„Ich empfinde das nicht als Bedrohung, was vielleicht daran liegt, dass ich Ingenieur bin“, sagte Daimler-Boss Dieter Zetsche über die Digitalisierung unlängst auf einem Zeitungskongress in Stuttgart. „Ich finde es vielmehr faszinierend, zu sehen, was jetzt auf einmal möglich ist.“ So verwundert es auch kaum, dass der Autobauer die Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette – von der Konstruktion und Entwicklung bis zur Produktion – vorantreibt.

Kern dieser Unternehmung ist bei Daimler das Konzept der Smart Factory. Und das wird Baustein für Baustein im weltweiten Fertigungsnetzwerk von Mercedes-Benz umgesetzt – natürlich auch im Werk Berlin, Hightech-Standort für die Komponentenfertigung und Kompetenzzentrum für die Produktion des variablen Ventilverstellsystems Camtronic. Dank Letzterem besitzt das Berliner Werk ein Alleinstellungsmerkmal im Produktionsverbund.

Warum das Berliner Werk in einer vorteilhaften Lage ist

Ein Zukunftsprodukt – das ist laut René Reif die Camtronic. Der Standortverantwortliche für das Mercedes-Werk Berlin sagt über die Herausforderungen, die seine Fabrik hatte: „Das Werk Berlin ist in der vorteilhaften Lage, dass wir mit dem variablen Ventilverstellsystem ein Zukunftsprodukt herstellen und wir in den kommenden Jahren enorme Stückzahlsteigerungen erwarten.“

Seit 2007 produzieren Daimlers Berliner die Camtronic, 2015 entwickelte sich das Werk Kompetenzzentrum weiter. Die Camtronic wurde zum Kernprodukt, das Werk Berlin zum Hightech-Standort. „Damit verbunden war ein erster deutlicher Kapazitätsausbau – aus einem Produkt wurde in zweiter Generation ein gesamter Baukasten mit verschiedensten Varianten, die in unterschiedliche Motoren eingebaut werden können“, so Reif, der nach seinem Maschinenbau-Studium als Betriebsingenieur 1990 im Werk Berlin seine Karriere begann.

Er ergänzt: „Uns war klar, dass wir der erhöhten Komplexität auf der einen und der enormen Stückzahlerweiterung auf der anderen Seite nur mit einer Digitalisierungsstrategie begegnen konnten.“ Dazu gehören die Bausteine vernetzte Prozesse, Big Data Analyse, digitale Prozessketten und eine wandlungsfähige Produktion und Logistik. Reif: „Dazu gehört natürlich auch, dass wir unsere Mitarbeiter mit ihrem großen Know-how und ihrer Erfahrung mit einbeziehen.“

Daimler gründet interdisziplinäre Projektteams

Die Digitalisierungsstrategie galt es, in den Bereichen Maschinenprogrammierung, Konstruktion, Messtechnik und Datenablage sowie Reporting umzusetzen. Dazu gründete Daimler in Berlin interdisziplinäre Projektteams aus den Bereichen Entwicklung, Planung, Qualitätssicherung, Instandhaltung und Produktion.

„Es hat mich sehr beeindruckt, mit welch hoher Eigenmotivation, Agilität und in welchem Tempo diese Projekte angegangen werden“, kommentiert Reif, der für den Autobauer bereits in Brasilien und China tätig war.

Eine Vielzahl der Projekte erstreckte sich über das gesamte Werk. Drei Beispiele dafür sind Reif besonders wichtig: „In unserer Produktion werden große Mengen an Daten erzeugt – das Neue ist, dass wir diese Daten nun konsequent nutzen können, beispielsweise in der vorbeugenden Instandhaltung, also der predictive maintenance oder predicitve analytics.“ Der Autobauer sammelt die Daten unterschiedlichster Maschinen und analysiert sie mit intelligenten Algorithmen, sodass möglicher Maschinenverschleiß oder Qualitätsmängel frühzeitig erkannt und behoben werden können.

„Dadurch werden Stillstandszeiten minimiert und die Betriebsnutzungszeit der Anlagen er­höht“, sagt Reif. Da­rüber hinaus hat Mer­cedes in der Cam­tronic ein Realtime-Reporting und Steuerungstool konzipiert und in ersten Anwendungen getestet, beispielsweise bei der effizienten Produktionssteuerung mittels elektronischem Shop­floorboard. Hier fließen Daten zum Monitoring der Produktion ein.

