Chaotisch liegende Teile per Roboter zu vereinzeln, gilt nach wie vor als komplexe Angelegenheit. Am sogenannten ‚Griff in die Kiste‘ arbeiten Ingenieure und Automatisierer schon seit den 1980er Jahren. Dennoch gilt die auch als ‚Bin Picking‘ benannte Methode nach wie vor nicht als vollständig gelöst. So können Teile, die zum Beispiel am Rand einer Kiste liegen, am Schluss in der Kiste übrig bleiben.

Diese Teile lassen sich dann teilweise nicht mehr automatisiert von einem Roboter greifen. Oder das Abscannen der Teile und die Berechnung der Greif­position nehmen zu viel Zeit in Anspruch, sodass die Methode in diesem Fall nicht wirtschaftlich wäre.

Doch die Kameratechnik hat sich seit den Anfängen des Bin Pickings enorm weiterentwickelt.  Roboter werden zudem immer öfter befähigt, selbst zu lernen und somit bessere Strategien für das Greifen ungeordneter Teile zu entwickeln. Produktion hat sich umgehört und eines wird dabei klar: Der ‚Griff in die Kiste‘ lässt sich mittlerweile wirtschaftlich umsetzen.

Harald Bader, Geschäftsführer des Automatisierungsspezialisten HBI Robotics berichtet, in welchen Applikationen sich der Griff-in-die-Kiste lohnt: „Wir machen bei jeder Teilefamilie Voruntersuchungen, ob die Teile in der vorgegebenen Zeit abgegriffen werden können. Generell gilt, je mehr Kanten und Ecken die zu greifenden Teile haben, desto schwieriger ist die Bin-Picking-Anwendung.“ In diesen Fällen empfiehlt er seinen Kunden, die Teile auf ein Förderband zu vereinzeln und dann abzugreifen.

Das rät der Systemintegrator

Harald Bader, Geschäftsführer von HBI Robotics

»Generell gilt, je mehr Kanten und Ecken die zu greifenden Teile haben, desto schwieriger ist die Bin-Picking-Anwendung.«

Harald Bader,
Geschäftsführer/CEO HBI Robotics

Seit mittlerweile mehr als vier Jahren forscht sein Team im Bereich 3D-Lageerkennung. HBI Robotics hat auch schon ein sogenanntes ‚ZIM-Projekt‘ in diesem Bereich durchgeführt. (Bei ZIM handelt es sich um ein bundesweites, technologie- und branchenoffenes Förderprogramm für mittelständische Unternehmen).

Weiterhin vergleichen Bader und sein Team immer wieder die aktuelle Sensoren und Kamerasystem, die derzeit am Markt sind. „Dadurch können wir sehr gute und wirtschaftliche Lösungen im Bereich ‚Griff in Kiste‘ realisieren“, erklärt der Geschäftsführer.

 

BMW hat im Werk Dingolfing bereits eine Bin-Picking-Applikation in Serie laufen. Der Griff-in-die-Kiste kommt bei der Teilebereitstellung im Bereich Bodenblech beim Karosseriebau des BMW 7er zum Einsatz. Die zu greifenden Teile liegen dabei wahllos in drei Behältern. Sie werden zunächst von einem 3D-Kamerasystem abgescannt. Software erkennt dadurch die Lage der Teile und berechnet die Pfade und die notwendige Greifpositionen für den Roboter.

Der Roboter entnimmt aufgrund dieser Berechnung die Teile mit einem eigens entwickelten ‚Flex-Greifer-System‘. Die Teile werden anschließend auf der zuvor berechneten Position abgelegt, und somit für den nachfolgenden Prozess bereitgestellt. „Dank flexibler Auslegung als ‚Drei-Finger-System‘ kann der Greifer verschiedene Bauteile entnehmen und handeln, ohne dass ein Werkzeugwechsel erforderlich ist“, erläutert Stefan Jankowski, der in der Technischen Planung bei der BMW Group als Spezialist für Anlagen- und Steuerungstechnik tätig ist. Dadurch ergebe sich eine besonders hohe Flexibilität.

Das sagt der Anwender

Stefan Jankowski von BMW

»Für uns stand im Vordergrund, die Serientauglichkeit einer innovativen Lösung nachzuweisen. Dies ist uns sehr gut
gelungen.«

Stefan Jankowski,
Spezialist für Anlagen- und Steuerungstechnik in der Technischen Planung der BMW Group

Bei BMW war man von Anfang an überzeugt, dass sich das System nicht nur in einem Piloten, sondern auch im Serieneinsatz bewährt. „Auf der Suche nach einem passenden Anwendungsfall kamen wir schnell zu diesem Fertigungsbereich“, erinnert sich Jankowski. Denn bei der Applikation im Karosseriebau gilt es, verschiedene Bauteile mit unterschiedlichen Geometrien zu handeln. Das kompakte Anlagenlayout ließ sich außerdem platzsparend unter­bringen. „Für uns stand im Vordergrund, die Serientauglichkeit einer innovativen Lösung nachzuweisen, dies ist uns sehr gut gelungen“, sagt Jankowski stolz.

Auch ergonomische Gesichtspunkte spielten eine Rolle, da in dieser Anwendung auch schwere Bau­teile zu handeln sind. „Selbstverständlich prüfen wir die Weiterentwicklung für zusätzliche Anwendungsfälle und orientieren uns dabei am konkreten, auch wirtschaftlichen Nutzen“, versichert der Experte aus der Technischen Planung.

Noch im Forschungsstadium befindet sich das Projekt ‚Deep Grasping‘ am Fraunhofer IPA. Es soll das Bin-Picking mit Hilfe künstlicher Intelligenz auf die nächste Stufe heben. „Deep Grasping soll mehrere Aspekte des Griff-in-die-Kiste verbessern und ihn somit konkurrenzfähiger für verschiedene Applikationen machen“, erklärt Felix Spenrath aus der Abteilung Roboter und Assistenzsysteme.

Dazu gehörten insbesondere eine bessere Erkennung komplexer Bauteile, wie zum Beispiel flache oder glänzende Bauteile, eine kürzere Taktzeit sowie geringere Inbetriebnahmezeiten durch automatisches Lernen von Parametern. „Auch die Robustheit gegenüber verformten Kisten soll durch das maschinelle Lernen erhöht werden“, sagt Spenrath.

Im Forschungsprojekt ‚Deep Grasping‘ arbeiten Spenrath und sein Team gerade zusammen mit Wissenschaftlern von der Universität Stuttgart an einer virtuellen Lernumgebung, in der Roboter künftig vor ihrer Inbetriebnahme ihre neuronalen Netze schulen und sich über ihre Erfahrungen austauschen sollen. Der Griff-in-die-Kiste soll also nicht mehr in der Praxis geübt, sondern nur noch simuliert werden. Die vortrainierten Netze werden anschließend auf den realen Roboter übertragen. Schäden an Bauteilen durch fehlerhafte Abläufe sollen so vermieden und die Programmierung deutlich vereinfacht werden.

„Die aktuellen Implementierungen befinden sich noch im Forschungsstadium und müssen bezüglich der Laufzeit noch optimiert werden, bevor an einen ­Serieneinsatz zu denken ist“, sagt Spenrath. Momentan steht für die Forscher noch die Funktionalität an erster Stelle. Im Anschluss werden aber auch die Aspekte, die für einen wirtschaftlichen Einsatz notwendig sind, wie zum Beispiel die Berechnungszeit, näher betrachtet.

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