Ergonomie, Arbeitsplatz, Ifaa, MAN

Prozessplaner von MAN haben einen Elektroschrauber mit Kamera entwickelt, mit dem Mitarbeiter ergonomisch günstig an einer schwer einsehbaren Stelle einen Abgasschalldämpfer montieren können. - (Bild: MAN)

Wenn Industrie-Unternehmen ergonomische Arbeitsplätze einführen wollen, ist es nach Ansicht von Fachleuten wichtig, die Produktionsmitarbeiter frühzeitig in die Gestaltung miteinzubeziehen. „Erstens können so die Erfah­rungen der Beschäftigten berücksichtigt werden“, sagte Stephan Sandrock vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (Ifaa) gegenüber ‚Produktion‘.

„Zweitens erhöht die Einbindung der Beschäftigten die Akzeptanz, beispielsweise bei der Nutzung von Manipulatoren, Hebehilfen und Ähnlichem.“

Eingebunden werden können die Produktionsmitarbeiter zum Beispiel im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP). Während eines regelmäßigen Austauschs über mögliche Verbesserungen der Systemleistung kann man Ergonomie-Themen mitbehandeln.

„Wichtig ist hierbei, dass nötige und sinnvolle Dinge auch rasch ausprobiert oder sogar umgesetzt werden“, meint Sandrock, der den Fachbereich Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Ifaa leitet. Andernfalls könne die Motivation der Produktionsmitarbeiter in der Industrie leiden.

Die Produktionsmitarbeiter können sich ebenso einbringen, wenn zum Beispiel eine Montagelinie neu aufgebaut wird. Dann bietet es sich an, dass die Beschäftigten diese im Sinne des Cardboard-Engineering aus Pappe nachbauen. Mit dieser Methode wird schon frühzeitig erkennbar, wo sich Wege und Greifräume in der Produktion befinden müssen und wie die Arbeitsmittel angeordnet werden müssen.

Mitarbeiter bei der Beschaffung ergonomischer Hilfsmittel miteinbeziehen

Auch bei der Beschaffung von ergonomischen Hilfsmitteln macht es Sinn, die Produktionsmitarbeiter heranzuziehen, um verschiedene Möglichkeiten zu testen. „In einigen Industrie-Unternehmen wurden schon auf Aktenlage basierend Manipulatoren beschafft, die dann aber von den Produktionsmitarbeitern nicht benutzt werden, weil sie tatsächlich den Arbeitsprozess nicht unterstützen“, berichtet der Spezialist aus der Wissenschaft.

Ein Industrie-Unternehmen, das auf die Anregungen der Mitarbeiter in Bezug auf ergonomische Verbesserungen am Arbeitsplatz gehört hat, ist der Lastkraftwagenhersteller MAN Truck & Bus.

Die Beschäftigten in der Produktion des Münchener Werks schlugen vor, dass speziell geschulte Mitarbeiter ihre Kollegen beraten und unterstützen sollten bei dem ergonomisch richtigen Verhalten am Arbeitsplatz. Die Vorgesetzten nahmen den Vorschlag auf und das Projekt ‚Ausbildung und Einsatz von Ergonomic Coaches‘ wurde gestartet.

Führungskräfte sollten Meinung der Mitarbeiter anhören

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Das Programm ‚Heute für Morgen‘ von BMW sieht auch vor, dass zwischen belastenden Arbeitsschritten auch gymnastische Übungen zur Entlastung stattfinden. - (Bild: BMW)

Eine weitere Innovation im Bereich Ergonomie realisierten Dirk Schupmann und Michael Bernoteit aus dem MAN-Werk in Salzgitter. Die Prozessplaner stellten fest, dass eine Stelle, an der Abgasschalldämpfer verschraubt werden, schwer zugänglich war. Dies hatte seine Ursache in der Einführung der Euro 6-Abgasnorm, die zu Änderungen im Prozessablauf führte.

Schupmann und Bernoteit kombinierten daraufhin einen Elektroschrauber mit einer Kamera, um so den Blick auf die Schraubstelle zu ermöglichen. Mithilfe der Kamera und einem entsprechenden Display können die Produktionsmitarbeiter nun an ihrem Arbeitsplatz die Schraubstelle einsehen und in einer ergonomischen Körperhaltung den Abgasschalldämpfer montieren. Dieser Kameraschrauber wurde beim Deutschen Montagekongress von Süddeutscher Verlag Veranstaltungen zur besten Montage-Idee gekürt.

