Nokian Tyres

Aktuell sind 12 Rocla Transportroboter im russischen Werk von Nokian Tyres im Einsatz und bringen voll automatisch Material von einer Produktionslinie zur anderen. - (Bild: Kopp)

Wirtschaftssanktionen und massivem Fachkräftemangel zum Trotz: Für den finnischen Reifenhersteller Nokian Tyres läuft es in Russland mehr als rund. Die ‚Erfinder des Winterreifens‘, wie sich die Finnen selbst gern bezeichnen, produzieren in Wsewoloschsk nahe Sankt Petersburg 17 Mio Pkw-Reifen im Jahr – rund 70 Prozent davon gehen an den Weltmarkt. Damit ist der Reifenhersteller der größte Konsumgüterexporteur des Landes. Und nicht nur das: Die Reifenfabrik ist die größte Russlands und laut Unternehmensangaben sogar die zweitgrößte in ganz Europa. In Sachen Effizienz sieht sich Nokian Tyres mit dem Werk Wsewoloschsk im Vergleich zum Wettbewerb sogar an der Weltspitze.

„Die Komplexität unserer Produktion ist enorm“, erklärt Andrei Pantioukhov, General Manager bei Nokian Tyres Russia und Vize-Präsident des Gesamtkonzerns. „Wir fertigen in unserem russischen Werk rund 1.800 verschiedene Produkttypen von 130 verschiedenen Reifen – und das je nach Bestellung, nicht für unser Lager. Jeden Tag rollen 50 Laster voll Rohstoffe in die Fabrik rein und 50 Laster voll Reifen heraus.“

Arbeitsmarkt Russland: Fachkraft ist Mangelware

Wie alle anderen Unternehmen, die in Russland produzieren, kämpft auch Nokian Tyres mit dem Problem eines riesigen Fachkräftemangels. „In den Neunzigerjahren nach der Perestroika kam es in Russland aufgrund der wirtschaftlich schwiedrigen Situation zu mehreren geburtenschwachen Jahrgängen. Das wirkt sich jetzt spürbar am Arbeitsmarkt und die Verfügbarkeit von Fachkräften aus. Es sind schlicht keine Leute da“, weiß Nokian-Vize Pantioukhov.

Es wundert dementsprechend nicht, dass der Spezialist für Winterreifen in Wsewoloschsk Automatisierung ganz groß schreibt. „Trotz vergleichsweise günstiger Personalkosten haben wir seit 2004 fast 1 Milliarde Euro in das Werk in Russland investiert und den Automationsgrad deutlich erhöht“, berichtet Pantioukhov. Beim Gang durch die Werkshallen werden die Investitionen gegen den Fachkräftemangel offenkundig: Fahrerlose Transportroboter vom finnischen Hersteller Rocla bringen Chemikalien und Rohkautschuk aus dem Lager in die Gummimischerei und fahren das fertrige Material wie von Geisterhand durch die Werkshalle.

Automation gegen Fachkräftemangel

Ausgestattet ist die Fabrik mit vollautomatischen Maschinen von dem auf Reifenwerke spezialisierten niederländischen Maschinen- und Anlagenbauer VMI. Fanuc-Roboter bestücken die Fertigungsanlagen und befördern Rohlinge auf Rollbänder, auf denen sie zur nächsten Verarbeitungsstufe transportiert werden. Cimcorp-Palettieranlagen sortieren und verteilen die fertigen Produkte direkt vor den Laderampen. Menschlische Arbeitskraft spielt in den Fertigungshallen augenscheinlich nur noch eine untergeordnete Rolle. In der Reifenendkontrolle sei das menschliche Auge jedoch unverzichtbar, betont Pantioukhov. Hier nimmt ein sogenannter ‚Visual Inspector‘ jeden einzelnen fertigen Reifen in die Hand und prüft die Qualität.

Insgesamt arbeiten im Werk Wsewoloschsk rund 1.400 Angestellte, 1.200 davon in der Produktion. Allerdings, so der Manager, hätten 80 Prozent der in der Reifenfertigung beschäftigten Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz im Labor und nicht in der Werkshalle.

Nokian Tyres
Das Nokian Tyres Reifenwerk in Wsewoloschsk im Großraum Sankt Petersburg ist das größte Reifenwerk Russlands und laut den Angaben von Nokian Tyres das zweitgrößte in ganz Europa. - (Bild: Nokian Tyres)

Mit Sozialfaktoren Fachkräfte binden

Die Antwort von Nokian Tyres auf den grassierenden Fachkräftemangel in Russland ist aber nicht allein Automation: Die Finnen haben längst erkannt, dass vor allem soziale Faktoren eine große Rolle dabei spielen, gut ausgebildete Fachkräfte möglichst lange im Unternehmen zu halten.

