Digitalisierung der Automobilproduktion in einer Werkshalle mit Autos am Band und Roboterarmen

Die AR-Anwendung schafft einen bidirektionalen Brückenschlag von digitalen Modellen zur analogen Welt und wieder zurück. So soll ein lückenloses, exaktes virtuelles Abbild des gesamten Produktionsprozesses entstehen. (Bild: stock.adobe.com/Fauzia)

Der Druck in der deutschen Automobilindustrie steigt. Sie muss den Wandel zur Elektromobilität meistern und immer höhere Kundenerwartungen erfüllen. Denn Verbraucher erwarten heute ein individuelles Fahrerlebnis – bei möglichst geringen Kosten und schnellen Lieferzeiten. Der globale Wettbewerb schläft nicht. Laut Statistischem Bundesamt hat China den Export von E-Autos nach Deutschland im ersten Quartal 2023 mehr als verdreifacht. Umgekehrt brachen die Absatzzahlen deutscher Hersteller auf dem chinesischen Markt ein. Erstmals verdrängte dort der heimische Anbieter BYD den VW-Konzern vom Spitzenplatz. Droht das auch bald bei uns?

Portraitfoto von Dr. Peter Keitler, Geschäftsführer von EXTEND3D
Autor: Dr. Peter Keitler, Geschäftsführer von EXTEND3D (Bild: Tom Trenkle Fotografie)

Um Kunden zu gewinnen und langfristig zu halten, müssen die deutschen Autobauer noch mehr Gas geben und sich mit ihren Produkten und Dienstleistungen von der Konkurrenz abheben. All das wirkt sich unmittelbar auf die Produktion aus, die in immer kürzerer Zeit eine hohe Variantenvielfalt fertigen muss. Neben der Antriebstechnik können Kunden zwischen vielen optionalen Ausstattungsmerkmalen wählen, angefangen beim Dachdesign, über verschiedene Assistenzsystemen bis hin zur Innenausstattung. Gleichzeitig werden Produktlebenszyklen immer kürzer. Zunehmend setzen Hersteller auf modulare Plattformen, auf denen verschiedene Fahrzeugmodelle basieren. Dass auch die Automobilbranche unter Fachkräftemangel leidet, macht die Lage nicht gerade einfacher. Ohne konsequente Digitalisierung und hochadaptive Prozesse in der Produktion lassen sich diese Herausforderungen nicht mehr meistern.

Manuelle Arbeiten bremsen die Smart Factory aus

Zwar ist die Automobilbranche im Industrie-4.0-Bereich Vorreiter, so eine Studie des Beratungsunternehmens Roland Berger. Trotzdem gibt es aber noch viele Digitalisierungslücken. Denn etliche Prozesse in Karosseriebau, Lackiererei und Montage, aber auch im Prototypenbau erfordern manuelle Nacharbeit in der Qualitätssicherung. Auch diese werden durch die zunehmende Variantenvielfalt immer komplexer und sind kostenintensiv. Für zusätzlichen Aufwand sorgt der Trend zur Gewichtsreduzierung von Karosserien. Denn statt Stahlbleche zu verschweißen, müssen Werker jetzt Teile aus verschiedenen Materialien wie Stahl, Aluminium und Carbon miteinander verbinden. Dabei kommen neben herkömmlichem Schweißen auch Verfahren wie Clinchen, MAG-Schweißen oder Kleben zum Einsatz. Das erhöht die Komplexität in Produktion und Qualitätssicherung.

100 Prozent digitale Prozesskette

Automobilhersteller suchen derzeit verstärkt nach Möglichkeiten, solche manuellen Tätigkeiten digital zu unterstützen, sodass sie sich nahtlos in die automatisierten Workflows einfügen. Genau das ermöglicht Augmented Reality mit dynamischer Laser- und Videoprojektion. Eine solche Lösung erhält ihre Daten direkt aus den angeschlossenen Systemen und visualisiert komplexe 3D-Informationen lagerichtig und präzise auf dem Werkstück. Anhand der Projektion sehen Werker genau, wo und wie sie ein Bauteil anbringen müssen.

