Im Schienenverkehr steuert die Bundesregierung große Ziele an. Da die Bahn das klimaschonendste Verkehrsmittel ist, sollen in Deutschland 2030 doppelt so viele Menschen mit dem Zug reisen wie heute. Zugleich werde der Anteil der Bahn am Güterverkehr von heute 18 bis zum Ende des Jahrzehnts auf 25 Prozent steigen, verspricht die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag.
Mit der vorhandenen Schieneninfrastruktur lassen sich diese Ziele aber nicht erreichen. Denn die Verkehrsminister der von Angela Merkel geführten Bundesregierungen, Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer, haben das deutsche Streckennetz zwischen 2009 und 2021 um 15 Prozent zurückgebaut, hat der Bahnexperte der Grünen im Bundestag, Matthias Gastel, ermittelt.
Die drei Verkehrsminister von der CSU gaben bis 2019 zwar auch über 30 Milliarden Euro für den Erhalt der Bahntrassen aus, berichtet das Handelsblatt. Ob dieses Geld der Steuerzahler auch effizient investiert wurde, kümmerte die Unions-geführten Bundesregierungen allerdings so wenig, dass ihnen der Präsident des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller, vorwirft, ihren Verfassungsauftrag vernachlässigt zu haben. Dieser bestehe darin, Steuergelder gemeinwohlorientiert auszugeben.
So teuer ist die Sanierung der vernachlässigten Infrastruktur
Heute befinden sich nun mehr als ein Viertel aller Weichen, 22 Prozent der Oberleitungen, 23 Prozent der Gleise und 48 Prozent aller Stellwerke in schlechtem, mangelhaftem oder ungenügendem Zustand, ergab eine Bewertung ihres Netzes durch die Deutsche Bahn (DB). Diese jahrelang vernachlässigte Infrastruktur zu sanieren, kostet bis 2027 wenigstens 88 Milliarden Euro, stellt die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage des Abgeordneten der Linken, Viktor Perli, fest.
Da die Bundesregierung ihre verkehrspolitischen Ziele mit dem maroden Streckennetz weder günstig noch schnell erreichen kann, will sie dessen Leistungsfähigkeit nun zunächst steigern, indem sie das Netz digitalisiert. Theoretisch geht das schneller, als neue Gleise zu bauen. „Die Digitalisierung von Fahrzeugen und Strecken werden wir prioritär vorantreiben“, erklärt die Ampel daher in ihrem Koalitionsvertrag.
Die Potenziale sind in der Tat groß. Mit dem European Train Control System (ETCS) etwa können Züge ohne Abstriche bei der Sicherheit in geringeren Abständen im Netz fahren als dies heute möglich ist. Dadurch steigt die Kapazität der vorhandenen Infrastruktur um wenigstens 20 Prozent, ohne dass neue Gleise gebaut werden müssen, so die DB. Die Unternehmensberatung Strategy& bestätigt das in einer Studie.
Diese Vorteile hat die Digitalisierung für das Streckennetz
Wird ETCS um Automatic Train Operation (ATO) – eine Kombination aus einer Künstlicher Intelligenz für die Steuerung des Verkehrs im Netz und Automatisierungstechnik für die Schienenfahrzeuge – erweitert, stiege die Leistungsfähigkeit der vorhandenen Trassen sogar um bis zu 35 Prozent. Denn mit ATO fahren nicht nur mehr Züge im Netz. Sie sind auch immer mit der optimalen Geschwindigkeit und dem jeweils bestmöglichen Abstand voneinander unterwegs.
Die Effizienz des Güterverkehrs ließe sich durch die digitale automatische Kupplung (DAK) erheblich steigern. Mit ihr lassen sich Strom-, Druckluft- und Datenleitungen von Güterwagen automatisiert kuppeln und lösen. Bislang verbinden Kuppler die Waggons manuell sowie mit Unterstützung einer Rangierlok miteinander. Um einen Güterzug zusammenzustellen brauchen, sie bis zu vier Stunden. Mit der DAK geht das künftig in einem Viertel der Zeit.
Dadurch könnte die Kapazität der vorhandenen Rangierbahnhöfe um bis zu 40 Prozent steigen. Die Verkehrsleistung der Schiene im Gütertransport nähme durch die DAK sogar um bis zu 70 Prozent zu. Denn mit ihr verläuft erstmals eine Datenleitung durch den gesamten Güterzug. Das ist in Verbindung mit einer cloudbasierten Steuerungssoftware Voraussetzung dafür, dass auch Frachtzüge in engeren Abständen im vorhandenen Schienennetz fahren können.
