Symbolbild Postwachstum,Ende des Wachstums

Konjunkturelle Schieflagen, Finanzkrisen, ökologische Probleme und ein zunehmender Bewusstseinswandel in der Gesellschaft rufen nach einem Umdenken in der Wirtschaft. Für Unternehmen heißt das: Wachstum neu denken. - (Bild: auris/stock.adobe.com)

Die Konjunkturprognosen von Ifo Institut über IWF bis hin zu Bundesbank oder IHS Markit zeigen derzeit vor allem eines: Wachstum war gestern. Und das könnte aus Sicht von Professor Dr. André Reichel von der International School of Management (ISM) in Stuttgart auch auf Dauer so bleiben.

Für Unternehmen stellt sich zunehmend die Frage: Wie kann ich in einer Wirtschaft ohne (nennenswertes) Wachstum trotzdem ökonomisch erfolgreich sein?

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Postwachstumsökonomie mit immer geringerem Wachstum hat begonnen

Reichel hat diese Fragestellung unter anderem im Rahmen der Trendstudie ‚Next Growth‘ untersucht, die unternehmerische Perspektiven, Strategien und handfeste Orientierung für eine neue Wirtschaftsära aufzeigt.

Für den Professor für International Management & Sustainability stellt sich die Frage nach dem Wachstum erst einmal ganz grundlegend:

„Die Bedingungen des Wirtschaftens haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Schritt für Schritt verändert. Deutlich spürbar wurde das spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009. Das jährliche globale Wachstum hat sich reduziert – von 4,5 bis 5 Prozent in den 1970er-Jahren auf heute nur noch 2,5 bis 3 Prozent. Bis zur Jahrhundertmitte werden globale Wachstumsraten von unter einem Prozent erwartet“, erklärt der Ökonom.

Aus Sicht von Reichel scheint es daher angebracht, bereits jetzt von einer Postwachstumsökonomie zu sprechen: mit dauerhaft niedrigen, zurückgehenden oder sogar negativen Wachstumsraten – und mit unklaren Folgen für Unternehmen.

„Heute wird immer deutlicher, dass auf einem begrenzten Planeten kein unbegrenztes materielles Wachstum möglich ist, dass die Fixierung auf reine ökonomische Wachstumsmaximierung in ökologische und soziale Sackgassen führt – und dass diese Entwicklung auch unternehmerische Entscheidungsfreiheiten immer stärker einschränkt.

Interview mit Professor Reichel

Prof. Dr. André Reichel

Prof. Dr. André Reichel ist Professor für International Management & Sustainability an der International School of Management (ISM) in Stuttgart und einer der zentralen Vordenker für betriebswirtschaftliche Perspektiven auf die Postwachstumsökonomie.Im Produktion-Interview erklärt der Ökonom, warum Wachstum jetzt neu gedacht werden muss und was Unternehmen konkret tun können.

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Ziel: Profitables Wirtschaften jenseits des Wachstums

Während der Begriff des Wachstums im aktuellen Postwachstumsdiskurs gern ausgeblendet wird – meist zugunsten defensiver Gegenentwürfe, die auf Rückzug statt Fortschritt setzen, ist die These von Reichel eine andere: „Es ist an der Zeit, diesen defensiven Pfad zu verlassen und den Wachstumsbegriff wieder in die Nachhaltigkeitsdebatte einzubringen – allerdings nicht im Verständnis ‚mehr vom selben‘, sondern im Sinne von Entwicklung und Veränderung.“

Die Wirtschaft von morgen brauche eine neue Fortschrittserzählung, die Wachstum für Unternehmen weder mythisch überhöht, noch ausschließlich als Problem sieht.

Es geht hierbei, so Reichel, also nicht etwa um die Abschaffung des Kapitalismus, sondern vielmehr um die Frage, wie der Kapitalismus zukunftsfähig gemacht werden kann. „Eine ökonomische Realität, die keine künstlichen Bedürfnisse erzeugt, sondern Resonanz und Beziehungen fördert. Und die hilft, höhere soziale, emotionale und kulturelle Dimensionen zu erschließen.“

BIP Wachstumsraten seit 1950
In Deutschland fallen die durchschnittlichen Wachstumsraten seit Jahrzehnten. Gab es in den 1950er-Jahren noch an die 8 Prozent Wachstum jährlich, war es in den vergangenen Jahren eher 1 Prozent – oder darunter. - Quelle: Zukunftsinstitut/Statistisches Bundesamt

Umsatz ist nicht alles: Gesellschaftlicher Wertewandel verlangt Umdenken

Ein Grund für Unternehmen, sich mit den neuen Wachstumsstrategien zu beschäftigen, liegt schon allein im zunehmenden Bewusstseinswandel innerhalb der Gesellschaft. Für Reichel spielt die Digitalisierung dabei eine wichtige Rolle:

„Das Internet macht es einfacher, systemische Strukturen auf ethisch-nachhaltige Werte zu prüfen und sich vom herrschenden Wachstumssystem zu emanzipieren. Der Megatrend Konnektivität verwandelt Verbraucher in Akteure, die über digitale Infrastrukturen neue Bürgerbewegungen ins Leben rufen können – ein großer Shift in Richtung Selbstorganisation, Partizipation, Vergemeinschaftung und Ermächtigung.“

Einen Hinweis darauf, dass ein großer Teil der Menschen offenbar unzufrieden ist mit der Art und Weise, wie die Wirtschaft aktuell in Umwelt und Gesellschaft eingebettet ist, lieferte unter anderem eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus den Jahren 2010 und 2012. Danach wünschen sich allein in Deutschland 88 Prozent der Befragten eine neue Wirtschaftsordnung.