Zudem bieten AR-Lösungen weiterführende Funktionalitäten, die über eine reine Visualisierung hinausgehen. Mit Werkzeugtracking oder interaktiver Bauteilerkennung lassen sich Vollständigkeit und Korrektheit jedes Arbeitsschrittes durchgängig digital dokumentieren. Über eine 2D/3D-Bildverarbeitung fließen Daten aus dem manuellen Prozessbaustein wieder zurück ins digitale Modell und können dort weiterverarbeitet werden. Auf diese Weise gelingt es, eine zu 100 Prozent digitale Prozesskette auch unter Einbeziehung händischer Arbeitsschritte abzubilden.

Der bidirektionale Brückenschlag zum digitalen Zwilling

Die AR-Anwendung schafft einen bidirektionalen Brückenschlag von digitalen Modellen zur analogen Welt und wieder zurück. So entsteht ein lückenloses, exaktes virtuelles Abbild des gesamten Produktionsprozesses. Autobauern eröffnet das wiederum neue, nachgelagerte Möglichkeiten. Sie können die Daten aus dem manuellen Prozessschritt jetzt mit anderen Produktions- und Umgebungsdaten korrelieren und analysieren oder auch Simulationen im digitalen Zwilling durchführen. So wird es zum Beispiel möglich, Fehlerursachen aufzudecken, die sonst nicht erkennbar wären – etwa weil Probleme nur auftreten, wenn bestimmte Faktoren zusammentreffen. Anhand der Datenanalysen können Hersteller Optimierungspotenziale identifizieren und an den richtigen Stellschrauben drehen.

Herausforderungen in der Produktion lösen

Indem Autobauer manuelle Arbeiten mit AR-Projektion digital optimieren und nahtlos in die digitale Prozesskette einbinden, können sie sowohl die Effizienz als auch die Qualität steigern. Denn durch die AR-Unterstützung werden Werker nicht nur schneller, sondern machen auch weniger Fehler. Sie freuen sich über die Arbeitserleichterung und werden entlastet. Das hilft Autobauern dabei, den Fachkräftemangel besser zu bewältigen. Da digitale Schablonen zudem viel flexibler und preiswerter sind als herkömmliche, sparen Unternehmen Kosten. Sie müssen keine physikalischen Schablonen mehr anfertigen und lagern. Verschiedene Varianten lassen sich schnell digital ins System laden und sind innerhalb von wenigen Minuten einsatzbereit. Das ermöglicht es, die Produktionslinien flexibel anzupassen und auch Sonderanfertigungen sowie kleine Stückzahlen kosteneffizient herzustellen. Gerade im Sonderfahrzeugbau und bei Kleinserien mit vielen Varianten rechnet sich der Einsatz von Robotern oft nicht, da die Anschaffung teuer und der Teaching-Aufwand hoch ist. Die dynamische Laser- und Videoprojektion amortisiert sich dagegen weitaus schneller.

Die dynamische Laser- und Videoprojektion in der Praxis

Wie die AR-Projektion Werker in der Praxis unterstützt, lässt sich am besten an einigen Beispielen veranschaulichen.

  • Montage eines Kabelbaums am Dachhimmel

Ein Werker muss einen vorkonfektionierten Kabelbaum am Dachhimmel befestigen. Die exakte Position variiert je nach Dachausführung und Fahrzeugmodell. Da der Monteur innerhalb kurzer Taktzeit viele verschiedene Dachhimmel-Varianten fertigt, muss er genau wissen, welches Modell er gerade vor sich hat. Dabei unterstützt ihn die dynamische Videoprojektion: Sie erfasst die vor ihm liegende Variante des Dachhimmels und visualisiert die jeweils passende Montagestelle auf dem Werkstück, sodass der Werker sofort loslegen und den Kabelbaum korrekt anbringen kann.

Verpixelte Werker bei der Kabelbaummontage
Bei steigender Variantenvielfalt nimmt das Fehlerpotenzial bei der Kabelbaummontage zu. (Bild: EXTEND3D)
  • Positionierung von Anbauteilen auf einer Schweißgruppe

Im Rahmen einer Vormontage müssen Werker Anbauteile korrekt auf dem Blech am Schweißtisch positionieren und heften. Die dynamische Videoprojektion unterstützt ihn dabei, indem sie die zu bearbeitenden Stellen blau markiert. Sobald der Werker ein Bauteil richtig platziert hat, wechselt die Projektion auf Grün. Ist das Bauteil an der falschen Stelle, verfärbt sie sich dagegen rot. Die Farbcodes lassen sich vorab definieren. So erhält der Werker eine intuitive, visualisierte Anleitung und kann selbst eine hohe Variantenvielfalt spielend leicht handhaben. Außerdem erkennt und dokumentiert das System, ob er seine Arbeit korrekt und vollständig ausgeführt hat.

