Geht es nach der Politik, sollten wir alle nach den zwei Jahren mit Coronafokus langsam wieder in den Normalmodus zurückkehren. Wahrscheinlich auch, um Platz zu machen für die nächsten Krisen, die immer näher rücken und Unternehmen bedrohen. Denn Corona ist nicht Verursacher, sondern Brandbeschleuniger für latente Probleme.
Bei Rohmaterialien gehen Verknappung und Preiserhöhungen Hand in Hand, die Effekte wirken sich unmittelbar auf das operative Ergebnis aus. Die Verfügbarkeit von Halbleitern – im Übrigen ein hausgemachtes Problem der Automobilindustrie - ist weiterhin mangelhaft. Wer hier rechtzeitig Lagerbestände aufgebaut und dabei bei der Auswahl der Komponenten Glück gehabt hat, kann den aktuellen Entwicklungen noch ruhiger entgegenblicken, weil die gestiegenen Material- und Sonderfrachtkosten weniger auf die Profitabilität drücken. Ein weiteres Problem bleiben die anfälligen Lieferketten und die außer Kontrolle geratenen Transportkosten.
Währenddessen hat sich die bilanzielle Verschuldung in den Unternehmen auf Rekordniveau eingependelt. Die nächsten einschneidenden Entscheidungen werden also nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Corona: Mit diesen Maßnahmen haben Firmen gegengesteuert
Vor diesem Hintergrund habe ich mir überlegt, die obige Situation einmal aus der Brille des Chief Financial Officer zu betrachten. In der Regel bildet das Arbeitsergebnis eines CFO die in der Vergangenheit liegenden Ereignisse eines Unternehmens finanziell ab. Gleichwohl kommt in meinen Gesprächen mit Finanzvorständen immer wieder dieselbe Frage auf, nämlich: Welches übergeordnete Prinzip kann uns als Unternehmen zukünftig dabei helfen, negative Erschütterungen abzufedern?
Ich beziehe mich nachfolgend auf Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus, der Automobilindustrie und der davon abhängigen Industriesektoren. Denn natürlich gibt es auch Profiteure der Coronakrise, die als Gewinner aus der Krise hervorgingen. Einfach, weil ihre Produkte genau in diese krisenbedingt entstandene Bedarfslücke stießen. Dazu zählen beispielsweise die Hersteller von Geräten für Bauwirtschaft, Forstwirtschaft, Garten- und Landschaftspflege, Heimwerkerbedarf sowie die Medizin- und Labortechnik.
Sehen wir uns doch zuerst einmal an, welche Maßnahmen die Unternehmen getroffen haben, die glimpflich durch die Coronakrise kamen: Auffallend ist zunächst ein intaktes Management mit transparenten Kommunikationsstrukturen. Offene Kommunikation bedeutet auch, den Mitarbeiter als Menschen zu respektieren und als treibende Kraft des Unternehmenserfolgs in den Mittelpunkt zu stellen. Nach meiner Erfahrung ist das grundsätzlich ein großer Erfolgsfaktor, insbesondere wenn Unternehmen vor großen Umbrüchen und schwierigen Situationen stehen. Ein weiteres Merkmal ist die Definition der Geschäftsbeziehung zu den Kunden. Damit meine ich, den Kunden nicht länger als unantastbare und vom eigenen Vertrieb protegierte „heilige Kuh“ zu leben, sondern wie von der Finanzbuchhaltung nüchtern vorgegeben: als Debitor.
Alles selbstverständlich? Leider weit gefehlt!
Unternehmen, die diesen Paradigmenwechsel vollzogen haben, tun sich viel leichter damit, nicht jedes Projekt mit einer Wette auf die Zukunft anzubieten, längst überfällige Zahlungen für Änderungen, Werkzeuge etc. vehementer einzufordern und im Worst Case die Preise neu zu verhandeln.