Es werden in Echtzeit der Betriebs­zustandsverlauf der Maschinen, aktuelle Stückzahlen, Störmeldungen, Taktzeitanalysen und Qualitätsanalysen dargestellt. Reif: „Die Analyse schafft Trans­pa­renz durch Kennzahlen in Echtzeit. Im direkten Gespräch der Produktionsmitarbeiter mit den Qualitäts-, Logistik- und Instandhaltungsmitarbeitern können gemeinsam Maßnahmen abgeleitet werden.“

Qualitätsmerkmale werden digital nachverfolgt

Ein weiteres Beispiel ist ein System von sogenannten Merkmalskennern. Jedem Element auf einer Bauteilzeichnung wird ein eindeutiger Merkmalskenner in Form einer codierten Ziffer zugeordnet. „Damit können wir gewährleisten, dass die Qualitätsmerkmale der Bauteile von der Entwicklung bis in die Serienproduktion digital nachverfolgt und analysiert werden können“, berichtet Reif. Die Daten liegen in hoch komprimierter Form vor. Anders als früher können die Konstrukteure nun die Daten nebenher bewerten, was enorm Zeit und Kosten spare.

Zudem ermöglicht dies neue Möglichkeiten der Auswertung. Beispielsweise kann Daimler durch eine Nachverfolgung der einzelnen Entwicklungs-Bauteile mehr Informationen bereits in frühen Entwicklungsphasen generieren, die in der späteren Serienproduktion hilfreich sind.

Daimler, Dieter Zetsche
Er trimmt den Konzern auf Digitalisierung: Daimler-Chef Dieter Zetsche. - (Bild: Daimler)

Neue Produktionstechnologien müssen integriert werden

Schwarm-Organisation und Mitarbeiter-Know-how nutzte der OEM bei vielen Projekten am Berliner Standort. Reif erläutert: „Es entstanden neue Ansätze der Zusammenarbeit – häufig mit innovativen Methoden wie Design Thinking und oftmals in einer Art Schwarm-Organisation.“

Das geschah auch im Rahmen von Forschungsprojekten, die nicht hierarchisch aufgebaut waren, sondern sich agil und flexibel zusammengesetzt haben. „Vieles, was heute bei Daimler in den Kulturwandel unter dem Stichwort ‚Leadership 2020‘ einfließt, hat unsere Mannschaft hier in Berlin bereits intuitiv umgesetzt“, sagt Reif.

Die Probleme bei der Umsetzung des Konzepts: Die Herausforderung besteht darin, neue Produktionstechnologien in bereits bestehende Prozesse zu integrieren, ohne dabei die laufende Produktion zu stören. „Eine große Herausforderung liegt außerdem in der Datenqualität“, so Reif.

Hier musste Mercedes über alle Systemebenen hinweg ein durchgängiges Konzept für die relevanten Stamm- und Merkmalsdaten implementieren. „Aufgrund der Vielzahl beteiligter Mess-, Steuerungs- und IT-Backendsysteme ist die Beherrschung der Datenqualität ein permanentes Thema, dass nur in Zusammenarbeit zwischen Fachbereichen, Lieferanten und der IT gelöst werden kann“, berichtet der Standortverantwortliche.

„Ein weitere große Herausforderung ist somit die notwendige Auswerteflexibilität und Re­aktionsgeschwindigkeit, da viele Fragen erst formuliert werden können, wenn man sich bereits auf dem Weg befindet und den permanenten Realitätsabgleich zwischen planbaren und nicht planbaren Ereignissen betreiben muss.“

Apps statt Papierkrieg

Die Lösung der Probleme liegt laut Reif in der Sicherstellung der Datenqualität. Dafür implementierte der OEM ein Datenflussmonitoring von der Datenentstehungsebene im Shop­floor bis in die IT-Backendsysteme.

Papier- und Excel-basierte Insellösungen ersetzte das Unternehmen schrittweise durch webbasierte Apps zur Datenerfassung mit direkter Anbindung an die zentralen Backendsysteme. „Eine weitere Maßnahme zur Überprüfung der Datenqualität ist die zielgerichtete Alarmierung und das Reporting von Datenstörungen direkt an die Datenqualität-verantwortlichen Mitarbeiter in den Fachbereichen.“

Effizienz und Transparenz wurden durch die verschiedenen Maß­nahmen gesteigert. „Wir sparen ganz konkret Zeit sowie Kosten und sichern die Qualität“, so Daimler-Mann Reif. Ein Beispiel dafür sei die Einführung der Merkmalskenner. Mit dieser Methode konnte Daimler in einem Zeitraum von zwei Jahren ein Datenvolumen von über 200 000 Seiten Papier digitalisieren.