Dynamische Videoprojektion mit integrierter Bauteilprüfung

  • Präzises Anreißen von Schweißpunkten

Ein Werker muss Schweißpunkte auf Blechteilen anreißen. Früher musste er die exakte Position erst aufwendig ausmessen oder eine Schablone anlegen. Die dynamische Laserprojektion macht das obsolet. Sie erkennt bei Bedarf dynamisch, wie das Bauteil auf dem Schweißtisch liegt, und zeigt automatisch die exakte Position der Schweißpunkte lagerichtig an. Das funktioniert selbst dann, wenn das Werkstück bewegt wird oder sich an unterschiedlichen Stellen auf dem Tisch befindet.

 

Markerlose, dynamische Laserprojektion zum präzisen Anreißen von Schweißpunkten

  • Workflow-Awareness bei der Verschraubung einer Batteriezelle

Bei der Montage einer Batteriezelle ist es besonders wichtig, dass der Werker die richtige Reihenfolge der Arbeitsschritte und die vorgegebenen Drehmomente einhält. Ein Laserprojektor zeigt die exakte Position der Verschraubung an, während das Werkzeugtracking-System die Bewegungen des Werkzeugs verfolgt. Hat der Werker die Aufgabe korrekt ausgeführt, verschwindet oder verändert sich die Projektion. So wird der Monteur intuitiv durch den Workflow geführt und jeder Arbeitsschritt wird digital dokumentiert.

Dynamische Laserprojektion mit integriertem Tooltracking

Wie Audi mit der dynamischen Laserprojektion Bolzen anreißt

Audi setzt bereits seit vielen Jahren dynamische Laserprojektion ein und konnte so die Effizienz beim Bolzenanreißen im Prototypenbau um 75 Prozent steigern. Zuvor war diese Arbeit aufwendig, zwei Werker benötigten zwei Tage dafür: Sie mussten jeden Punkt an einer stationären Ständermessmaschine einstellen und markieren. Um Bolzen auf der Fahrzeugunterseite anzureißen, arbeiteten sie häufig in gebückter, unergonomischer Haltung. Heute wird der Unterbau auf einem Drehgrill aufgespannt und von einem dynamischen Laserprojektor markiert, der die Anreißpunkte anzeigt. Die Werker müssen nichts mehr ausmessen und können bequem im Stehen arbeiten. Nun kann eine Person den Vorgang an einem Tag durchführen.

AR- und KI-gestützte Qualitätssicherung bei BMW

Hand eines Werkers beim Polieren mithilfe der Laserprojektion
Die Laserprojektion zeigt dem Werker exakt an, wo poliert werden muss. (Bild: EXTEND3D)

Um sicherzustellen, dass die Fahrzeuglackierung keine Staubeinschlüsse oder Krater aufweist, kombiniert BMW ein KI-gestütztes Bilderkennungssystem mit dynamischer Laserprojektion. Zunächst wird die lackierte Oberfläche mithilfe von Sensoren und Kameras automatisiert analysiert. Die Bilderkennung identifiziert, wo sich Schadstellen befinden. Sie übergibt ihre Daten an einen Anlagen-PC, der die AR-Lösung in der Finish-Kabine steuert. Jetzt zeigt die Projektion ein grünes Dreieck, wo der Werker schleifen muss. Auch wenn sich die Karosserie am Band bzw. auf dem Hubtisch bewegt, folgt ihr die Visualisierung. Sobald der Arbeitsschritt abgeschlossen ist, wird das Dreieck zum Kreis. Der Werker weiß jetzt, dass er hier noch polieren muss. Wenn alles korrekt erledigt ist, verschwindet die Anzeige. Möglich wird diese Workflow-Awareness durch das integrierte Werkzeugtracking: Das System erkennt automatisch, welches Werkzeug gerade im Einsatz ist und wie lange es auf einer Position verweilt. Außerdem dokumentiert es Prozessparameter wie den Anpressdruck beim Schleifen und Polieren. All diese Daten fließen zurück ins digitale Modell, sodass der Autobauer sie analysieren kann.

