Ticketmanager

Tickets ziehen statt ‚herumschrauben‘: Osram macht sich auf den Weg in die Arbeitswelt von morgen. Abstraktes Denken und der Umgang mit modernen Programmiermethoden sind die neuen Skills. - Bild Bosch Software Innovations

Während der Produktionstechniker Dr. Frank Sroka in Berlin Spandau darüber nachdachte, wie er Autolampen noch effizienter fertigen könnte, saß der IT-ler Philipp Gall in Berlin Schöneberg und überlegte, mit welchem Partner aus der Industrie er seine Software für die Digitalisierung von Prozessen in Banken auf die Produktion übertragen könnte.

Der eine steuerte als Abteilungsleiter die Herstellung von Xenon-Lampen im Stammwerk von Osram. Der andere betreute Unternehmen beim Einsatz von Software für die Optimierung von Geschäftsregeln und Prozessen im Auftrag von Bosch Software Innovations.

Lampenherstellung wird Hightech-Aufgabe

Sroka hatte Lean-Prozesse in seiner Fertigung bereits vor Jahren installiert und damit auch immer die gewünschten Verbesserungen erzielt. Der Fertigungsleiter sah das Ende der Fahnenstange erreicht: „Mehr Automatisierung, mehr KVP war nicht mehr möglich.“ Man sei mittlerweile an einen Punkt gekommen, wo winzige Verbesserungen einen unverhältnismäßig hohen Invest erfordern würden. Er stellte sich daher die Frage, kann uns die Digitalisierung voranbringen?

Gall hingegen überlegte, wie er seine Erfahrung im Produktions-Umfeld nutzen könnte. Zwei Männer auf der Suche. Für Sroka drängte die Zeit, einen wirklich großen Schritt zu wagen.

Die Anforderungen an einen Produktions-Betrieb haben sich radikal verändert, gerade in Srokas Industrie-Bereich: „Es geht nicht mehr um die Bearbeitung von Plastik, Metall und Glas, um mehr oder weniger Hitze. Lampenherstellung ist zu einer Hightech-Aufgabe geworden“, betont er. Heute werden Halbleiterbausteine verwendet, entsprechend sensibel und anspruchsvoll sind die Prozesse geworden.

Doch nich nur die Anforderungen an die Technologie, nein, auch die an den Hersteller von Kundenseite haben sich verändert: „Die Mengen schwanken. Und wir müssen schneller neue Produkte in die Fertigung bringen“, sagt Sroka. Der Fertigungs-Verantwortliche spürt, dass ein Wandel ansteht, der das Selbstverständnis seiner Mitarbeiter auf den Kopf stellen wird. „Wir hatten ein Ziel, wie entsprechende IT-Tools auszusehen hätten, und suchten hierfür nach dem richtigen Kooperationspartner“, sagt Sroka.

80 vernetzte Maschinen

Philipp Gall
Philipp Gall, Senior Sales Manager Industry 4.0, Bosch Software Innovations. - (Bild: Bosch Software Innovations)

2013 fand er in dem IT-Unternehmen, das vor rund zehn Jahren aus zwei von Bosch akquirierten Start-up-Unternehmen entstanden war, einen geeigneten Partner: Die ITler und der traditionsreiche Lichtkonzern mit über 100-jährigen Geschichte taten sich zusammen. Gall und Sroka beschlossen allerdings nicht in eine ‚gewöhnliche‘ Kunden-Lieferanten-Beziehung zu treten, sondern in Form einer agilen Entwicklungspartnerschaft auf Augenhöhe zusammen zu arbeiten.

Gemeinsam übertrugen sie die Funktionsweise der Regelsoftware auf die Rahmenbedingungen der Lampenherstellung und schufen die Ticketmanager-App. Dazu führten sie SAP-Daten und Maschinendaten von über 80 Maschinen verschiedenen Alters zusammen, schafften Hierarchien in der Produktion ab und lösten Arbeitsbereiche auf. Arbeitsschritte, die vormals manuell durchgeführt wurden, digitalisieren sie.

Dr. Frank Sroka
Dr. Frank Sroka, verantwortlich für Industrie 4.0 bei Osram. - (Bild: Bosch Software Innovations)

Die technologische Basis des Ganzen bildet der Production Performance Manager von Bosch. Aus ihm ent­stand die Ticketmanager-App, mit dem die Maschinenbediener, Wartungs- und Servicemitarbeiter der Xenarc-Fertigung heute all ihre Aufgaben mobil abwickeln. Zu dieser Anwendung gehören zum Beispiel Wartungsarbeiten, Materialnachlieferungen oder die Bearbeitung von Störungsmeldungen.

Wie die App welche Aufgabe priorisiert und wem sie welche Aufgabe zuweist, erschließt sich aus Regeln, die die Mitarbeiter selbst definieren, digitalisieren und in die App hinein modellieren, ein Prozess, der niemals abgeschlossen sein wird, sondern „das System immer weiter schärft“, wie Gall es nennt.

