Abbildung Steffen Reiche in dunklem Anzug vor dem Seat - Logo

Den Mut, Fehler zu machen, schätzt Werkleiter Steffen Reiche besonders hoch. - (Bild: Seat)

Automobilwerk Martorell: Aus dem ehemaligen Staatskonzern nordwestlich von Barcelona stammt 'La pelotilla' der legendäre Seat 600, der ähnlich wie der Käfer in Deutschland in den 60er Jahren für das Lebensgefühl einer neu entstehenden Mittelschicht stand.

Seit 1986 gehört Seat zu Volkswagen. Nach einer mehrjährigen Durststrecke begann im Jahr 2012 der Aufschwung. Mithilfe der Produktionsstrategie PQT (Produktivität, Qualität, Team) konnten Fabrikkostenverbesserungen in Höhe von 12 Prozent erreicht werden.

Seit 1 ½ Jahren leitet der Volkswagen-Mann Steffen Reiche das spanische Werk, in dem auf 2,8 Mio m2 die Spanier etwa 2.400 Fahrzeuge täglich fertigen. „Das Miteinander der Kollegen und die Grundeinstellung hier im Werk waren gut“, erinnert sich Reiche, der das Geschäft bei Volkswagen von der Pike auf gelernt hat. Die Verbesserungsdynamik im Werk hatte sich allerdings verlangsamt.

Im Jahr 2015 fand eine PQT III Schulung statt, wo alle 8.000 Mitarbeiter des Werkes geschult worden sind. „Ich will erreichen, dass die Mitarbeiter Experimente machen, lernen und damit Prozesse verbessern“, so Reiche, dazu gehöre aber auch eine Fehlerkultur, denn nur wer keine Angst vor Fehlern habe, könne weiterkommen.

Abteilungsübergreifende Zusammenarbeit

Auszeichnungen, wie der NEVQS 2015 oder die Auszeichnung 'Fabrik des Jahres' in der Kategorie hervorragende Qualität, zeigen, dass die Produktionsstrategie greift. Die erste Station des Werk-Rundgangs ist dem Thema Qualität gewidmet. Im Qualitätslabor berichtet Oliver Deitermann von Qualitätsverbesserungen in Höhe von 35 Prozent. Entsprechend stolz präsentiert Deitermann daher die Auszeichnung NEVQS 2015.

Dort errang Seat den ersten Platz vor Audi, Skoda und VW. Erreicht wurde dies unter anderem durch Investitionen in modernste Messtechnik: „Dank modernster Messtechnik können wir heute umfangreiche optische Analysen fahren,“ berichtet Pedro Vallejo, ein weiterer Mitarbeiter des Qualitätslabors, das heute in 'cross functional teams' jedes Problem abteilungsübergreifend in Angriff nimmt – ein Herangehen das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk zieht. Vorher gab es starkverbreitete Verantwortung und damit keine gesamtheitliche Analyse, berichtet der Spanier.

Sogar die Lieferanten sind in diesen Teams vertreten und können ihre Zulieferteile im Seat-Qualitätslabor eigenständig messen und prüfen. Deren Sensiblisierung für Qualitätsprobleme widmet sich Mercedes Nasarre, die Leiterin der Werkstofftechnik. „Wir arbeiten heute mit großer Begeisterung mit unseren Lieferanten zusammen“, so Nasarre, die einmal im Monat jeden Lieferanten einen Besuch abstattet. Sie hält ein Lenkrad in der Hand und zeigt auf einen kaum sichtbaren Kratzer. So etwas kann durch den Ansatz eines Werkzeugs passieren.

Fehlersuche bereits vor Serienstart

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Die farbigen Aufkleber lenken die Aufmerksamkeit der Montage-Mitarbeiter auf neuralgische Punkte. Mit 3D-Hilfsmitteln, extra Schulungen oder anderen Methoden bauen die Mitarbeiter möglichen Fehlern schon vor Serienstart vor. - (Bild: Seat)

In einer Risikoanalyse werden genau diese Punkte gefunden und anschließend mit allen betroffenen Abteilungen nach geeigneten Gegenmaßnahmen gesucht. „Bei uns kommt es auf jede kleinste Beschädigung an“, betont Nasarre.

Betritt man die Montagehalle 9, passiert man 'la mariquita' – das 'Marienkäfer'-Fahrzeug. Auf dessen Karosserie verteilt, zeigen bunte kreisrunde Papieraufkleber neuralgische Punkte, die anfällig für kleine Schäden wie Kratzer oder Dellen sein könnten.

Der Leiter der Montage Volker Hoffmann sensibilisiert mit dem 'Marienkäfer' seine Leute. „Wie erreiche ich tausend Leute? Das ist der Dreh- und Angelpunkt“, erklärt er seinen Ansatz. Er kam auf die Idee mit dem Marienkäfer.

Der durchquert vor dem Takt null die Montage und die Montagemitarbeiter testen jeden Handgriff, jeden Werkzeugeinsatz und markieren anschließend die Punkte, die sie für problematisch halten, etwa Ansatzpunkte, an denen ein Werkzeug abrutschen könnte oder ein Bauteil bei der Montage anstoßen könnte. „So etwas muss dezentral stattfinden und alle Mitarbeiter müssen einbezogen werden“, betont Hoffmann, in dessen Abteilung parallel zum Betrieb laufend Schulungen stattfinden.