„Wir setzen auf Zusammenhalt und Identifizierung der Fachkraft mit dem Unternehmen“, erklärt Pantioukhov und führt als ein Beispiel das Wohnbauprojekt ‚Hakkapeliitta Village‘ an. Gut acht Kilometer vom Reifenwerk entfernt hat Nokian Tyres einen modernen Wohnkomplex errichtet – inklusive Kindergarten, Geschäften und, und, und. Die Wohnungen werden zum Selbstkostenpreis und bezahlbaren Zinskonditionen an Mitarbeiter verkauft. Rund ein Drittel der Belegschaft von Wsewoloschsk wohnt bereits dort.

„Wir haben gesehen, dass die Menschen hier in Russland Probleme haben, eine Wohnung für sich und ihre Familien zu finden. Das liegt einerseits an dem hohen Zinsniveau, andererseits aber auch an den stark steigenden Immobilienpreisen in den Metropolregionen“, sagt der Vize-CEO. Das habe das Unternehmen dazu bewegt, in diesem Bereich zu investieren. „Es lohnt sich, die Mitarbeiter bleiben oft sehr lange bei Nokian.“

Bezahlbarer Wohnraum für die Mitarbeiter

Hakkapeliitta Village

Nokian Tyres begegnet dem massiven Fachkräftemangel in Russland auf ganz praktische Weise. Um gut ausgebildete Beschäftigte dauerhaft an das Unternehmen zu binden, bieten die Finnen ihren Mitarbeitern unter anderem bezahlbaren Wohnraum – inklusive Kindergarten und allem, was dazu gehört. Im ‚Hakkapeliitta Village‘ können Mitarbeiter neues, nach westlichen Standards errichtetes Wohneigentum zu besonders günstigen Konditionen erwerben – angesichts hoher Zinsen und Immobilienpreise eigentlich unerschwinglich. Rund ein Drittel der Werksbeschäftigten wohnen in 343 Appartements, die Nokian unweit der Fabrik gebaut hat.

Neben dem Wohnbau bietet Nokian Tyres seinen Mitarbeitern auf dem Werksgelände unter anderem ein kostenloses Fitnessstudio, ärztliche Versorgung, eine eigene Bankfiliale sowie eine moderne Kantine mit breitem Speisenangebot zu günstigen Preisen. Natascha, die mich durch die Büroräume, das Fitnessstudio und zur Kantine führt, arbeitet gern in Wsewoloschsk: „So ein Werk wie dieses und so einen Arbeitsplatz kann man hier sonst nur schwer finden“, erklärt sie.

Ein weiteres Werk in Europa und bald eines in den USA

Neben Wsewoloschsk in Russland betreibt Nokian Tyres ein zweites Werk im finnischen Nokia, wo unter anderem Großreifen für Landmaschinen hergestellt werden. Ein drittes Werk wird ab Anfang 2018 im US-Bundesstaat Tennessee gebaut. Von hier aus will Nokian Tyres ab 2020 den Wachstumsmarkt Nordamerika bedienen.

„Die Investition von rund 360 Millionen US-Dollar ist nötig, da wir hier in Russland trotz zahlreicher Erweiterungen volle Kapazitätsauslastung haben. Allein für den US-Markt rechnen wir jedoch für die kommenden Jahre mit 100 Prozent Wachstum“, erklärt Pantioukhov. Das neue Werk in Dayton (Rhea County) soll eine jährliche Kapazität von 4 Millionen Reifen haben – mit Option auf Erweiterung. Ab 2020 sollen die ersten US-Reifen vom Band laufen. Ausgestattet wird das Werk mit der gleichen westlichen Technologie, die auch in Wsewoloschsk zum Einsatz kommt.

Weitere Wachstumsmärkte verortet der finnische Konzern in Zentral- und Osteuropa. Hier hat Nokian Tyres gerade die Zusammenarbeit mit BMW ausgebaut. Der Münchener Autobauer hat den Nokian WR D4 Winterreifen als Erstausrüstung für den BMW X1 zugelassen. Asien spielt indes bisher kaum eine Rolle und steht erst mal weiter hinten auf der Expansionsagenda.

Von den internationalen Sanktionen gegen Russland spürt Nokian Tyres laut Pantioukhov eher wenig. „Unsere Maschinen und Produkte sind nicht von den Sanktionen betroffen“, sagt er. Zudem beginne sich die russische Wirtschaft, zunehmend zu erholen – insbesondere die wieder stark wachsenden Automobilverkäufe stimmten zuversichtlich für die Absatzchancen am wichtigen russischen Reifenmarkt, wo Nokian Tyres immerhin ein Viertel der Umsätze erwirtschaftet. Fast 40 Prozent setzt das Unternehmen in den nordischen Ländern Finnland, Norwegen und Schweden um. Das restliche Europa macht derzeit knapp 25 Prozent aus, der nordamerikanische Markt etwas mehr als ein Zehntel.

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