Schließlich fällt mir bei den „Siegern“ auf, dass ihr Management das Geschäft genau versteht und es stetig weiterentwickelt. Dazu gehört, ständig sich selbst im Zuge dieser kontinuierlichen Verbesserung zu hinterfragen, Sachverhalte zu analysieren, Situationen zu evaluieren. Alles selbstverständlich, möchte man meinen. Leider weit gefehlt!
Drohende Zahlungsunfähigkeit frühzeitig erkennen
Wie betrachtet nun eigentlich der CFO die aktuelle Situation? Was wird er wohl machen, wenn die Coronakrise überstanden scheint und nun der nächste Einschlag droht? Wie kann der Finanzchef und sein Team zusammen mit dem übrigen Management proaktiv die finanzwirtschaftliche Performance krisenresistent gestalten, insbesondere um eine finanzielle Schieflage in Krisensituationen zu verhindern? Und wie kann den Unternehmen eine Sanierung durch die Banken und im Endstadium eine Agonie in Form einer Kapitaldienstunfähigkeit erspart bleiben?
Aus Haftungsgründen und um einer Krisensituation proaktiv zu begegnen, sind zwei Maßnahmen unerlässlich: die permanente Insolvenzprüfung und insbesondere der permanente Blick auf die Liquidität mit dem sogenannten rollierenden 13-Wochen-Plan. Laufend alle bilanziellen Kennziffern im Blick zu behalten und bei negativen Entwicklungen alle Warnzeichen als solche früh zu erkennen ist das A und O für das Risikomanagement aller Finanzabteilungen.
Die rollierende und detaillierte Liquiditätsplanung über einen Zeitraum von 13 Wochen ist ein gängiges Instrument, um eine drohende Zahlungsunfähigkeit frühzeitig zu erkennen. Firmen bekommen damit „ausreichend“ Reaktionszeit, wenn tatsächlich eine akute Unterdeckung droht. Nach Artikel 15 der deutschen Insolvenzordnung (InsO) sind Unternehmen zu einem Insolvenzantrag verpflichtet, wenn innerhalb von drei Wochen eine Zahlungsunfähigkeit zu erwarten ist. Auch pandemiebedingt überschuldete Unternehmen sind seit dem 31. Mai 2021 wieder zu einem solchen Schritt verpflichtet.
Wie Sie Zombie-Unternehmen erkennen können, erfahren Sie hier:
Warum der Deckungsgrad wichtig ist
Dazu muss es auf keinen Fall kommen, wenn die Zukunft des Unternehmens und damit Arbeitsplätze gesichert werden soll. Ausgangspunkt der Liquiditätsplanung ist, die verfügbaren liquiden Mittel den kurzfristigen Verbindlichkeiten gegenüberzustellen. Unter dem Finanzstatus werden fällige Verbindlichkeiten, Kontostände, Kassenbestände und verfügbare Kontokorrentlinien erfasst. Ergibt sich daraus ein positiver Finanzstatus, droht keine akute Insolvenz.
Um als nächsten Schritt die ständige Zahlungsbereitschaft zu ermitteln, muss der Deckungsgrad herangezogen werden. Der Deckungsgrad informiert über das Verhältnis der verfügbaren Liquidität zu den kurzfristigen Verbindlichkeiten und sollte stets über 100 Prozent liegen. Bei einem Deckungsgrad unter 100 Prozent droht Zahlungsunfähigkeit. Darüber hinaus müssen Firmen die ständigen Veränderungen in der Liquidität berechnen. Grundlage dafür ist der Netto Cash Flow aus den über einen Zeitraum von 13 Wochen anstehenden Ein- und Auszahlungen.
Eine solche rollierende wöchentliche Aktualisierung ermöglicht den zeitnahen Abgleich des Ist-Zustands mit der geplanten Liquidität – und bietet damit die Basis für Anpassungen in der Finanzplanung. Droht eine Unterdeckung, müssen die CFOs Working-Capital-Maßnahmen ergreifen und unter Umständen externe Finanzierungen über Banken oder Kapitalgeber in die Wege leiten.
