Die Westfront der Ukraine verläuft nahe der polnischen Grenze. In Schwedt an der Oder, einem kleinen Ort im Osten Brandenburgs schwor Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die 1.100 Mitarbeitenden der Raffinerie PCK Anfang Mai darauf ein, dass sie in der ersten Linie stehen, wenn es darum geht, den Krieg gegen Vladimir Putin durch ein Embargo russischen Öls zu gewinnen. Zwölf Millionen Tonnen davon raffiniert PCK jedes Jahr zu Diesel, Benzin und Kerosin aber auch zu Basischemikalien wie Aromaten und Grundstoffen für die Kunststoffherstellung wie Propylen.
Insgesamt verarbeitet die chemische Industrie in Deutschland jedes Jahr 14 Millionen Naphtha aus Erdöl in ihren Produkten. Das entspricht 70 Prozent ihres Rohstoffeinsatzes, so der Verband der chemischen Industrie (VCI). Erdgas folgt mit 14 Prozent oder knapp drei Millionen Tonnen erst mit weitem Abstand. Mit den Rohstoffen erzeugten die Hersteller von Kunststoffen im vergangenen Jahr 13 Millionen Tonnen Polyethylen, Polyurethan, Polypropylen und andere Materialien. Weitere zwei Millionen Tonnen Kunststoffe stellten sie aus recycelten Ausgangsstoffen her, berichtet der Gesamtverband der Kunststoffverarbeitenden Industrie (GKV).
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Kreislaufwirtschaft hilft gegen Materialknappheit
Der geringe Anteil des Sekundärmaterials an der Kunststoffproduktion von nur 13,3 Prozent erstaunt, beklagen derzeit doch sechs von zehn Mitgliedsunternehmen des GKV, dass Rohstoffe für ihre Produkte nur noch schlecht oder sogar sehr schlecht verfügbar seien und die Materialknappheit die Preise massiv nach oben getrieben habe. Vier von zehn Kunststoff verarbeitenden Betrieben befürchten daher, dass sie ihre Produktion ganz oder teilweise stilllegen müssen. Fast 59 Prozent rechnen damit, dass sie deshalb hierzulande Arbeitsplätze abbauen werden.
Das muss nicht sein. Denn in einer Kreislaufwirtschaft ließe sich ein Großteil des für die Herstellung neuer Kunststoffe benötigten Materials durch mechanisches Recycling aus Altplastik gewinnen. Durch chemisches Recycling lässt sich sogar Kohlenstoff aus Kunststoffmüll und anderen Abfällen zurückgewinnen. Er ist der Basisrohstoff der chemischen Industrie.
Beim mechanischen Recycling sammeln Entsorger Altplastik, trennen die im Müll enthaltenen Kunststoffe sortenrein, reinigen sie und schreddern sie zu Pellets, aus denen sich dann neue Produkte herstellen lassen. „So lässt sich aus einer Kunststoffsorte allerdings nur das genau gleiche Material wiedergewinnen“, erklärt Dr. Jörg Rothermel, Leiter der Abteilung Energie, Klimaschutz und Rohstoffe beim VCI. Das sei so, als ob ein Stahlwerk aus einem alten Stahlträger auch nur einen solchen wieder herstellen kann, nicht aber beispielsweise Blech für die Automobilproduktion.
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Das steckt hinter chemischem Recycling
Außerdem müssten Recycler einen gewaltigen Aufwand treiben, um Ausgangsstoffe überhaupt in einen Zustand zu bringen, in dem sie sich mechanisch wiederaufbereiten lassen. „Selbst wenn Sortieranlagen künftig leistungsfähiger werden, wird daher immer eine Fraktion des Plastikmülls übrig bleiben, die ich zu vernünftigen Kosten nicht mechanisch wiederverwerten kann“, so Rothermel. „Wenn wir diese Abfälle dann nicht verbrennen wollen, brauchen wir eine technische Lösung, mit der wir die in ihnen enthalten Rohstoffe wieder nutzbar machen können.“
Hier kommt das chemische Recycling ins Spiel. Chemiekonzerne wie BASF und Kunststoffproduzenten wie Covestro setzen das Verfahren bereits ein. Kunststoffe werden dabei entweder pyrolytisch unter Ausschluss von Sauerstoff bei Temperaturen von gut 800 Grad Celsius oder durch ein Lösungsmittel solvolytisch in ihre Grundbausteine zerlegt. „Dabei entsteht ein Pyrolyseöl, das mit Naphtha absolut vergleichbare Eigenschaft hat und sich deshalb auch in den in Europa vorhandenen Crackern verarbeiten lässt. Wir müssen dazu also keine neuen Anlagen bauen“, erklärt VCI-Abteilungsleiter Jörg Rothermel.
