dafür von Seiten des Bundeswirtschaftsministeriums Fördergelder zur Verfügung gestellt werden und viele auf diesen Zug aufspringen. „Wir vernetzen und automatisieren unsere Prozesse seit vielen Jahren, dort, wo es sinnvoll ist“, sagt er.

Und er sei keinesfalls technikfeindlich – ganz im Gegenteil, seit 10 Jahren arbeitet er beispielsweise komplett papierlos. Dennoch hält er die Aussage, dass eine Produktion durch möglichst viel Digitalisierung immer besser werde, für falsch. „Wenn Sie schlechte Prozesse haben und diese digitalisieren, dann haben Sie teure schlechte Prozesse“, betont er. Letztendlich sei Digitalisierung ein weiteres Werkzeug, um Probleme zu lösen.

Probleme lösen - mit Mitarbeitern

Als Beispiel führt er an, dass bei Grimme gerade ein Pilotprojekt laufe, um mittels Augmented Reality fehlerhafte Bauteile zu erkennen. „Wenn es funktioniert, dann bietet das einen erheblichen Vorteil, den wir auch nutzen“, sagt er.

„Neue Techniken können hilfreich sein. Dennoch setzen wir darauf, gemeinsam mit unseren Mitarbeitern Probleme zu lösen“. So wird seit vielen Jahren ein System eingesetzt, mit dem möglichst alle auftretenden Fehler im Werk und im Feldeinsatz erfasst, dokumentiert und geclustert werden, um diese zu analysieren und in Zukunft zu vermeiden. Hier bieten Smartphones und Tablets die Möglichkeit, alle Techniker, auch auf Feldern in entlegensten Gebieten, mit einzubeziehen.

„Neue Technologien sind hilfreich, dennoch lassen sich Managementaufgaben nicht mit Technik lösen“, so Frank Robin. „Gerade junge Menschen sind für digitales Shop­floor Management empfänglich, bei dem sie mit Vorgesetzten beispielsweise per WhatsApp kommunizieren. Doch ein zentraler Ansatz bei Toyota lautet „go to gemba“ (gehe an den Ort des Geschehens).

Das ist für Führungskräfte nicht immer bequem. Man muss das Problem in Gänze verstehen, dazu mit den Kollegen vor Ort sprechen, auch mal Konflikten entgegentreten. Es ist verführerisch, das digital vom Schreibtisch aus zu machen, aber es entbindet einen nicht von der Führungsverantwortung.“

»Software kann Prozesse auf ein höheres Niveau bringen. Aber die operativen Probleme bleiben.«

Marco Kamberg, Geschäftsführer bei Lean Partners Project Gesellschaft mbH & Co. KG

Operational Excellence kann man nicht kaufen

In den modernen Produktionshallen bei Grimme gibt es in allen Bereichen analoge Kennzahlentafeln, die manuell gepflegt werden. Hier setzt man auf die ‚Power of the Pen‘. Das gilt auch für die Führungsebene, die sich täglich im eigens eingerichteten Management Information Center an den Kennzahlentafeln trifft, um Ziele zu kommunizieren und Probleme zu lösen.

Frank Robin ist überzeugt: „Operational Excellence kann man nicht kaufen, das ist eine Managementaufgabe. Kein IT-System wird auf absehbare Zeit in der Lage sein, strukturierte Problemlösung durchzuführen. Um ein Problem zu lösen, braucht es Menschen, die in strukturierter Problemlösung ausgebildet sind. Führungskräfte können das nicht an eine moderne Industrie 4.0-Anlage delegieren. Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Mitarbeiter befähigt werden.“

Sein Fazit: „Industrie 4.0 ist eine gute Ergänzung. Die neuen Techniken – falls man sie als neu bezeichnen möchte – können die Lösung für ein Problem sein, wenn konventionelle Methoden wie zum Beispiel Kanban oder Poka Yoke bereits ausgereizt sind. Doch Hightech ersetzt nicht den gesunden Menschenverstand.“

»Die große Macht der Digitalisierung liegt nach wie vor in der Schnittstelle zum Kunden.«

Dr. Constantin May, Hochschule Ansbach

Digitalisierung heilt keine operativen Probleme

Marco Kamberg, Geschäftsführer bei Lean Partners Project Gesellschaft mbH & Co. KG und Autor des Buches ‚Verbesserung erfolgreich führen‘, beobachtet, dass in vielen Unternehmen Themen wie Digitalisierung, Frühanzeige, Automatisierung, Einsatz von mobilen Endgeräten etc. immer mehr an Bedeutung gewinnen.

Er sieht darin eine neue Herangehensweise, die auch dem Lean Management zugute kommt: „Software kann Prozesse auf ein höheres Niveau bringen. Aber die operativen Probleme bleiben, die nehmen durch die Digitalisierung nicht ab.“

„Meistens haben Unternehmen keinen Mangel an Daten, sondern einen Mangel an zielgerichteter Verbesserung auf der Grundlage vorhandener Daten. Mehr Daten bedeutet nicht automatisch mehr Informationen“, sagt Prof. Dr. Constantin May von der Hochschule Ansbach. „Jedes Unternehmen muss erst seine Prozesse möglichst verschwendungsfrei gestalten, um daraufhin die nächste Entwicklungsstufe mit Industrie 4.0 zu erreichen.

Die große Macht der Digitalisierung liegt nach wie vor in der Schnittstelle zum Kunden. Jedes Unternehmen sollte sich Gedanken machen, wie sich die Digitalisierung für veränderte oder neue Geschäftsmodelle nutzen lässt“, betont er.

Die Hochschule Ansbach, die auch den berufsbegleitenden Bachelor-Studiengang ‚Wertschöpfungsmanagement‘ anbietet, forscht am Campus Herrieden darüber, wie Unternehmen Digitalisierung einfach und kostengünstig nutzen können. Dafür wurde eigens das ‚Lean 4.0 Lab‘ eingerichtet.

„In Zeiten kürzerer Produktlebenszyklen und kleinerer Stückzahlen ist mehr denn je kostengünstige und flexible Einfachautomatisierung erforderlich“, sagt Prof. May. „Ich stelle einen Trend, insbesondere bei den großen Autoherstellern, fest, der wegführt von Vollautomatisierung und IT hin zu flexibler und kostengünstiger Einfachautomatisierung (Karakuri). Hohe Investitionen in vollautomatisierte Fabriken werden sich nicht immer rechnen.“

Demnach sieht es so aus, dass Lean Management nicht so schnell überflüssig wird – im Gegenteil: Gerade im Zeitalter der IT kommt es auf das Denk- und Problemlösungsvermögen des Menschen an, damit Hightech wirklich zielorientiert eingesetzt wird.

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