Das ist „Die Fabrik des Jahres“

Der Name „ Die Fabrik des Jahres“ steht seit einem viertel Jahrhundert sowohl für den renommiertesten Benchmark-Wettbewerb in der deutschen und europäischen Industrie wie auch für den profiliertesten Fachkongress zum Thema Zukunft der Fertigung und Best of Production.

Gemeinsam mit Experten der Unternehmensberatung A.T.Kearney vergibt die Fachzeitung Produktion den Preis „Die Fabrik des Jahres/Global Excellence in Operations (GEO)“ in mehreren Kategorien und richtet den Kongress aus.

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3D-Druck für Testteile

Seat-Werksmitarbeiter arbeitet vornübergebeugt am unfertigen Auto
Über 35 Prozent Qualitätsverbesserung erreichte Seat durch Investitionen in Technologien wie Cubing und Meisterbock, aber auch durch Qualifizierungsprogramme für Lieferanten und Produktionsmitarbeiter. - (Bild: Seat)

An mehreren Stellen an der Linie sieht man an speziellen Vorrichtungen Montagearbeiter zu zweit stehen und besonders kniffelige Montageschritte üben.

„Wir sind soweit, dass die Mitarbeiter zu uns kommen, um etwas zu verbessern“, sagt Hoffmann. So gibt es in den Reihen der Mitarbeiter zum Beispiel einen Fan für 3D-Druck. Dieser konstruierte zunächst privat eine kleine Vorrichtung zur Vereinfachung eines Montageschritts. Inzwischen entwickelte sich daraus ein fest installierter Prozess.

Mithilfe von 3D-Druck sind nun Halter, Adapter und Ähnliches schnell zur Hand und können sofort getestet werden, bevor sie in größerer Menge beschafft werden. „3D-Druck ist für uns ein Riesenhilfsmittel“, betont Hoffmann und zeigt auf verschiedene bunte 3D-Komponenten.

Vorhandene Kapazitäten werden optimal genutzt

Neben der Fehlerreduktion erreichte Seat Produktivitätsverbesserungen, sowohl in der Zahl der produzierten Fahrzeuge als auch in der Zahl der Arbeitsstunden pro Fahrzeug.

Ein Beispiel dafür liefert das Presswerk: In der 18.000 m2 großen Halle stehen drei Schuler-Pressen. In rasendem Tempo schlucken sie die Platinen aus Blech. 180 Männer und Frauen verarbeiten 350 t Blech am Tag und seit Neuestem auch Alu. Damit konnte das Team von Jordi Junyent die Auslastung des Presswerks auf 94 Prozent erhöhen.

Dazu musste allerdings erst einmal die Presse wesentlich schneller werden. Innerhalb eines Monats setzten die Techniker von Schuler gemeinsam mit den Seat-Fachkräften ihre Idee um, die Hub- und die Transportbewegung der Platinen miteinander zu verzahnen. „Jetzt sind die Bewegungen überlappend“, so der Leiter des Presswerks.

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Rekord: In nur 5 Minuten und 55 Sekunden schaffte das Team des Presswerks den Werkzeugwechsel. Sie sind damit unumstrittener Meister im Konzern. - (Bild: Seat)

Junyent weist auf eine weitere Tempo erhöhende Maßnahme hin: der Werkzeugwechsel kostet wertvolle Zeit. Also trat ein Team aus Gruppensprechern und Instandhaltern an, um den Rekord im Konzern im Werkzeugwechsel zu brechen. Mit einer Bestzeit von 5 min und 55 s schafften sie es, ungebrochener Meister innerhalb des Gesamtkonzerns zu werden – vor 50 Zuschauern: „Das war der Hammer“, freut sich Junyent.

Der Leiter des Presswerks streicht vorsichtig über die aufgebockten Werkzeuge: „Wir verwöhnen unsere Werkzeuge“, sagt er und erklärt, wie er die sensationelle Schärfe der Radien seiner Karosserie-Teile erreicht: Dazu wird nach jeder Pressung das Werkzeug sorgfältig gereinigt. All diese Verbesserungen lassen sich nur mit gut ausgebildeten Mitarbeitern umsetzen.

Ausbildung nach deutschem Standard

Neben den Werkzeugen gilt daher Junyents Leidenschaft den Azubis. „80 Prozent unserer Mannschaft hat hier die Ausbildung im Werk absolviert“, so Junyent. Die duale Ausbildung nach deutschem Vorbild ist in Spanien hoch angesehen. Auf 60 bis 70 Ausbildungsplätze bewerben sich junge Menschen aus dem ganzen Land.

Doch auch Ressourceneffizienz und Gesundheit sind Bestandteil der Werksstrategie: CARS heißt das medizinische Zentrum, das soeben um ein weiteres Gebäude mit einem Biomechanik-Labor erweitert wurde. 25 Ärzte, Pfleger und Therapeuten versorgen hier die 14.000 Mitarbeiter. Dabei werden verschiedene medizinische Leistungen angeboten und damit zum Teil Mängel des spanischen Gesundheitssystems ausgeglichen.

Der Erfolg des Werkes fußt also auf Aktivitäten in Dutzenden von Handlungsfeldern. Diese in der Unternehmenskultur fest zu verankern, ist Werkleiter Reiches Mission. Mit seinem Credo für hohes Tempo, dem Mut, Fehler zu machen, und den Willen, immer noch einen Schritt weiterzugehen, sieht er sich auch künftigen Herausforderungen gewachsen: „Industrie 4.0 bringt uns die Chance, viele Prozesse mit noch nicht bekannten Technologien zu verbessern und die Arbeitsplätze für unsere Mitarbeiter hochwertiger und damit interessanter zu gestalten.“

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