Mehrere Werker arbeiten in der Technologiefabrik Scharnhausen von Festo an Produkten in Losgröße 1 – sowohl vollautomatisiert als auch per Handmontage.

In der Technologiefabrik Scharnhausen von Festo können Produkte in Losgröße 1 gefertigt werden – sowohl vollautomatisiert als auch per Handmontage. - (Bild: Festo)

"Das Zauberwort heißt Losgröße 1" – so leitete ein Konferenzanbieter eine Veranstaltung für Maschinen- und Anlagenbauer ein. Je nach Sichtweise hört sich das nach Märchen oder nach Allheilmittel an. Die Einzelfertigung nahe Serienkosten ist keines von beiden: In der Automobilindustrie ist sie bereits ein alter Hut. Im Sonderanlagenbau ist letztlich jedes Bauteil ein universelles Einzelstück. In der Medizintechnik gilt das in weiten Bereichen ebenso.

Dennoch ist Losgröße-1-Fertigung ein ausgewiesenes Trendthema – denn im Zuge des industrietauglichen Reifeprozesses additiver Fertigungsverfahren (3D-Druck, intelligent vernetzte Produktkonfigurationen) gewinnt ‚Los 1‘ auch in klassischen Massenproduktionsbetrieben vermehrt an Bedeutung, weit über das Rapid Prototyping hinaus.

Industrie auf dem Weg zur Smart Factory

IoT-Technologien rücken die Fertigung kleiner Losgrößen in die Wirtschaftlichkeitszone. Außerdem können viele Maschinen- und Anlagenbauer gar nicht anders als sich mit dem Thema zu beschäftigen, neu zu denken und – zu produzieren. Denn die einzelfertigenden OEMs reichen ihre Anforderungen an die Zulieferer weiter (und diese wiederum an die Automatisierer). Mit Zauberei hat das alles nichts zu tun.
Also in die produktionswirtschaftliche Realität: Welche Erfahrungen machen Hersteller mit der individuellen Einzelfertigung? Wie ist der Stand und wie der Fortschritt? Und wo sehen Produzenten die größten Zukunftspotenziale?

Mehr als 1,6 Millionen Varianten bestellbar

Wir beginnen bei einem klassischen Einzelfertiger, der ausschließlich in Losgröße 1 fertigt: Danfoss Drives stellt in Europa und in den USA jeden einzelnen Frequenzumrichter kundenspezifisch her. Thorbjorn U. Hansen, Vice President Global Operations bei Danfoss Drives, erklärt: „Der Prozess ist vollständig automatisiert und gewährleistet, dass ein Kunde seinen Antrieb im Online-Konfigurator exakt für seine Anwendung konfigurieren kann.“

Dabei gibt es sage und schreibe mehr als 1,6 Millionen mögliche Varianten, die vollständig katalogisiert und in das Manufacturing Execution System (MES) integriert sind: „Wir können sofort nach Bestellungseingang mit der Produktion des individuellen Antriebs beginnen.“ Selbst die Handbücher werden ‚on demand‘‚ parallel zum Fertigungsdurchlauf in der gewünschten Sprache gedruckt und „fallen erst kurz bevor sich der Deckel der Verpackung schließt zum spezifisch konfigurierten und gefertigten Antriebsunikat in die Box“, so Hansen.

Thorbjorn U. Hansen, Vice President Global Operations bei Danfoss Drives

„Jeder unserer Antriebe ist bereits ein IoT-Produkt. Schon heute haben wir ein sehr modulares Design und die Anzahl der Varianten wird vermutlich weiter zunehmen.“

Thorbjorn U. Hansen, Vice President Global Operations bei Danfoss Drives

Bei Danfoss Drives steht es ganz außer Frage, die digitalen Möglichkeiten weiter auszubauen und zu nutzen, weil „jeder unserer Antriebe bereits ein IoT-Produkt ist. Schon heute haben wir ein sehr modulares Design und die Anzahl der Varianten wird vermutlich weiter zunehmen.“

Für Hansen bedeutet dies produktionstechnisch ‚nur‘ die etablierten und reibungslos laufenden Prozesse zu skalieren. In der Realität sei dies freilich ein sehr großes ‚Nur‘ – diese Herausforderung, den Prozess permanent so weiterzuentwickeln und anzupassen, dass der Anwender bei der Lösung seiner Aufgaben bestmöglich unterstützt wird. Die Grundlage dafür bilden unter anderem innovative Kunden-Tools zur intelligenten Diagnose, der vorausschauenden Wartung und der Bereitstellung von Diensten in der Cloud.