Würden DB und Bundesregierung diese Potenziale heben, könnte sich die deutsche Bahnindustrie, zu der auch zahlreiche Unternehmen und Zulieferer des Maschinen- und Anlagenbaus wie die August Storm GmbH, Bosch, die Friedrich Hippe Maschinenfabrik, Liebherr, Pilz, Siemens, das Zahnradwerk Pritzwalk oder ZF Friedrichshafen zählen, über einen gigantischen Markt direkt vor ihrer Haustür freuen.
Schließlich müssen Bahn und Bund insgesamt wenigstens 60 Milliarden Euro investieren, um das 38.400 Kilometer lange deutsche Schienennetz zu digitalisieren. Die DB geht sogar davon, dass dafür mehr als 100 Milliarden Euro nötig sein werden, hat das Handelsblatt erfahren.
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Digitalisierung des Streckennetzes wäre lukrativer Heimatmarkt
Schließlich müssen nicht nur die meisten Strecken mit ETCS ausgestattet werden. Bislang verfügen erst knapp 5.000 Kilometer des Netzes über die Technik. Damit Triebfahrzeuge die digitalisierten Trassen nutzen können, müssen allein in Deutschland auch 13.500 Lokomotiven mit den für ETCS erforderlichen On-Board-Units (OBU) nachgerüstet werden. Das kostet wenigstens vier Milliarden Euro. Um die gut 500.000 Güterwaggons in der EU mit der DAK auszustatten sind weitere acht Milliarden Euro erforderlich.
An all dem würden neben den Herstellern von Triebfahrzeugen, Signal- und Leittechnik wie Siemens, Alstom oder Thales auch deren Zulieferer verdienen. „In Projekten für Ausrüstungen der Leit- und Sicherungstechnik liegt der Wertschöpfungsanteil der Signaltechnikhersteller zwischen 30 und 40 Prozent. Den Rest kaufen sie von ihren Zulieferern zu – beispielsweise Kabel, Schaltelemente- und elektrische Verbindungskomponenten oder Signalmasten. Dazu kommen hochspezialisierte Bauleistungen, etwa im Kabeltiefbau“, erklärt Axel Schuppe, Geschäftsführer des VDB Verband der Bahnindustrie in Deutschland. Die Gesamtwirtschaftsleistung der Branche betrage damit ein Vielfaches von dem der Eisenbahn-Signaltechnikindustrie.
Auch an der Nachrüstung der Triebwägen mit ETCS-OBUs wären Mittelständler beteiligt, die Fahrzeuge wie GEZ Rail Solutions, Pintsch oder Hannig und Kahl heute instandhalten. „Die Original-Schienenfahrzeughersteller werden gefragte Partner sein, um Fahrzeuge jüngerer Baureihen umzurüsten. Die mittelständische Bahnindustrie dagegen wird ein breites Betätigungsfeld bei älteren Schienenfahrzeugbaureihen oder solchen mit weniger komplexer Leittechnik haben“, erwartet VDB-Geschäftsführer Schuppe.
Modernisierung von Strecken: Aufträge bleiben bislang aus
Bislang bleiben die Aufträge jedoch nicht nur aus. Die Bestellungen bei den Unternehmen gehen sogar zurück. Im Infrastrukturbereich meldete der VDB auf seiner Jahrespressekonferenz Ende April einen Rückgang der inländischen Bestellungen im Infrastrukturbereich von 2021 auf 2022 um 12,5 Prozent. Die Bestellungen von Fahrzeugen sanken sogar um 28 Prozent. Insgesamt hatten die Unternehmen damit 2022 gut 23 Prozent weniger Aufträge von deutschen Bahngesellschaften und dem Bund in ihren Büchern stehen als im Vorjahr.
Dabei hat die Bundesregierung erkannt, dass sie schon bis 2027 immerhin 45 Milliarden Euro mehr in den Schienenverkehr investieren muss, als bislang geplant. Auf ihrem Koalitionsausschuss in Meseberg beschloss sie im März, ab 2024 bis zu sieben Milliarden Euro der Einnahmen aus der um eine CO2-Abgabe erweiterten und auf Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen Gewicht ausgedehnten Lkw-Maut für die Bahn auszugeben.
