André Reichel

Prof. Dr. André Reichel ist Professor für International Management & Sustainability an der International School of Management (ISM) in Stuttgart und einer der zentralen Vordenker für betriebswirtschaftliche Perspektiven auf die Postwachstumsökonomie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in wachstumsresilienten Geschäftsmodellen und den Erfolgsindikatoren der nächsten Ökonomie. - (Bild: André Reichel)

Produktion: Herr Prof. Reichel, warum muss Wachstum aus Ihrer Sicht neu gedacht werden – kann es denn nicht weitergehen wie bisher?

Prof. André Reichel: Wirtschaftswachstum, verstanden als langfristiges und stetiges Anwachsen von Angebot und Nachfrage in einer Volkswirtschaft, ist ein historisches Phänomen, soll heißen: Es gab eine Zeit vor dem Wachstum, eine ‚Explosion‘ des Wachstums (vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg) und eine lange Phase der Abschwächung des Wachstums. Empirisch lässt sich das sehr schön zeigen.

Gleichzeitig sehen wir große ökologische Krisen wie den menschengemachten Klimawandel, und hier verlaufen die dramatischen Anstiege von Treibhausgasemissionen parallel zum Wirtschaftswachstum. Es ist global bisher nicht gelungen, diesen Zusammenhang deutlich und entschieden genug zu brechen, um ein ‚weiter so‘ zu rechtfertigen. Dies wirft dann aber sehr schnell Gerechtigkeitsfragen auf: wenn ein ‚weiter so‘ nicht mehr geht, wie organisiert man dann Wirtschaft neu – lokal, national, aber vor allem auch global, sodass die Ärmsten weiterhin eine faire Chance haben, sich aus der Armut zu befreien.

Produktion: Wie sieht Ihr Ansatz ‚Next Growth‘ dazu aus und wie könnte er erreicht werden?

Prof. Reichel: Next Growth versucht, diese Problematik auf die einzelwirtschaftliche Ebene von Unternehmen und unternehmerisch Aktiven herunterzubrechen. Es ist ja immer sehr schnell gesagt, es könne mit dem Wachstum aus ökologischen oder sozialen Gründen so nicht weitergehen, was heißt das aber für Unternehmen? Hier sind aus meiner Sicht vor allem vier Fragenbereiche wichtig:

1. Nachdenken über Wachstum: Was soll auf der unternehmerischen Ebene eigentlich wachsen? Warum soll es wachsen, für wen ist dieses Wachstum gut, für wen schlecht? Und gibt es auch eine klare Vorstellung, wann es genug ist mit dem Wachstum?

2. Strategien jenseits des Wachstums: Wie robust und stabil sind unsere Geschäftsmodelle, wenn das Wachstum ausbleibt – etwa aufgrund von Krisen oder ökonomischen wie ökologischen Wachstumsgrenzen? Bleiben wir liquide auch ohne Wachstum? Wollen unsere Kunden immer mehr von uns oder wollen sie bessere Lösungen?

3. Innovationen auch sozial denken: Was ist das wirklich Neue an unseren Lösungen und braucht es das auch? Oder stellen wir Lösungen bereit, die sich Probleme suchen müssen? Was für andere Neuerungen sehen wir noch nicht – beispielsweise Exnovation oder Renovation, also die Erneuerung von Produkten und deren Lebenszyklusverlängerung? Und mit wem müssen wir zusammenarbeiten, um diese Lösungen auch liefern zu können?

4. Richtig rechnen: Ist unsere interne Kosten- und Leistungsrechnung eigentlich richtig? Soll heißen: Verstehen wir die ökologische und soziale Wert- und Schadschöpfung unserer unternehmerischen Aktivitäten? Wenn wir ökologischen und sozialen Mehrwert schaffen, wie kann uns das ökonomisch helfen, auch wenn wir vielleicht nicht mehr wachsen wollen oder können?

Produktion: Wie unterscheidet sich Ihr Ansatz von anderen Modellen für eine Postwachstums- oder Gemeinwohlökonomie?

Prof. Reichel: Im Postwachstumsdiskurs, wie er hauptsächlich im deutschsprachigen Raum, aber auch international, geführt wird, sind Unternehmen häufig gar nicht vorhanden. Und wenn sie vorhanden sind, dann entweder als Bösewichte – vor allem die großen, global agierenden Unternehmen – oder Gutmenschen – vor allem kleine, genossenschaftlich geführte Unternehmen mit sozialer Zielsetzung. Unternehmen sind aber so vielschichtig wie die Menschen, die sich in ihnen unternehmerisch betätigen. Wachstum kann für Unternehmen kein böses Wort sein, es muss auch Raum für Wachstumsdenken und Wachstumsprozesse auf der unternehmerischen Ebene geben.

Sonst erreicht man letztlich niemanden mehr. Mit den Vorstellungen einer Gemeinwohlökonomie teile ich insbesondere den breiten buchhalterischen Blick auf ökonomische, ökologische und soziale Mehrwertschöpfung. Der Unterschied bei Next Growth besteht darin, dass ich durchaus Konkurrenz und Wettbewerb als wichtige Elemente einer Marktwirtschaft erhalten will und auch dem Gewinnstreben, eingebettet in einen größeren ökologischen und sozialen Rahmen, eine Rolle zuweisen möchte.

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