„Das entspricht einem über 20 Meter hohen Papierstapel, den unsere Mitarbeiter nicht mehr Seite für Seite lesen müssen und der auch nicht mehr ausgedruckt werden muss“, berichtet der Standortchef. Im Bereich Predictive Analytics konnten die Berliner in ersten Beispielen nachweisen, dass Machine-Learning-Algorithmen selbstständig Abweichungen im Produktionstakt erkennen können.

„Wir konnten so beispielsweise identifizieren, dass bei einem Maschinentyp eine vermeidbare Taktzeiterhöhung einprogrammiert war. Durch eine entsprechende Optimierung sparen wir letztlich Produktionszeit“, erklärt Reif. Er ergänzt: „Ein wichtiger Erfolg, der sich nicht in Daten messen lässt, ist aber der Spirit in unserem Werk, der durch die Motivation unserer Mitarbeiter und der Freude an der Veränderung entstanden ist. Dies hat dazu geführt, weitere digitale Pro­jekte zu entwickeln und umzusetzen wie beispielsweise das Thema ‚Smart Glasses‘ – hier wird die Bereitstellung von Material in der Produktionsversorgung mit einer Datenbrille und einer dazugehörigen App unterstützt.“

Massive Steigerung der Stückzahlen

Ein evolutionärer Prozess ist die Umsetzung von Industrie 4.0-Maßnahmen, weiß Standortchef Reif: „Dieser ist nicht von heute auf morgen abgeschlossen. Von den Mitarbeitern wird viel erwartet – viele übernehmen neue Rollen, die eher steuernde und konzipierende Aufgaben beinhalten. Weiterhin müssen wir die weitere Anwendung digitaler Methoden vorantreiben, und das bei enormen Stückzahlsteigerungen im Bereich der Camtronic.“

Bis Ende 2019 verzehnfacht der Berliner Standort seine Stückzahlen in der Produktion und qualifiziert gleichzeitig eine hohe Anzahl von Mitarbeitern für anspruchsvolle Aufgaben. „Themen wie Digitalisierung und Industrie 4.0 haben für uns bereits einen guten Nutzen generiert, die digitalen Methoden müssen sich nun auch bei größeren Stückzahlen beweisen“, sagt Reif. Hier spiele auch weiterhin das Thema Datenqualität eine wichtige Rolle.

Herausforderungen wird es natürlich auch in Zukunft geben. Denen möchte Reif auch künftig weiter mit neuen Ansätzen begegnen: „Wir haben ein motiviertes Team, das Lust auf Veränderung hat.“

Im hauseigenen Innovation Lab arbeitet beispielsweise ein interdisziplinäres, Hierarchie-un­abhängiges Team zusammen. Das sucht und bewertet Ideen beispielsweise in den Bereichen Fahrzeugkomponenten oder E-Mobility.  Darüber hinaus profitiert das Werk von seinem Standort.

Berlin hat mit seiner ausgeprägten Start-up-Szene die besten Voraussetzungen, sich zu einer führenden Start-up-Metropole in Europa zu entwickeln. „Für uns ist das sehr interessant. Wir erproben, unter anderem im Bereich Big Data, die Zusammenarbeit mit Start-ups aus der Region, arbeiten bereits in Workshops mit diesen zusammen und wenden das Know.how in unseren Prozessen an“, so der Standortverantwortliche Reif.

Auch dank Standorten wie dem Berliner Werk blickt Daimler positiv in die Zukunft. So sagt auch Zetsche: „Die Digitalisierung bietet große Chancen.“

Produktioner-Elite trifft sich beim Kongress Die Fabrik des Jahres/GEO in Ulm

Professor Schuh, FDJ

Der führende europäische Benchmark-Wettbewerb Die Fabrik des Jahres/Global Excellence in Operation von A.T. Kearney und der Fachzeitung ‚Produktion‘ findet seinen Höhepunkt bei dem gleichnamigen Kongress: Die Produktioner-Elite trifft sich vom 6. bis 7. März 2018 im Maritim Hotel in Ulm. Dort erläutern die Werkleiter der Sieger, allen voran Christoph Hausser, Procter & Gamble Crailsheim, und Martin Mühlbacher, General Electric Jenbach, was sie getan haben, um die Prozesse in ihren Fabriken nachhaltig zu verbessern und Richtung Industrie 4.0 zu marschieren. Moderiert wird der erste Tag von RWHT-Professor Günther Schuh (Bild). Ergänzt wird das zweitägige Produktioner-Treffen durch einen halbtägigen Workshop am 5. März zur Fabrik der Zukunft. Die einzelnen Themenblöcke beschäftigen sich damit, wie man ein Partner-Ecosystem aufbauen kann und wie man mit IT-Legacy-Systemen umgehen kann.
www.produktion.de/fdj

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