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Handwerkszeug für proaktive Krisenprävention
Natürlich gibt es keinen Masterplan für das Bewältigen von finanziellen Schieflagen, denn jede Situation ist für sich zu analysieren. Für meinen geschätzten Excelliance-Kollegen Norbert Korn, Bilanzexperte und Bankenmanager mit langer internationaler Erfahrung, haben sich folgende proaktive Maßnahmen als Kompass für die CFOs bewährt, um die Finanzen langfristig auf ein stabiles Fundament zu stellen:
- Fundierte Erstellung und regelmäßige Aktualisierung einer rollierenden - auf 24 Monate angelegten - Liquiditätsplanung.
- Einrichtung eines effizienten Working-Capital-Managements mit dem Ziel, die Kapitalbindung abzubauen.
- Optimierung der Fristenkongruenz über die mittel- und langfristige Finanzierung des Bodensatzes im Umlaufvermögen, um die außerhalb der Corona-Hilfskredite bestehenden Refinanzierungsrisiken zu reduzieren.
- Optimierung der Kapitalstruktur über den richtigen Mix zwischen vor- und nachrangigem Fremdkapital sowie der Stärkung der Eigenkapitalbasis, damit sich nicht zu viel „mit Lizenz zum Töten“ ausgestattetes Fremdkapital in der Bilanz anhäuft.
- Frühzeitig Bankengespräche führen, um sicherzustellen, dass die Fremdkapitalgeber bereit und willens sind, alle fälligen, aber nicht durch operative Cashflows abgedeckte Tilgungsverpflichtungen umzufinanzieren.
Meines Erachtens ist es dabei entscheidend, auch dabei über den Tellerrand hinaus zu schauen: Denn Banken befinden sich teilweise selbst in Schieflage und gehen nicht mehr jeden Weg mit. Wir befinden uns in einer extrem angespannten Situation, der Markt sortiert sich neu. Das sollte auch bei den Überlegungen zur Refinanzierung berücksichtigt werden.
Ich kann es gar nicht häufig genug betonen: Die Expertise eines Finanzvorstands mit seinem Team zeigt sich darin, dass Krisensignale realistisch und zeitnah interpretiert werden. Dazu gehört, die Informations- und Datenlage für alle Beteiligten transparent aufzuarbeiten und immer auf dem aktuellsten Stand zu halten. Das Einbeziehen von externen Spezialisten erweitern häufig den Blickwinkel, um die reelle Lage besser einzuschätzen. Letztendlich zeichnet einen kompetenten Finanzchef aus, dass er frühzeitig aus dem zur Verfügung stehenden Zahlenwerk eine Gefahrenlage rechtzeitig erkennt und daraus den richtigen Kurs für stürmische Zeiten bestimmt.
Über den Autor
Der Autor Rüdiger Tibbe ist einer der international gefragtesten Chief Restructuring Officer unserer Zeit, der ausschließlich auf der Grundlage persönlicher Empfehlungen aus seinem beruflichen Netzwerk tätig wird. Seine Gedanken zu einem ganzheitlichen und menschenzentrierten Turnaround-Ansatz sollte jeder Manager kennen, der sich in einer verworrenen Zeit intern an einer Debatte über den richtigen Kurs seines Unternehmens beteiligen möchte.
Rüdiger Tibbe kommt aus einem Familienunternehmen der Automobilindustrie und bringt darüber hinaus eine große Erfahrung auf oberer Führungsebene großer börsennotierter Konzerne, insbesondere in der produzierenden Industrie, mit. Er ist Senior Partner und Managing Director der Excelliance Management Partners GmbH in Grünwald bei München und ein international gefragter Chief Restructuring Officer. Seit 2001 und weit über 100 Projekten hat sich die sog. Excelliance Industry Taskforce über die Jahre in den Bereichen Transformation und Turnaround Management mit ihren hoch spezialisierten, international tätigen (Restrukturierungs-)Experten zu einer verlässlichen Größe entwickelt.