Berechenbare Prozesse sind eine Grundvoraussetzung, wenn die mit dem Schlagwort Industrie 4.0 verbundenen Visionen Wirklichkeit werden sollen. Gibt es Unbekannte, so gerät die Digitalisierung der Prozesse in Gefahr. Und so eine Unbekannte ist die Standzeit der Präzisionswerkzeuge in der spanenden Fertigung. Je nach Komplexität des Prozesses gibt es zwei Möglichkeiten, diese zu ermitteln: „Wir setzen auf Erfahrungswerte, die für eine robuste und zuverlässige Anwendung in der Masse aufwändig ermittelt werden“, berichtet Niklas Kramer, Produktmanager beim Präzisionswerkzeughersteller Sandvik Coromant. Dies ist die gängige Methode in der Serienfertigung relativ einfacher Bauteile.
Für komplexe und schwer zu zerspanende Bauteile gibt es dagegen eine andere Strategie: „Die Standzeit wird direkt vor Ort beim Kunden anhand des Originalbauteils und direkt auf der Maschine jeweils individuell ermittelt“, erklärt Christian Gauggel, Projektingenieur bei Gühring. Der Sicherheitsfaktor variiert sehr stark von Kunde zu Kunde. Nur selten werden die Werkzeuge also bis an ihre Verschleißgrenze gefahren und letztlich bleibt mit Blick auf die Standzeit immer eine gewisse Unbekannte.
„Es ist unser Ziel, den Anwendern generell sichere und produktive Einsatzwerte mitzugeben. Aber wir kennen nicht sämtliche lokalen Gegebenheiten. Wir wissen, dass Materialspezifikation und –charge, Kühlschmierstoff und Maschinen einen erheblichen Einfluss haben. In der Praxis könnte aus einem Werkzeug mit Blick auf die Standzeit also deutlich mehr möglich sein“, so Niklas Kramer.
Die Hersteller stecken bei der Standzeitangabe in einer Zwickmühle
Die Hersteller der Präzisionswerkzeuge stecken mit Blick auf die Standzeit also in einer Zwickmühle: Geben sie die Standzeiten zu niedrig an, verlieren sie an Wettbewerbsfähigkeit. Ist die Angabe für die Standzeit zu hoch, riskieren sie Schäden an Werkzeug und Werkstück beim Endkunden und damit ihren guten Ruf.
Letztlich sind Standzeitangaben also eine Art Gratwanderung. Dieses Dilemma beschreibt auch Dr. Dirk Sellmer, Entwicklungsleiter bei Mapal: „Gute Standzeiten sind immer der Vorteil des Endkunden. Schlechte Standzeiten gehen folglich zu Lasten des Lieferanten“. In der Praxis gilt es daher, bei der Standzeitangabe möglichst nahe an die tatsächliche Verschleißgrenze zu kommen und dabei doch auf der sicheren Seite zu sein.
Die Strategie von Mapal beschreibt Dr. Dirk Sellmer wie folgt: „Standzeitangaben eines Werkzeugs werden in der Planung von Prozessen und in der laufenden Serie betrachtet. Für Planungswerte werden Referenzen von vorhergehenden Projekten herangezogen. Dabei werden jedoch eher optimistische Werte verwendet, weil die angebotene Lösung sonst nicht wettbewerbsfähig ist“.
Eine gewisse Unbekannte und damit ein Restrisiko bleibt aber dennoch: Trotz Normierung besitzt der zu bearbeitende Werkstoff eine gewisse Variationsbreite, welche die Standzeit teilweise drastisch beeinflussen kann.
Auch die Walter AG betreibt einen hohen Aufwand zur Ermittlung der idealen Standzeitermittlung von Präzisionswerkzeugen: „Unsere Prognosen beruhen auf umfangreichen Versuchen in unseren Zerspanlabors sowie bei unseren Kunden“, berichtet Produktmanager Dr.-Ing. Peter Müller. Auch er räumt ein, dass es immer eine gewisse Unsicherheit gibt: „Einige Randbedingungen lassen sich nur unvollständig erfassen. Insbesondere die Stabilität von Werkstück und Aufspannung ist schwierig zu bewerten. Dazu kommen immer wieder Schwankungen in den Eigenschaften des Werkstoffs. Dementsprechend können unsere Prognosen immer nur Mittelwerte darstellen. Mit einer Schwankungsbreite von plus/minus zwanzig Prozent ist auf jeden Fall auszugehen“.
Maschinen ‚mit Gefühl‘ wären eine Lösung
Die Lösung wären Maschinen ‚mit Gefühl‘, die bei der Bearbeitung über geeignete Sensoren den tatsächlichen Werkzeugverschleiß erfassen. Bereits heute sind erste Analysen in diese Richtung über die Messung des Stromverbrauchs von Spindel und Achsantrieben möglich. Und tatsächlich: „Es ist durchaus bereits gängige Praxis, den Werkzeugverschleiß über die Bearbeitungskräfte oder die Antriebsleistung des Motors zu erfassen“, so Peter Müller.
Dies setze allerdings voraus, dass die Verschleißart am Werkzeug immer wieder dem gleichen Muster unterliege. Dies sei in der Regel nur in der Großserienfertigung gegeben. Dies bestätigt Niklas Kramer: „Wir haben mit unseren Möglichkeiten zur Prozess- und Maschinenüberwachung bereits Anwendungen realisiert, in denen Kunden adaptiv an das Standzeitende der individuellen Schneidplatte heranfahren können“, berichtet Niklas Kramer.
Bei einfachen Anwendungen in der Großserienfertigung gibt es also bereits Ansätze, die mit Blick auf Industrie 4.0 wegweisend sind. Die Großserienfertigung ist aber berechenbar. Viel interessanter wäre ein System zur Echtzeitüberwachung des Werkzeugverschleißes bei der Bearbeitung von relativ schwer zu berechnenden Materialien, wie beispielsweise CFK. Denn gerade hier liegen noch relativ wenige Erfahrungswerte vor und die Unsicherheit bei der Angabe von Standzeiten ist groß.
In Anhängigkeit von Fasergehalt, Faserorientierung, sowie Faser- und Matrixeigenschaften gibt es hier viele Einflussfaktoren. Problematisch sind auch Eisen- und Alumimiumgusswerkstoffe, weil deren Eigenschaften sehr stark vom Wärmemanagement bei der Urformung abhängen.
Die Gießtemperaturen sind zwar einigermaßen konstant, aber die unterschiedlichen Eigenschaften stellen sich beim Abkühlen ein. Ein klassisches Beispiel sind die Turboladermaterialien 1.4848, 1.4849 und 1.4837: „Hier können saisonale Einflüsse im Sommer oder Winter direkt an dem Scheidstoffverbrauch pro Bauteil abgelesen werden“, so Dr. Dirk Seller.
Die Lösung wäre bei solchen schwer zu berechenbaren Schneidprozessen also ein zuverlässiges System, das den Verschleiß tatsächlich erfassen kann. Die bereits gängige Praxis, über die Analyse der Spindel- und Achsströme auf den Werkzeugverschleiß zu schließen, ist indirekt und damit relativ ungenau. „Es gibt bereits Ansätze, die Bearbeitungskräfte direkt im Werkzeughalter zu messen. Daraus ließe sich der Werkzeugverschleiß viel genauer ableiten. Auch piezobasierte Kraftmessplattformen auf der Bauteilseite sind eine interessante Möglichkeit“, berichtet Christian Gauggel.