Die späten 1990er Jahren markierten den Durchbruch für dezentrale Steuerungen. So ersetzte die Automobilindustrie zentral gesteuerte Transferlinien durch flexible Zellen aus Bearbeitungszentren mit eigener Steuerung. Dieser Wechsel erhöhte die Flexibilität für Bauteilefamilien und kleinere Losgrößen.
Auch in anderen Branchen setzte sich die dezentrale Intelligenz durch. Steuerungshersteller entwickelten Standard-Hardware-Lösungen mit eng darauf abgestimmten Grundfunktionalitäten und proprietären SPS-Programmierungsumgebungen. Maschinenhersteller können damit effizient ihr Know-how umsetzen. Diese Operation Technology (OT) hatte bis vor Kurzem nur wenige Berührungspunkte mit der Information Technology (IT) Damit war jede Maschine eine Insel, Vernetzung oder Updates sind erst seit wenigen Jahren vorgesehen.
Audi: Lokale Server steuern 36 Takte
Mit Industrie 4.0 und der Verlagerung von immer IT-Funktionen in die Cloud gerät dieses Modell aber unter Druck. Nun ist es wieder die Automobilindustrie, die einen neuen Weg einschlägt. Nach erfolgreichem Test im Production Lab von Audi steuern am Standort Neckarsulm, in den Böllinger Höfen, lokale Server die 36 Takte umfassende Werkerführung bei der Kleinserienfertigung der Modelle Audi e-tron GTquattro und R8. Drei lokale Server bilden die Edge Cloud 4. Sie ersetzt die bisherigen IPC und Bediengeräte an den Maschinen und Anlagen. Die Steuerungssoftware ist komplett auf den Servern abgelegt.
Power-over-Ethernet-fähige Thin Clients
An den Takten der Montagelinie stehen Power-over-Ethernet-fähige Thin Clients. Diese Endgeräte beziehen ihre Rechenleistung größtenteils über die lokalen Server. Die Serverlösung nivelliert Auslastungsspitzen an einzelnen Takten und spart Ressourcen vor allem bei Software-Rollouts, Betriebssystemwechseln und IT-relevanten Aufwänden. Erwartet wird eine Kostenreduktion um rund ein Drittel bei einem Update des Betriebssystems, etwa von Windows 10 auf Windows 11. Darüber hinaus ist die Aktualisierung nicht mehr abhängig von freien Zeitfenstern in der Produktion. Bewährt sich der Ansatz, dann will Audi die Edge Cloud 4 auf die Serienfertigung im Konzern ausrollen.
Viele Industrieunternehmen setzen die Edge-Cloud-Technologie in ihren Werken ein, um ihre Produktionsprozesse zu optimieren und die Effizienz zu steigern. Einige prominente Unternehmen, die Edge-Cloud-Lösungen in ihren Werken nutzen, sind:
Alle Betriebsparameter und Sensorwerte für Condition Monitoring
Für Pierre Kehl, Leiter Forschungsgruppe Digitale Infrastrukturen am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT in Aachen, ist die Verlagerung von Maschinenfunktionen in die Cloud eine logische Entwicklung.
"Eine solche Edge Cloud bietet den Unternehmen viele Vorteile. Damit lassen sich zum Beispiel ganze Maschinenparks sicher und schnell über eine zentrale Software steuern. Benötigen die Maschinen Updates oder neue Software-Versionen, können diese einfach zentral aufgespielt werden." Das spart Zeit, denn bislang ist es notwendig, dass Techniker für jede einzelne Steuerung direkt an die Maschine müssen.
Eine solche Edge Cloud bietet den Unternehmen viele Vorteile. Damit lassen sich zum Beispiel ganze Maschinenparks sicher und schnell über eine zentrale Software steuern. Benötigen die Maschinen Updates oder neue Software-Versionen, können diese einfach zentral aufgespielt werden.
Auch sei es möglich, dass die Maschinen ihre aktuellen Betriebsparameter und Sensorwerte an die Edge Cloud senden. Dazu forschen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Aachen an dem Zusammenspiel von Edge Cloud und 5G-Netz zur drahtlosen Anbindung aller Maschinen. In dem Forschungsprojekt TARGET-X wird derzeit unter anderem eine intelligente Analyse-Software entwickelt, die auffällige Vibrationen erkennt, welche Hinweise auf einen entstehenden Schaden liefern können.
„Für dieses Condition Monitoring haben wir den gesamten Prozess im Blick: Bauteil, Werkzeug, Maschine“, so Pierre Kehl. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Verbesserung der Energieeffizienz. Derzeit kommen Maschinenhersteller verstärkt auf die Forschungsgruppe zu, um per Edge Cloud die Energieverbräuche und damit CO2-Emissionen von Prozessen per Cloud zu erfassen und zu optimieren.
Auf allen Ebenen können die gleichen Apps und Engineeringtools verwendet werden. Für Maschinenhersteller bietet der Lösungsansatz ein hohes Maß an Flexibilität.
Steuerungssoftware bereit für Edge Cloud
Auch auf Seiten der Steuerungshersteller zeigt der Trend Richtung Edge Cloud. „Das Betriebssystem ctrlX OS von Bosch Rexroth ist hardwareunabhängig und kann eine virtuelle Steuerung auf verschiedensten Hardwareplattformen betreiben“, hebt Benjamin Nerger, Leiter Produktmanagement Steuerungen, Business Unit Automation & Electrification Solutions bei der Bosch Rexroth AG, hervor. „Für Applikationen, die mit Zykluszeiten im oberen Millisekunden-Bereich arbeiten, ist eine virtuelle Steuerung, die in weit entfernten Strukturen verwaltet wird, durchaus ausreichend.“
Auch der Automatisierungsspezialist Lenze setzt auf die Edge-Cloud. Andreas Werner, Produktmanager Controls bei Lenze: „Wir denken über die reine Hardware hinaus, denn es zeichnet sich der Trend ab, nicht echtzeit-relevante Funktionen und Apps von der klassischen Steuerung auf die nächste Ebene zu verlagern. Wichtig ist dabei, die Schnittstelle zwischen den verschiedenen Layern zu definieren. Hier kommt beispielsweise OPC UA zum Einsatz“.