Anforderungen auf die Fabrik der Zukunft ausgelegt

Am Beispiel Danfoss Drive wird deutlich, dass die Losgröße-1-Fertigung untrennbar mit der steten Anpassung an die sich immer schneller und umfassender ändernden Kundenanforderungen verbunden ist. Für Heiner Lang, Leiter der Business Unit Automation & Electrification Solutions im Elektronikwerk von Bosch Rexroth in Lohr-Wombach bedeutet das: „Wir fertigen elektrische Antriebe und Steuerungen, die in ihrer Funktionalität auf die Anforderungen der Fabrik der Zukunft ausgelegt sind.“

Bosch Rexroth
In seinem Elektronikwerk Lohr-Wombach hat Bosch Rexroth die gesamte Fertigung mit allen neuen und alten Maschinen vernetzt und mit den IT-Systemen verbunden. Gefertigt werden dort zum Beispiele elektrische Antriebe und Steuerungen. - (Bild: Bosch Rexroth)

In Lohr-Wombach steuert Bosch Rexroth derzeit rund 200.000 verschiedenen Bauteilvarianten mit Rüstzeit Null. Für diese hohe Varianz ist die gesamte Fertigung mit allen neuen und alten Maschinen vernetzt und mit den IT-Systemen verbunden. Zur Vorgehensweise: Zu jedem Kundenauftrag wird im ersten Schritt ein virtuelles Abbild der bestellten Komponenten erzeugt. Dieses enthält alle technischen Spezifikationen und wird mit einer individuellen Seriennummer versehen. Sämtliche Bearbeitungsschritte und Prüfungsergebnisse verbauter Unterkomponenten werden in übergeordneten Systemen gespeichert.

Lang ist sicher: „Die variantenreiche Fertigung hoch wirtschaftlich realisieren zu können, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben. Das gilt für uns ebenso wie für nahezu alle anderen Unternehmen.“ Die Serienfertigung werde natürlich auch künftig noch eine Rolle spielen, aber auch dort würden die Produktlebenszyklen immer kürzer.

Der Bosch-Automationsexperte blickt noch weiter in die Zukunft: „In der Fabrik der Zukunft ist alles außer Wänden, Boden und Dach beweglich und vernetzbar. Alle Maschinen und Anlagen sind mobil. Die Werkstücke finden selbstständig den Weg durch die Fabrik.“ Schon bald würden auch die dafür benötigte drahtlose Kommunikation sowie autonome, vernetzte Transportsysteme zur Verfügung stehen.

Größtmögliche Flexibilität bei jeder Losgröße

Auch bei Festo spielen in der Losgröße-1-Fertigung intelligente Automationslösungen eine tragende Rolle. Aber nicht nur: Bei einer großen Zahl an Varianten, wie zum Beispiel bei den kundenindividuell konfigurierbaren Ventilinseln, setzt das Automations- und Steuerungsunternehmen weiterhin auf Handmontage: „Damit erzielen wir größtmögliche Flexibilität bis Losgröße 1“, sagt Dirk Erik Loebermann, Vorstand Operations. Bei manchen Ventilinseln ist gar eine Produktvielfalt von 1040 Varianten möglich, die kundenindividuell innerhalb kürzester Zeit gefertigt werden könnten.

Dr. Dirk Erik Loebermann, Vorstand Operations Festo AG

"Adaptive Konzepte, mit denen man individuell bis zur Losgröße 1 produzieren kann, werden zunehmen."