In seinem im Juli vorgestellten Entwurf des Bundeshaushaltes für 2024 hat Finanzminister Christian Lindner von der FDP dieses Geld jedoch nicht im vollen Umfang eingestellt. Statt der gegenüber den bisherigen Planungen nötigen zusätzlichen elf Milliarden Euro jährlich, erhöhe sich die Investitionssumme 2024 nur um knapp drei Milliarden Euro, kritisiert der VDB.
„Auch von den angekündigten 12,5 Milliarden Euro, die aus dem Klimatransformationsfonds des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz in den kommenden vier Jahren in die Schiene fließen sollen, stehen 2024 bislang nur vier Milliarden Euro relativ sicher zur Verfügung. Für den Rest fehlen die Verpflichtungsermächtigungen“, berichtet VDB-Geschäftsführer Axel Schuppe.
Bundeshaushalt bietet keine langfristige Planungsperspektive
Nicht mal das Geld, das im Haushalt eingestellt ist, fließt bislang so in die Digitalisierung der Bahn wie vorgesehen. So gibt es einen Titel „ETCS – Infrastrukturausrüstung und Fahrzeuge“. „Für diesen fehlen aber Ausführungsbestimmungen, die es erlauben, mit den Mitteln auch die Umrüstung von Schienenfahrzeugen und nicht nur die Digitalisierung von Infrastruktur zu finanzieren“, berichtet Schuppe.
Insgesamt lässt der Haushalt damit eine verlässliche Investitionsstrategie für die Schieneninfrastruktur vermissen. Bleibt zu hoffen, dass sich das in den Haushaltsberatungen im Bundestag ab dem 5. September ändert. Denn nur wenn die Ampelkoalition den Unternehmen der Bahnindustrie eine verlässliche langfristige Perspektive bietet, bauen diese die Fertigungs- und Personalstrukturen auf, die nötig sind, um die Technik zu produzieren, mit der die Bahn bis 2030 so modernisiert und digitalisiert werden kann, dass die Ampel ihre verkehrspolitischen Ziele erreicht.
Dazu muss sich das Tempo, mit dem DB und Bund Stelleinheiten – also Signale, Weichenantriebe oder Stellwerke – umrüsten oder neu installieren bis 2030 verfünffachen, hat der VDB errechnet.
Aktuell fehlen für die Modernisierung der Bahn die Kapazitäten
Mit den aktuell in der Industrie vorhandenen Kapazitäten lässt sich das nicht erreichen. „Die Hersteller von signaltechnischer Ausrüstung beispielsweise arbeiten schon jetzt allesamt am Anschlag“, meint Frank Schleier, Leiter der Produktplattform für Lokomotiven bei Alstom.
„Solange die Unternehmen sehen, dass die Haushalts- und Investitionspolitik in puncto zusätzlicher Mittel für signaltechnische Ausrüstung überwiegend der Logik der klassischen Kameralistik folgt und damit weiter ein „von der Hand in den Mund leben“ induziert, werden sie nicht motiviert sein, in zusätzliche Fachkräfte, Ingenieure oder Bauplaner zu investieren“, ergänzt VDB-Geschäftsführer Axel Schuppe.
Insgesamt befinden sich also sowohl die Unternehmen der Bahnindustrie wie die Klima- und Verkehrswende in einer verfahrenen Situation. Denn wenn die Schieneninfrastruktur ihren Beitrag zu einem nachhaltigen Verkehr leisten soll, muss die Technik hergestellt werden, die es braucht um das Streckennetz zu modernisieren und zu digitalisieren. Dieses Angebot entsteht aber nur, wenn auch die Nachfrage, also Investitionen in die Trassen, ausreichend finanziert werden und das bereit gestellte Geld effizient und reibungslos in die Modernisierung der Infrastruktur und der Fahrzeuge abfließt.
„Aktuell ist leider weder das Finanzierungsvolumen hoch genug noch fließt vorhandenes Geld schnell genug ab. Also entsteht das erforderliche Angebot nicht im notwendigen Umfang – obwohl die Industrie bereitsteht. Das verzögert die Verkehrswende“, fasst VDB-Sprecherin Pauline Maître zusammen. Große Ziele wird die Bundesregierung im Schienenverkehr so nicht erreichen.