Für Applikationen, die mit Zykluszeiten im oberen Millisekunden-Bereich arbeiten, ist eine virtuelle Steuerung, die in weit entfernten Strukturen verwaltet wird, durchaus ausreichend.
Verlagerung der Prozesse von der SPS in die Edge Cloud
In einem ersten Schritt sieht Andreas Werner die Verlagerung der logischen Prozesse aus einer klassischen SPS auf das Edge Layer. Die spezialisierte, hochpräzise und deterministische Ansteuerung von Bewegungsabläufen (Motion) bleibt jedoch seiner Meinung nach weiterhin auf der klassischen Steuerung. Auch die Anforderungen an die Maschinensicherheit werden in den nächsten Jahren noch maschinennah gelöst werden.
Einer der wesentlichen Vorteile von Edge Computing ist die Reduzierung der Hardware-Abhängigkeit von einzelnen Steuerungsherstellern. Statt vieler unterschiedlicher Industrie-PCs und SPS-Steuerungen reicht ein lokaler Serververbund. Das wiederum führt zu einer besseren Skalierbarkeit. „Auf allen Ebenen können die gleichen Apps und Engineeringtools verwendet werden. Für Maschinenhersteller bietet der Lösungsansatz ein hohes Maß an Flexibilität,“ betont Benjamin Nerger.
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Cyber Security auch für Legacy Maschinen
Mehr als 80 Prozent der installierten Maschinen in der deutschen Industrie sind zehn Jahre oder älter. Sowohl die Steuerungshardware als auch die Software sind oft auf einem veralteten Stand. Auch hier verspricht die Verlagerung der Steuerung in die Cloud wirtschaftliche Vorteile. Anstatt neue Steuerungshardware zu installieren, wird die Steuerung als Soft-SPS virtualisiert. So können „neue rechenintensive Funktionen an Maschinen nachgerüstet werden – beispielsweise Vision, Datenspeicherung, skalierbare Rechenleistung, maschinelles Lernen oder Digital Twin“, bekräftigt Benjamin Nerger.
Aktuelle Meldungen aus der Industrie
Energiekrise, Lieferengpässe, Fachkräftemangel: Die Industrie steht vor vielen Herausforderungen. Alle Meldungen aus Maschinenbau und Co finden Sie in unserem News-Blog. Hier klicken!
Edge Cloud bringt Vorteile bei der Cyber Security
Ein weiterer Aspekt ist der Schutz vor Cyber-Angriffen. Dieses Thema wird im Jahresverlauf 2024 enorm an Bedeutung gewinnen: „Bis zum Oktober 2024 muss in Deutschland die europäische NIS-2-Richtlinie umgesetzt werden. Darauf sind zahlreiche Maschinenhersteller und Betreiber noch nicht vorbereitet“, befürchtet Pierre Kehl. Diese EU-Richtlinie zur Cyber-Security betrifft dann Industrieunternehmen ab 50 Mitarbeitenden oder mindestens zehn Millionen Euro Umsatz.
Während Hersteller wie Bosch Rexroth und Lenze darauf hinweisen, dass sowohl die Hard- als auch die Software ihrer aktuellen Steuerungssysteme und Plattformen auf dem neuesten Stand der Cyber-Security sind, gilt das nicht für Legacy-Maschinen, die teilweise längst nicht mehr unterstützte Betriebssysteme nutzen und dennoch mit MES-Systemen vernetzt sind. Bei der anstehenden Ertüchtigung der der Cyber-Security können Edge Clouds mit lokalen Servern die Kosten und den Zeitaufwand deutlich reduzieren.
Schnellere Updates und Produktionsumstellungen, deutlich verbessertes Condition Monitoring und Richtlinien-konforme Cyber-Security: Es scheint, dass die Steuerung in der Edge Cloud eine neue Heimat gefunden hat.
überarbeitet von: Dietmar Poll
Was ist Edge Cloud?
Edge Cloud bezieht sich auf eine Form der Datenverarbeitung, bei der die Verarbeitung, Speicherung und Analyse von Daten nahe an der Datenquelle, anstatt in entfernten Rechenzentren, stattfindet. Dies ermöglicht geringere Latenzzeiten, erhöhte Ausfallsicherheit, höhere Bandbreite und geringere Kosten. Unternehmen nutzen Edge Cloud, um die Effizienz von Anlagen, intelligente Verkehrssysteme, Virtual-Reality-Anwendungen und das Internet der Dinge (IoT) zu unterstützen. Im Wesentlichen verschiebt Edge Cloud die Rechenleistung näher an den Ort, an dem sie benötigt wird, und ermöglicht so eine schnellere und effizientere Datenverarbeitung.
Im Gegensatz zur herkömmlichen Cloud-Computing-Architektur, bei der Daten in zentralisierten Rechenzentren verarbeitet werden, ermöglicht Edge Cloud die Verarbeitung von Daten auf Edge-Geräten wie Mobiltelefonen, Laptops und IoT-Geräten. Dies reduziert die Notwendigkeit, große Datenmengen an entfernte Standorte zu übertragen und bietet Vorteile wie geringere Latenzzeiten und erhöhte Ausfallsicherheit.
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