„Führungskräfte sind gefragt, die Meinung der Beschäftigen anzuhören und zu prüfen“, fordert der Mann aus der Forschung Sandrock. Sinnvoll sei es, wenn Verantwortliche in der Industrie wie zum Beispiel Führungskräfte von den Produktionsmitarbeitern schnell angesprochen werden können. Diese sollten vor Ort sein, die Arbeit kennen und ein offenes Ohr für die Hinweise der Beschäftigten haben.

Ein Vorreiter bei der Gestaltung eines Arbeitsplatzes in der Industrie nach Ergonomie-Gesichtspunkten ist der Münchner Automobilhersteller BMW, der bereits 2010 für sein Konzept der alternsgerechten Herstellung im Werk Dingolfing mit dem Zukunftspreis der Fabrik des Jahres/GEO ausgezeichnet wurde.

So können zum Beispiel die Produktionsmitarbeiter an den Montagestandorten München, Hams Hall und Steyr bei ihrer Arbeit zwischen sitzenden und stehenden Tätigkeiten wechseln, um einseitig belastende Bewegungsabläufe zu vermeiden. Eine höhenverstellbare elektrische Hängebahn soll dafür sorgen, dass unterschiedlich große Mitarbeiter in einer ergonomisch günstigen Situation arbeiten können.

Heben schwerer Lasten wird vermieden

Die Motoren am Montageband sind über einen Kegeladapter an der elektrischen Hängebahn befestigt und somit von allen Richtungen von den Mitarbeitern zugänglich. Schwere Anbauteile wie zum Beispiel ein rund zehn Kilogramm schwerer Abgasturbolader lassen sich mit Unterstützung durch ein Greif- und Handlinggerät montieren, womit das Heben schwerer Lasten vermieden und auf die Gesundheit der Produktionsmitarbeiter Rücksicht genommen wird.

Ergonomiemanagement im Industrial Engineering ansiedeln

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Eine Stehhilfe hilft einem Arbeiter bei BMW bei der ergonomischen Montage. - (Bild: BMW)

„Unser Fokus ist allerdings immer auf der Ergonomie insgesamt, unabhängig vom Alter des Mitarbeiters“, sagte Sandra Schillmöller, die bei der BMW Group die Kommunikation für das Produktionsnetzwerk verantwortet, gegenüber ‚Produktion‘. „Es geht darum, allen Mitarbeitern ergonomische Verbesserungen zukommen zu lassen.“

BMW hatte dafür das Demographie-Projekt ‚Heute für Morgen‘ entwickelt, das den Anforderungen einer alternden Belegschaft Rechnung tragen soll und das die Arbeitsfähigkeit der Mitarbeiter dauerhaft erhalten soll. Die ergonomischen Arbeitsplätze sind dabei auch für Produktionsmitarbeiter mit Leistungseinschränkungen sowie für ältere Mitarbeiter gedacht.

Grundsätzlich ist ein planvolles und vor allem auch vorausschauendes Vorgehen sinnvoll, wenn Unternehmen der verarbeitenden Industrie einen ergonomischen Arbeitsplatz einführen wollen. Wenn ergonomische Gesichtspunkte gleich zu Beginn eines Produktentstehungsprozesses berücksichtigt werden, hat dies Vorteile, denn dadurch können Gestaltungsfehler und dadurch bedingte teure Korrekturmaßnahmen vermieden werden.

„Bei größeren Unternehmen hat sich zudem gezeigt, dass ein Ergonomie-Management, das zum Beispiel im Industrial Engineering aufgehängt ist, den Prozess der Einführung ergonomischer Arbeitssysteme erheblich unterstützen kann“, meint Sandrock.

Bei der Planung eines ergonomischen Arbeitsplatzes sollte nach Ansicht von Fachleuten ein Team, das aus unterschiedlichen Disziplinen besteht, eingesetzt werden. Neben Experten aus dem Industrial Engineering sollten dies Experten aus dem Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, dem Einkauf sowie Führungskräfte sein.

Produktivität und Humanorientierung berücksichtigen

Wichtig sei auch, dass Produktionsmitarbeiter aus den betroffenen Arbeitsbereichen mitwirken. Nach Ansicht von Fachleuten, sollten Unternehmen nicht nur Einzellösungen realisieren, beispielsweise an einem einzelnen Arbeitsplatz, sondern prozessorientiert vorgehen.

Grundsätzlich müssen bei der Planung und Gestaltung des Arbeitsplatzes immer beide Aspekte der Ergonomie, nämlich die Steigerung der Systemperformance und damit der Produktivität sowie die Humanorientierung wie die Gesundheit des Produktionsmitarbeiters berücksichtigt werden. Dies setzt zum Beispiel Bosch Rexroth in der Industrie um, indem es ein im Industrial Enegineering aufgehängtes Ergonomie-Management-System etabliert hat. Dabei werden alle Systeme ergonomisch bewertet beziehungsweise geplant.