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Ein weiterer Vorteil besteht für den Chemiker darin, dass sich vor allem die für die Pyrolyse erforderliche Energie grundsätzlich aus dem verarbeiteten Müll selbst gewinnen lasse. „Das erfordert allerdings noch Forschungs- und Entwicklungsarbeit“, schränkt Rothermel ein.
Dennoch lässt sich nur durch chemisches Recycling auch Ausgangsmaterial wiederverwerten lässt, das wie Dämmstoffe, Matratzen oder Altreifen eine komplexe chemische Zusammensetzung aufweist oder wie Folien und Verpackungsmaterialien mit unterschiedlichen Additiven und Farbstoffen versehen ist. Auch verunreinigtes, kleinteiliges, stark verwittertes oder bereits einmal mechanisch wiederaufbereitetes Altplastik lässt sich chemisch recyceln. Wissenschaftler des Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT sowie des Fraunhofer Cluster of Excellence Circular Plastics Economy haben sogar ein Verfahren entwickelt, mit dem sie Faserverbundwerkstoffe, aus denen Rotorblätter von Windkraftanlagen bestehen, auflösen und aus dem in ihnen enthaltenen Kunststoff reines Styrol und Phenol gewinnen können – beides wichtige Rohstoffe für die Plastikproduktion.
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Ohne chemische Recycling-Verfahren ist eine "Circular Economy" nicht realisierbar
„Theoretisch lässt sich eines Tages auch der in biogenen Abfällen enthaltene Kohlenstoff durch chemisches Recycling zurückgewinnen“, ergänzt VCI-Abteilungsleiter Jörg Rothermel. Noch sei das aber Zukunftsmusik. „Auch größere Anlagen, mit denen sich Kunststoffabfälle flächendeckend chemisch wiederverwerten lassen, werden wohl erst Ende des Jahrzehnts aufgebaut sein“, erwartet Rothermel.
Um diesen Roll Out zu beschleunigen, müsste die Politik ihre Einstellung zum chemischen Recycling überarbeiten. Denn noch erkennt das Abfallrecht das Verfahren nicht als Recycling an. Unternehmen können daher mit Grundstoffen, die durch Pyro- oder Solvolyse gewonnen wurden, nicht die vom Kreislaufwirtschaftsgesetz geforderten Recyclingquoten erfüllen. „Außerdem werden die bei der Verbrennung von Abfällen entstehenden Treibhausgasemissionen in der Ökobilanz von Unternehmen nicht zum Ansatz gebracht“, ergänzt VCI-Klimaschutzexperte Jörg Rothermel. „Wenn mit dem gleichen Abfall allerdings ein Pyrolyseofen beheizt wird, müssen Betriebe für die dabei entstehenden Emissionen CO2-Zertifikate kaufen.“ Dadurch verliere das chemische Recycling gegenüber dem mechanischen oder der Verbrennung von Abfällen erheblich an Charme.
Obwohl sie nicht bereit sind, die einzelnen Wiederverwertungsverfahren fair zu vergleichen, fordern die EU mit ihrem 2020 beschlossenen Aktionsplan zur Kreislaufwirtschaft und die Bundesrepublik mit dem im selben Jahr novellierten Kreislaufwirtschaftsgesetz von Unternehmen aus allen Branchen den Aufbau geschlossener Stoffkreisläufe. „Ohne chemische Recycling-Verfahren wird eine "Circular Economy" jedoch nicht realisiert werden können“, stellen der VCI, der europäische Verband der Kunststofferzeuger, Plastics Europe, die Gesellschaft für chemische Technik und Biotechnologie, Dechema, und der wirtschaftsnahe Think Tank BKV in einem gemeinsamen Positionspapier fest.
