Kekse: Allein im Werk Barsinghausen werden 35 000 Tonnen per anno hergestellt und dann in die

Kekse: Allein im Werk Barsinghausen werden 35 000 Tonnen per anno hergestellt und dann in die ganze Welt exportiert . (Bild: Bahlsen)

von Claus Wilk

BARSINGHAUSEN. Hop oder Top – vor dieser Entscheidung stand das Bahlsen-Management, als das Werk in Barsinghausen bei Hannover zur Disposition stand. 1956 errichtet, war es allein von der Gebäudestruktur nicht mehr fähig, sich den Anforderungen eines stark gewandelten Marktes anzupassen. Konsumenten und Handel erwarten vom Produzenten nicht nur eine höhere Variantenvielfalt durch neue Produkte in dafür kleineren Losen, sondern auch sehr kurze Lieferzeiten bei zugleich steigendem Preisdruck. Ein wirtschaftliches Arbeiten war in Barsinghausen nicht mehr ohne weiteres gewährleistet, das Werk an seine technologischen und baulichen Grenzen gekommen.
Dr. Christoph Hollemann, Geschäftsführer Operations bei Bahlsen und somit verantwortlich für die Produktion, betont: „Wir mussten entsprechende unternehmerische Konsequenzen ziehen.“ In der Folge wurde dann „ein konsequenter Schritt gewagt und entschieden, auch Grundlegendes zu ändern. Wir wollten vollkommen neue Wege gehen und stellten alles in Frage – auch das Weiterbestehen des Werkes am Ort Barsinghausen.“ Gemeinsam mit dem Hannoveraner Institut für Fabrikanlagen und Logistik der Leibniz-Universität Hannover wurde ein ‚Greenfield-Projekt‘ aufgesetzt, also eine Fabrik quasi auf der ‚grünen Wiese‘ unter Idealbedingungen entwickelt (siehe auch Produktion 50/2011, Seite 29). Mit diesem ‚Greenfield‘-Ansatz erarbeitete das Projektteam aber nicht nur das optimale Layout, sondern definierte zusätzlich die neuen Zielkosten. „Im Zuge dieses Prozesses wurde auch eruiert, inwiefern sich die ‚neue Fabrik‘ auf die Gegebenheiten im Barsinghausener Werk übertragen lässt“, erinnert sich Werkleiter Karl Reichstein. „Am Ende haben wir festgestellt, dass sich rund 80 % der Anforderungen an das Greenfield-Werk in Barsinghausen übernehmen lassen.“
Nach zwei Jahren harter Konzeptarbeit wurde von der Bahlsen-Geschäftsführung entschieden, das Werk in Barsinghausen grundlegend zu modernisieren – und somit zu erhalten. Dafür sprachen die zentrale Lage des Werkes, die Nähe zum Bahlsen-Logistikzentrum in Langenhagen bei Hannover sowie das in Familienunternehmen besonders stark ausgeprägte Verantwortungsbewusstsein für die Belegschaft. Diese war bereits seit 2002 geschult in Sachen Prozessverbesserung, bei Bahlsen bvp (Bahlsen Verbesserungsprozess) genannt und hatte laut Karl Reichstein „in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass sie sich trotz nicht idealer Bedingungen sehr gut weiterentwickeln kann.“ Produktivitätssteigerungen bis zu 6% pro Jahr waren die Regel, nicht die Ausnahme. Die Modernisierung und die damit einhergehenden umfangreichen Automatisierungsprojekte zogen jedoch auch Konsequenzen für die Mitarbeiter in Form von Personalabbau am Standort nach sich.

Die größte Herausforderung des knapp drei Jahre währenden Umbaus war, dass er bei laufender Produktion umgesetzt werden musste – was sich erfreulicherweise zeit- und kostengerecht realisieren ließ. Allein 16 Kilometer Kupferdraht wurden verlegt; für die Baukolonnen wurde eigens ein unterirdischer Tunnel für die Fahrzeuge und Krane angelegt. Wie sich jetzt zeigt, ein Aufwand, der sich gelohnt hat: Das Werk arbeitet heute hochproduktiv, ‚alte Zöpfe‘ in Technik und Arbeitsorganisation wurden abgeschnitten. Das Werk fertig rund 35 000 Tonnen Kekse und Waffeln jährlich, mit insgesamt rund 70 verschiedenen Rezepturen und einer weit größeren Zahl landes- und handelsspezifischer Verpackungen.

Bahlsen Team
Das Erfolgsteam: Torsten Goschenhofer (Bvp-Coach), Dr. Uwe Bretschneider (Engineering), Karl Reichstein (Produktionsleiter), Dr. Christoph Hollemann (Geschäftsführer Operations), Frank Hoffmann (Steuerungstechnik, Bau & Infrastruktur). (Bild: Bahlsen)