Dr. Dirk Erik Loebermann, Vorstand Operations Festo AG

 

Loebermann: „Neben der automatisierten Produktion beschäftigen wir uns intensiv mit dem Lean-Gedanken, dass Losgröße-1-Konzepte auch Arbeitsplätze mit hohem manuellen Anteil nach sich ziehen können. Letztendlich müssen diese Prozesse nur wettbewerbsfähig und wirtschaftlich sein – egal ob mit hohem Automatisierungsgrad oder manuell.“

Vermehrt adaptive Konzepte in Unternehmen

In der Technologiefabrik Scharnhausen treibt Festo die Hochautomation weiter voran. Ein Beispiel aus der Zerspanung ist die Leistenfertigung für Ventile, in der bereits heute eine kundenauftragsbezogene Produktion bis zu Losgröße 1 möglich ist.

Wie in der Montage flexible Automatisierung mit Schnelligkeit und Variantenvielfalt verknüpft werden kann, zeigt das Beispiel der modularen Produktionslinien für eine der Ventilfamilien – auf ihnen können mit einer Taktzeit von 13 Sekunden mehrere hundert Ventilvarianten gefertigt werden. Loebermann resümiert: „Die vollautomatische Massenproduktion wird weiter sehr wichtig bleiben. Gleichzeitig wird es vermehrt adaptive Konzepte für die individuelle Losgröße-1-Fertigung geben.“

Bei Festo ist bei der Losgröße-1-Fertigung von MPA-Ventilinseln die Handmontage wirtschaftlicher. Die flexible Fertigung von Ventilen der VUVG-Reihe in kleinen Losgrößen hingegen erfolgt vollautomatisch.
Bei Festo ist bei der Losgröße-1-Fertigung von MPA-Ventilinseln die Handmontage wirtschaftlicher. Die flexible Fertigung von Ventilen der VUVG-Reihe in kleinen Losgrößen hingegen erfolgt vollautomatisch. - (Bild: Festo)

Dass bei diesen Konzepten die Gleichung ‚Erstes Teil gleich Gutteil‘ aufgehen muss, weiß Eberhard Wahl, Leiter Produktmanagement Flexible Blechfertigung beim Maschinenbauer Trumpf: „Das ist die Grundlage für Losgröße 1.“

Bei Trumpf in Ditzingen trägt man dem mit erprobten Maschinenkonzepten und intelligenter Sensorik heute ebenso Rechnung wie mit kurzen Rüstzeiten. Laut Wahl arbeiten die Laserschneidanlagen rüstfrei, bei anderen Technologien laufen Werkzeugwechsel binnen Sekunden ab. In Zeiten sinkender Losgrößen müssten die Geschäftsprozesse ganzheitlich optimiert werden, was neben der reinen Produktionszeit auch für die vor- und nachgelagerten Prozesse sowie für die indirekten Abläufe gelte.

Eberhard Wahl, Leiter Produktmanagement  Flexible Blechfertigung bei der Trumpf GmbH + Co. KG

"In Zeiten sinkender Losgrößen müssen Geschäftsprozesse ganzheitlich optimiert werden."

Eberhard Wahl, Leiter Produktmanagement
Flexible Blechfertigung bei der Trumpf GmbH + Co. KG

In der Praxis kann dies beispielsweise die automatische Programmierung und die Unterstützung bei der Vorbereitung und dem Durchlauf von Aufträgen bedeuten. Ein konkretes Beispiel aus dem Trumpf-Produktionsalltag ist etwa die Teilekennzeichnung: Codes auf den Werkstücken steuern den Prozess, sodass ein Großteil der Begleitpapiere und der damit einhergehende administrative Aufwand entfällt.

Ausblick für die Industrie

Die Digitalisierung bereitet die notwendige technische Infrastruktur vor und bietet ausreichende Rechnerkapazitäten, die es ermöglichen, Einzelstücke in Massenfertigungsmanier herzustellen.

In vielen produzierenden Betrieben ist Losgröße 1 bereits Realität: So sagte etwa ein Fünftel der deutschen Industrieunternehmen in einer Umfrage für den „Deutschen Industrie 4.0 Index 2017“ der Staufen AG, dass sie bereits Losgröße 1 nahe Serienfertigungskosten umsetzten. 28 Prozent möchten innerhalb fünf Jahren diesen Status erreichen. Ohne Hokuspokus.

Überarbeitet von Dietmar Poll

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