Automatisierte Oberflächenmarkierung

Hardware, Software und Schnittstellen

Ein AR-Projektionssystem besteht aus mindestens einem industrietauglichen Laser- oder Videoprojektor, einer oder mehreren Kameras und einer intelligenten Software, die das Ganze steuert. Über Schnittstellen lassen sich Datenquellen und Leittechnik anbinden. Wichtig ist, dass die AR-Lösung alle gängigen CAD-Formate unterstützt. In der höchsten Ausbaustufe werden die Projektionsinhalte gar on-the-fly auf Basis der individuellen Stückliste aus dem ERP-System und den zugehörigen CAD-Daten einfach generiert. Eine generische Austauschschnittstelle für CSV-Daten ermöglicht es zudem, kundenspezifische Daten einzulesen.

Fertigungsprozesse lassen sich mit AR-Projektion sowohl bei kurzen als auch bei längeren Taktzeiten effizienter gestalten. Bei längerer Taktung kann mobile AR-Technologie auf Stativen verwendet werden, während sie bei kürzerer meist fest installiert ist und eine präzise Interaktion mit beweglichen Bauteilen ermöglicht.

Die Inline-Integration eignet sich insbesondere für die Anwendung in Fließbandapplikationen. Ein Caravan-Hersteller nutzt eine solche Lösung zum Beispiel für die Fertigung großer Sandwich-Panele. Über dem Band hat er pro Beleimungstisch zwei Projektoren installiert. Wenn die Fördertechnik ein Bauteil anliefert, werden automatisch die richtigen CAD-Daten abgerufen und auf das Werkstück projiziert. Der Werker sieht sofort, was zu tun ist, und muss sich keine Gedanken darüber machen, um welches Design es sich handelt. Auch neue Varianten kann der Caravan-Hersteller so sehr schnell am Band produzieren.

 

Werkshalle mit Caravans und Arbeitern
Mit AR ist ein Caravan-Hersteller in der Lage, neue Varianten sofort am Band zu produzieren. (Bild: LMC Caravan)

Eine mobile AR-Projektionslösung ist dagegen für Anwendungsfälle ideal, bei denen sich Bauteile während der Montage nur schwer bewegen lassen oder diese punktuell außerhalb des Fertigungsbands bearbeitet werden. Ein Fahrzeughersteller setzt eine mobile Lösung im Zusammenspiel mit der Bandproduktion ein: Für Modelle mit E-Antrieb schleust er die Teile, die elektrisch betrieben werden sollen, vom Band aus. Diese werden mit einem fahrerlosen Transportsystem (FTS) zur Montageinsel gebracht. Dort arbeitet der Werker AR-unterstützt. Anschließend fährt das FTS das Werkstück wieder zurück zum Band.

Um festzustellen, welche Installation sich für einen Anwendungsfall am besten eignet, analysieren Experten die Umgebung und Anforderungen eingängig.

Ausblick: AR im Zusammenspiel mit KI

AR-Technologie wie die dynamische Laser- und Videoprojektion bietet gerade für die Automobilindustrie großes Potenzial. Sie ermöglicht es, manuelle Arbeiten nahtlos in die digitale Prozesskette zu integrieren, Produktionslinien zu flexibilisieren und die wachsende Variantenvielfalt effizient zu meistern. Dank digitalem Werkzeugtracking oder dynamischer Bauteilerkennung gelangen Daten aus der analogen Welt wieder ins digitale Modell zurück und stehen für nachgelagerte Analysen bereit. Sie können dann zum Beispiel auch in KI-Anwendungen einfließen.

Laut einer Studie von Rockwell Automation planen 31 Prozent der Automobilhersteller, in Technologien wie künstliche Intelligenz oder maschinelles Lernen zu investieren oder haben dies bereits getan. Erste Projekte – wie am Beispiel BMW aufgezeigt – gibt es schon. Im Zusammenspiel aus KI und AR-Technologie ergeben sich vielfältige neue Möglichkeiten, um Prozesse weiter zu optimieren.

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