Wirtschaft steuert seit der Finanzkrise neue Werte an

Spätestens seit der Finanzkrise 2008 setzt auch in der Wirtschaft immer stärker ein Umdenken ein – in Richtung derjenigen Werte, die in den allermeisten mittelständischen, familiengeführten Unternehmen des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus ohnehin seit jeher der Standard sind.

„Zunehmend stellen Unternehmer soziale Verantwortung vor Wachstum und produzieren nachhaltig. Unternehmenskultur, Work-Life-Balance, Nachhaltigkeitsdenken – ganz unterschiedliche Motive bewirken den Schritt in Richtung Postwachstum“, beobachtet Reichel.

Ein Beispiel für diese Einstellung ist der Industriezulieferer Elobau. Das Unternehmen aus dem Allgäu ist sich seiner Verantwortung für Mitarbeiter, Gesellschaft und Umwelt sehr bewusst und verfolgt die konsequente Verbindung von wirtschaftlichem Erfolg und hohem ethischen Anspruch.

So lehnt der Hersteller von Füllstandsmessung, Sicherheitstechnik, Sensoren und Bedienelementen etwa eine militärische Anwendung seiner Produkte kategorisch ab und veröffentlicht jährlich eine Gemeinwohl-Bilanz, in der die eigenen Auswirkungen auf die Gesellschaft reflektiert werden. Die ganzheitlich-nachhaltige Vision von Elobau umfasst neben ökologischem und sozialem Engagement auch eine Wachstumsstrategie, die auf Langfristigkeit statt kurzzeitige Profitmaximierung ausgelegt ist.

Das deutlichste Zeichen dafür setzte Firmenchef Michael Hetzer, seit 2003 alleiniger Inhaber, als er das Unternehmen 2016 von einer Kapitalgesellschaft in eine Doppelstiftung überführte. Seitdem ist Hetzer einer der drei Geschäftsführer und Vorsitzender des Beirats – ohne die Firma selbst zu besitzen.

"Wachsen sollte vor allem das Bewusstsein für die Umwelt."

Michael Hetzer, Geschäftsführer Elobau

Elobau: Bewusst kontrolliert wachsen - Nachhaltigkeit im Blick

Hetzer ist sich sicher, dass Wachstum um jeden Preis nicht zielführend ist: „Man kann nicht immer wachsen, in der Natur ist das auch nicht der Fall. Es gibt immer wieder Phasen, in denen etwas verrottet, und dann entsteht wieder Neues.“

Elobau ist zwar immer noch in einer Wachstumsphase, obwohl das Unternehmen auch einige Projekte abgelehnt hat. Aber die Allgäuer kontrollieren das eigene Wachstum.

Mit unseren klimaneutralen Produkten sind wir ein Pionier in unserem Bereich. Daher finde ich es in Ordnung, kontrolliert zu wachsen, es ist die bessere Option. Ein anderer würde da jetzt voll durchstarten, noch mehr Leute einstellen, um noch mehr Umsatz zu generieren. Das machen wir bewusst nicht, denn das wäre wieder mit mehr Risiko verbunden.“

Wachsen sollte aus Sicht von Hetzer vor allem das Bewusstsein für die Umwelt. „Ich wünsche mir, dass mehr Leute den Klima- und Umweltschutz selbst in die Hand nehmen. Der Klimawandel ist da, das können wir spüren, wenn auch in Deutschland nicht so stark wie in anderen Ländern. Das sollte jeder im Fokus haben. Ein Unternehmen kann da relativ viel tun – und die meisten Ansätze rechnen sich irgendwann auch betriebswirtschaftlich.“

Postwachstumsökonomie: Der Mensch steht im Zentrum

Im Mittelpunkt der Unternehmensstrategie von Elobau steht der Mensch. Das Unternehmen solle sich so strukturieren, dass die Mitarbeiter gern dort arbeiten. Dazu gehöre auch eine einigermaßen ausgeglichene Work-Life-Balance.

„Weil das Unternehmen sich selbst gehört, ist es mir wichtig, dass diese Selbstorganisation weiter ins Unternehmen getragen wird. Ein solches Unternehmen braucht dann auch keine einzelne Führungsfigur. Es muss so organisiert sein, dass es viele Leitfiguren gibt, die unternehmerisch und nachhaltig denken, auch für unsere Zukunft“, sagt Hetzer.

Beim Ulmer Schmierstoffspezialisten Liqui Moly, der in den vergangenen Jahren verglichen mit Elobau eher stark gewachsen ist, bestimmt das Wohlergehen der eigenen Mitarbeiter ebenfalls maßgeblich die Wachstumsstrategie:

„Es verhält sich ähnlich zur ganzheitlichen Medizin, die den Menschen in seinem Lebenskontext betrachtet und behandelt. Für Liqui Moly bedeutet das, dass der Ertrag sich nur positiv entwickeln kann, wenn der Umsatz stimmt und dieser ist wiederum von der Motivation und Arbeit der Mitarbeiter abhängig. Hochmotivierte Mitarbeiter liefern entsprechend hohe Qualität ab. Und das tun sie nur, wenn die Unternehmenskultur und die im Betrieb gültigen Werte für jeden klar ersichtlich, nachvollzieh- und erlebbar sind“, erklärt Unternehmenssprecher Tobias Gerstlauer.

Überarbeitet von Dietmar Poll

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