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Was passiert, wenn die Kreislaufwirtschaft scheitert?
Glücklicherweise ist Recycling in der Kette der Kreislaufwirtschaft allerdings nur der letzte Schritt, beruhigt Dr. Eric Maiser, Leiter des Bereichs Future Business beim VDMA. Denn da Ressourcen in der Circular Economy anders als in einem linearen Wirtschaftsmodell nicht verbraucht, sondern möglichst lange produktiv genutzt werden, müssen Unternehmen jeden Abschnitt in ihrer Wertschöpfung zirkulär denken – angefangen beim Design und der Produktion, über den Verkauf und die Nutzung ihrer Produkte bis zur Rückgewinnung der in ihnen enthaltenen Werkstoffe.
Zugleich müssen sie Abfälle auch in ihren Fertigungsprozessen auf ein Minimum reduzieren. Um Rohstoffe und Energie möglichst sparsam einzusetzen, müssen Unternehmen Produkte zudem so entwickeln und herstellen, dass sie sich einfach instandhalten und reparieren und sich dadurch möglichst lange nutzen lassen. Außerdem suchen Entwickler in der Circular Economy nach Konstruktionen für ihre Produkte und Fertigungsverfahren, die es leichter machen, kritische Rohstoffe aus einem nicht mehr funktionsfähigen Endprodukt einfach zurückzugewinnen, oder sie gar nicht erst zu verbauen und durch andere Werkstoffe zu ersetzen.
Insgesamt ließe sich der Verbrauch neu hergestellter Kunststoffe in Deutschland durch die Kreislaufwirtschaft in den kommenden zwei Jahrzehnten um 60 Prozent senken. Die Menge sinnlos verbrannter Abfälle ließe sich sogar um 70 Prozent verringern, das gesamte Abfallvolumen um 40 Prozent, hat der World Wide Fund for Nature in einer Studie ermittelt. So ließen sich bis 2040 insgesamt 68 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen vermeiden.
Scheitert der Aufbau der Kreislaufwirtschaft, verursacht hingegen allein die Produktion neuer Kunststoffe fünf Prozent der Emissionen, die Deutschland nach den Berechnungen des Weltklimarates noch zustehen, wenn die Erderwärmung bis 2050 zwei Grad Celsius nicht überschreiten soll.
So läuft die Kreislaufwirtschaft bei Igus ab
Für Igus steht fest, dass dies nicht passieren darf. Deshalb nutzt der Spezialist für Gleit-, Kugel- und Gelenklager, Energieketten und Low-Cost-Roboter aus Hochleistungskunststoffen mit Sitz in Köln so gut wie jede Möglichkeit, die ihm die Kreislaufwirtschaft bietet. Schon die Lager selbst schonen die Umwelt. Denn sie sind leichter als vergleichbare Bauteile aus Metall. Außerdem entwickeln die Kölner ihre Kunststofflager so, dass sie sich möglichst reibungsfrei bewegen.
„Zusammen mit dem geringen Gewicht sorgt das dafür, dass weniger Antriebsenergie aufgewendet werden muss, um ein Maschinenteil zu bewegen – und das ganze ohne Schmierung“, erklärt der Geschäftsführer des Betriebs mit gut 4.500 Mitarbeitenden und einem Umsatz von 961 Millionen Euro im Jahr 2021, Frank Blase. Denn Igus hat seine Lager so optimiert, dass sie kaum verschleißen. Da Kunststoffspezialist setzte seinen Polymeren dazu Festschmierstoffe zu. Deshalb müssen die Lager im Betrieb weder gefettet noch geschmiert werden. So verschmutzen die Bauteile nicht und Reste von Schmiermitteln können nicht in die Umwelt gelangen.
Die Hochleistungskunststoffe bieten noch weitere Vorteile. So lässt sich ein Kubikmeter davon mit halb so viel Energie herstellen wie das gleiche Volumen an Stahl. Außerdem lassen sich die Materialien teils mit biogenen Grundstoffen produzieren.