Smartphone statt Schraubenzieher

Inzwischen arbeiten die Fertigungsmitarbeiter der Xenarc-Fertigung nun schon seit über einem Jahr mit der Ticketmanager-App. Zeit, ein Resümee zu ziehen. „Die Zusammenarbeit macht richtig Spaß“, meint Gall spontan. Sroka berichtet, dass geplant sei, dieTicketmanager-App auf weitere Werke auszurollen. Und wie sieht es bei den Fertigungsmitarbeitern selbst aus?

Marc Heyber, einer der betroffenen Facharbeiter aus der Produktion, der nun mit einem Smartphone hantiert, statt an ‚seiner‘ Maschine herumzuschrauben, sieht die digitale Transformation pragmatisch. Früher habe jeder Einrichter seinen eigenen Bereich gehabt, musste diverse Checklisten durchgehen, jede Messung manuell durchführen und dafür sorgen, dass seine Maschine ‚am Laufen blieb‘. Heute gibt es keine festen Bereiche mehr, jeder kann alles, die anliegenden Aufgaben poppen für alle sichtbar auf dem Smartphone auf und können von ihm oder einem Kollegen einfach übernommen werden.

Hierachien lösen sich auf

Das System errechnet aus den vorliegenden Daten, was wann erledigt werden muss und sendet im Zweifelsfall eine Meldung an den Schichtplaner. Gleichzeitig überlegen die Kollegen eigenständig, in welcher Situation welches Vorgehen am zielführendsten ist und leiten daraus eine Regel ab, die in die App modelliert wird.

Die Freiheit sei größer, meint der gelernte Mechatroniker, das habe manch einem der Kollegen sehr gut gefallen, anderen wiederum fehle das ‚Herumschrauben‘. „Früher war die Arbeit praktischer, heute ist sie abstrakter“, meint der junge Mann. Werten will er das nicht, aber „ein bisschen Sehnsucht hat man immer“, meint er dann doch.

Quetsch-Füll-Maschine
Quetsch-Füll-Maschine: Mehr als 80 verschiedene Maschinen unterschiedlichen Alters hat Bosch für den Lichterhersteller Osram in Berlin vernetzt. - (Bild: Bosch Software Innovations)

Der Osram-Mann Denis Hopp war für die technische Umsetzung zuständig. Bei einem Gang durch die Produktion erklärt der Projektleiter, was in der 5 000 qm großen Halle passiert. Am Anfang des Prozesses stehe die Glasanlieferung, nach einigen Sortiervorgängen würden unter Reinraumbedingungen die Elektroden in die Glaskolben gesetzt, erläutert der Projektleiter. Der wichtigste Schritt des Fertigungsprozesses finde in den Quetsch-Füll-Maschinen statt.

Mit ihren silbrigen Röhren und Schläuchen, den reifbeschlagenen Fenstern und rot leuchtenden Innenräumen wirken sie exotisch und majestätisch zugleich. „Unsere Maschinen sind alle Marke Eigenbau“, bemerkt Hopp im Vorbeigehen stolz. In diesen Maschinen wird das Gas in die Kolben gefüllt und die Brenner unter hohen Temperaturen zusammen gequetscht. Anschließend muss die Lampe in kürzester Zeit herunter gekühlt werden – daher Reif und Eis an der Scheibe. Der Rundgang endet an einem schmalen Glaskasten.

Regeln selbst modellieren

Dort sitzen Heyber und sein Kollege über Laptops gebeugt. Sie modellieren gerade neue Regeln. Eine Tätigkeit, die sie bereits nach fünf Tagen Schulung ausüben konnten. Zu ihnen kommen die Kollegen mit ihren Wünschen für die neue App. Daneben, aufgereiht in Ladestationen, stehen die Mobiltelefone für sie bereit.

Zu Schichtbeginn holt sich jeder sein Smartphone und ist damit mobil unterwegs. Anschließend verteilen sich die Fertigungsmitarbeiter in der Halle und arbeiten ein Ticket nach dem anderen ab. „Früher hat sich jeder Bediener zu Schichtbeginn neben seine Maschine gesetzt und gewartet, bis es ’ne Störung gab“, berichtet Heyber.

Die Maschinenbindung gibt es nicht mehr und jeder wird entsprechend seiner ‚Rolle‘ optimal eingesetzt. Die Mitarbeiter arbeiten nun projektbezogen. Die Maschinenverfügbarkeit ist seit Einführung des Ticketmanagers gestiegen, die Rückverfolgbarkeit liegt bei 100 % und auf Störungen auf Produkt- oder Auftragsänderungen kann viel schneller reagiert werden.

Hopp, Sroka und Gall sind sich einig, dass ihnen mit der Neuorganisation ein großer Sprung gelungen ist. Doch selbstverständlich war die digitale Transformation nicht: „Wir kennen Beispiele, die nicht so erfolgreich verliefen“, sagt der Softwareexperte Gall, denn es handele sich um einen disruptiven Prozess, bei dem nicht alles planbar sei. Wichtig sei, vor allem die Belegschaft rechtzeitig mitzunehmen – eine große Aufgabe. Deutlich erinnert sich Sroka an seine anfänglichen Bedenken: „Wäre die Belegschaft zu diesem Schritt nicht bereit gewesen, wären wir womöglich in einer Sackgasse gelandet.“

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