Im Vordergrund des Umbaus stand der Wunsch, die ‚neue‘ Fabrik möglichst wandlungsfähig zu gestalten: Sie sollte mit allen Marktveränderungen stets Schritt halten können. Mengenvariabilität sowie der Übergang von der Push- zur Pull-Produktion und die Erfüllung von Just-in-time-Prozessen waren ebenfalls Vorgabe. Denn im Vordergrund stehen bei Bahlsen effiziente Materialflüsse bei hoher Anlagenverfügbarkeit und sehr hohem Automatisierungsgrad. 2007 – vor dem Umbau – wurde noch an vielen Stellen per Hand gepackt. „Bei deutschem Lohnniveau nicht sehr produktiv“, bemerkt Dr. Christoph Hollemann. Heute sind solche Tätigkeiten automatisiert, außer bei besonders empfindlichen Gebäcken. Der entscheidende Erfolgsfaktor liegt laut Werkleiter Reichstein allerdings im Erarbeiten von individuellen Lösungen. Ein Beispiel: „Für eine Verpackungsanlage, die mehrere hunderttausend Euro kosten sollte, haben wir in mehreren bvp-Workshops eine halbautomatische Lösung gefunden, getestet und optimiert, die für weniger als hunderttausend Euro realisiert werden konnte.“ Laut Reichstein ist diese Lösung sogar effizienter und stabiler als die ursprünglich geplante, weit teurere Anlage.
Zudem holte sich Bahlsens Lean-Experte Torsten Goschenhofer in anderen Branchen, wie beispielsweise der Automobilindustrie und dem Maschinenbau, Know-how und prüfte, was sich davon auf die prozessorientierte Keksherstellung übertragen ließ: „So ist der Einsatz von Creform-Bausätzen in weiten Teilen der Nahrungsmittelindustrie und der Prozessindustrie kein Thema. Uns aber hat die Nutzung der ‚Fischertechnik für Große‘ geholfen, viele Handlingseinrichtungen in der Endverpackung selbst zu entwickeln und zu verbessern, statt in teure Anlagen zu investieren.“ Darüber hinaus legen Goschenhofer und Reichstein höchsten Wert darauf, dass die Mitarbeiter flexibel einsetzbar sind. Reichstein: „Wer früher nur Waffeln gebacken hat, der muss heute auch Kekse beherrschen. Wer früher an der Teig-Ausformung gearbeitet hat, kann heute auch einen Ofen bedienen.“ Flexibilität erwartet Torsten Goschenhofer darüber hinaus von den Lieferanten: Neben der Just-in-time-Packstoffanlieferung müssen Lieferanten heute mit kleineren Losen arbeiten können – mit der Prämisse, dass der Kunde drei Tage nach der Bestellung seine Ware erhält. Goschenhofer: „Das alles haben wir mit nur sehr geringen Beständen realisieren können“. In einigen Bereichen wurden konsequent Kanban-Prinzipien eingeführt, so dass Rohstoffe und Packstoffe jeden Tag je nach Verbrauch neu angeliefert werden.

bvp: Der Bahlsen Vebesserungsprozess

Das Ziel des bvp ist höchste Prozesssicherheit. Bvp-Teams sind interdisziplinär und mit allen Hierarchiestufen besetzt, also auch mit Facharbeitern und Produktionshelfern. Probieren geht dabei über studieren: Ganze Anlagen werden unter Umständen aus Pappe aufgebaut, um vorab zu überprüfen, wie gut etwas in der Praxis funktioniert. Als ein Ergebnis von bvp konnten viele nachgelagerte Arbeitsschritte in die Fabrik zurück integriert werden wie beispielsweise ein ausgegliedertes Packstofflager, dem jetzt im Werk eine zentrale Rolle zukommt. Materialflüsse wurden durch bvp so positiv beeinflusst, dass die Anzahl der Packstoffpaletten von 4 000 auf nur noch 2 000 reduziert werden konnte. Die Grundsätze und Methoden des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses haben die Mitarbeiter im Werk inzwischen derart verinnerlicht, dass Begriffe wie ‚5S‘ heute keine Bezeichnung aus der Berater-Fachsprache sind, sondern gelebte Realität. Lean-Experte Torsten Goschenhofer: „Die Mitarbeiter wissen ganz genau, was Total Productive Maintenance bedeutet und wie man Rüstzeiten optimiert. Jeder Folienwechsel braucht heute nur noch zwei Minuten.“

Die Prämissen beim Werksumbau

Reaktionsfähigkeit: Umstellung der Vorbetriebe von großen Mischsilos auf eine vollautomatische Kleinkomponentenanlage zur Herstellung in kleinen und kleinsten Losen.
Variabilität in Menge und Variante: Schaffen zusätzlicher Packereiflächen, u. a. um den vermehrten kundenindividuellen Konfektionier-Wünschen nachkommen zu können.
Dezentrale und veränderungsorientierte Organisationsstruktur: Zusammenlegung der am Prozess direkt Beteiligten mit dem Ziel einer verbesserten Steuerung, Kommunikation und Selbstverantwortung.
Unternehmenskultur: Verbindung von Moderne und Tradition durch eine offene, helle Architektur im Inneren mit großzügigen Glaselementen, Metallverkleidung und klassischem roten Backstein an der Fassade.
Nachhaltigkeit: Teilnahme an einem Energieforschungsprojekt „Energieeffizienz nachhaltig gewachsener Industriestandorte“ mit EU-Förderung; Ergebnis bis jetzt: Deutliche Senkung des Energieverbrauches um 5% pro Jahr.

Das Werk in Kürze

Mitarbeiter: 550, davon 480 in der Produktion. Produkte: Klassiker wie Leibniz Butterkeks sowie Bahlsen ABC, Ohne Gleichen und Afrika. Dazu diverse neue Keksspezialitäten wie Leibniz-Erdnuss-Spaß, Bahlsen Crispettis und Leibniz-Pick-up (ab 2012); Tonnage: 35 000 Tonnen pro Jahr (Tonnage Bahlsen gesamt in 2010: 142 000 Tonnen). Produktivitätssteigerung in den letzten fünf Jahren: 6 % pro Jahr.

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