Eine ergonomischer Prozess motiviert die Mitarbeiter

Erfahrungen zeigen, dass nicht immer die teuersten Lösungen eingesetzt werden müssen – auch schon mit schlanken Lösungen können gute Effekte erzielt werden. So lässt sich zum Beispiel mit einer App von Bosch-Rexroth namens ‚Rexroth Fit4Ergonomics‘, die frei verfügbar ist, ein Arbeitsplatz in einem ersten Schritt bewerten.

Zentral ist, dass die Eigenschaften der Beschäftigten an den Arbeitsplätzen berücksichtigt werden. Das betrifft zum Beispiel Körpergröße und -kräfte und die Sehfähigkeit. Sandrock: „Es ist davon auszugehen, dass Mitarbeiter in einem ergonomischen Arbeitsprozess motivierter und effektiver arbeiten können.“

Interview mit Stephan Sandrock vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft

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Produktion: Herr Sandrock, wie können Mitarbeiter bei der Gestaltung von ergonomischen Arbeitsplätzen eingebunden werden?

Stephan Sandrock: "Die Einbindung kann beispielsweise im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses erfolgen, indem ein regelmäßiger Austausch über mögliche Verbesserungen der Systemleistung stattfindet. Sinnvoll ist es, hier Ergonomie-Themen mit zu behandeln."

Produktion: Wie lässt sich das organisatorisch bewerkstelligen?

Sandrock: "Wenn man Mitarbeiter über KVP-Workshops einbindet, ist es wichtig, dass nötige und sinnvolle Dinge auch rasch ausprobiert oder sogar umgesetzt werden. Andernfalls kann die Motivation leiden. Sinnvoll ist es auch, wenn Verantwortliche wie zum Beispiel Führungskräfte schnell angesprochen werden können. Diese sollen entsprechend vor Ort sein, den Arbeitsprozess kennen und ein offenes Ohr für die Hinweise der Beschäftigten haben."

Produktion: Welchen Input sollte der Mitarbeiter liefern?

Sandrock: "Grundsätzlich sollte es auch Aufgabe des Mitarbeiters sein, an der Verbesserung seines Arbeitsplatzes und des Arbeitsprozesses mitzuwirken. Entsprechend sind Führungskräfte gefragt, die Meinung der Beschäftigten anzuhören und zu prüfen. Mitarbeiter können Hinweise geben zu ungünstigen Greifräumen, ungünstigen Abläufen und vielen Dingen mehr. Wichtig ist, dass sie auch die Gelegenheit dazu bekommen, beziehungsweise dazu ermuntert werden."

Produktion: Wie sollte man generell bei der Einführung ergonomischer Arbeitsplätze vorgehen?

Sandrock: "Bei größeren Unternehmen hat sich gezeigt, dass ein Ergonomie-Management, das zum Beispiel im Industrial Engineering aufgehängt ist, den Prozess der Einführung ergonomischer Arbeitssysteme erheblich unterstützen kann. Bei der Planung sollte ein Team, das aus unterschiedlichen Disziplinen besteht, eingesetzt werden. Neben Experten aus dem Industrial Engineering sollten dies Experten aus dem Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, dem Einkauf und Führungskräfte sein. Wichtig ist zudem, dass Vertreter der im Arbeitssystem beschäftigten Personen mitwirken."

Produktion: Welche Vorteile haben ergonomische Arbeitsplätze?

Sandrock: "Es ist davon auszugehen, dass bei der Berücksichtigung ergonomischer Prinzipien in der Arbeitsgestaltung die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten erhalten bleibt und es nicht zu indirekten, gegebenfalls auch krankheitsbedingten Folgekosten kommt. Letztlich ist auch davon auszugehen, dass Mitarbeiter in einem ergonomischen Arbeitsprozess motivierter und effektiver arbeiten können."

Produktion: Welchen Einfluss hat Industrie 4.0 auf die Arbeitsplätze?

Sandrock: "Im Rahmen von Industrie 4.0 wird es neue Technologien geben, die Auswirkungen auf die Arbeitssystemgestaltung und die Aufgaben haben. Dazu müssen die Firmen experimentieren dürfen. Die Forschung muss intensiviert werden, da unklar ist, ob sich Befunde aus der Mensch-Maschine-Interaktion auch auf neue Arbeitssysteme und Arbeitsformen übertragen lassen."

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