Das allein war für Igus jedoch nicht genug. Um zu verhindern, dass in der Produktion Materialreste und produzierte Teile versehentlich neben den Maschinen und dann im Müll landen, haben die Kölner Magnetfolien und Leitbleche an ihren Anlagen montiert. So verringerten sie die Abfallquote in ihrer Fertigung 2021 um 21 Prozent.
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Das steckt hinter "Chainge"
Um zu verhindern, dass ihre Kunden ausgediente Energieketten entsorgen, riefen Igus-Chef Frank Blase und seine Beschäftigten zudem die Recyclinginitiative „Chainge“ ins Leben. Teilnehmer können dabei alte Kunststoffketten jedes Herstellers an Igus schicken. Die Kölner sortieren die Bauteile nach der Art des Kunststoffs aus dem sie bestehen, reinigen und schredern sie. Das gewonnene Rezyklat verarbeitet Igus selbst – beispielsweise zu neuen Ketten – oder verkauft es. Kunden bekommen im Gegenzug für ihre eingeschickten Ketten einen Gutschein, mit dem sie bei Igus einkaufen können. Die Möglichkeit nutzen inzwischen Unternehmen aus 13 Ländern – darunter so weit entfernten wie China, Malaysia und Brasilien. Insgesamt schickten sie im vergangenen Jahr 32 Tonnen Material ein. Bis Ende 2022 sollen es 500 Tonnen werden.
Dann wird der Kunststoffspezialist aus dem Rheinland auch aus chemischem Recycling gewonnenes Pyrolyseöl in kommerziellem Maßstab produzieren. Igus hat sich mit insgesamt fünf Millionen Euro an dem britischen Recycling-Start up Mura Technologies beteiligt. Seit März baut dieses im nordenglischen Wilton die erste Recycling-Anlage. Sie verarbeitet künftig 20.000 Tonnen Kunststoffabfälle im Jahr zu Pyrolyseöl. Insgesamt werden an dem Standort vier derartige Anlagen Plastikabfälle in ihre chemischen Bausteine zerlegen.
Die kreiswirtschaftlichen Ansprüche an Delo
Damit, wie sich die Bindungen zwischen Molekülen wieder auflösen lassen, beschäftigt sich auch Delo im oberbayerischen Windach. Der Mittelständler mit knapp 900 Mitarbeitenden setzt mit Hochleistungsklebstoffen für die Automobilindustrie und Luftfahrt, die Optoelektronik und Elektronikindustrie knapp 170 Millionen Euro im Jahr um. Seine Kunden stellen an die Kleber aber natürlich andere kreislaufwirtschaftliche Ansprüche als sie Entwickler und Konstrukteure an die Kunststofflager von Igus haben. „Viele unserer Kunden fragen nach Klebstoffen, die eine einfache Reparatur ihrer Produkte ermöglichen. Andere legen großen Wert darauf, dass die Kleber sich wieder lösen lassen – auch schon während des Fügeprozesses“, erklärt Dr. Karl Bitzer, Leiter des Produktmanagements bei Delo. „So müssen sie das wertvolle Material nicht verschwenden, wenn sie Komponenten oder Bauteile nicht präzise verklebt haben.“ Die Lösbarkeit sei in der Automobilindustrie auch wichtig, um am Ende der Lebensdauer eines Elektromotors die in ihm verbauten Magnete herauslösen und die darin enthaltenen Selten-Erd-Metalle wiedergewinnen zu können.
Um derartige Kundenanforderungen ohne lange Vorlauf- und Entwicklungszeiten erfüllen zu können, betreiben die Windacher immer mehr eigene Forschung. Beträchtliche 15 Prozent ihres Umsatzes geben sie dafür jedes Jahr aus. „Außerdem sind wir idealerweise schon an der Ideenfindung bei unseren Kunden, spätestens aber an deren Konstruktion und Produktentwicklung beteiligt“, ergänzt Karl Bitzer. Denn neben den hohen Qualitäts- und Zuverlässigkeitsansprüchen an die Klebstoffe ließen sich Anforderungen an deren Lösbar- und Recyclierbarkeit nur erfüllen, wenn sowohl der Herstellungsprozess des Kunden wie der Kleber selbst darauf ausgerichtet würden.
Um bei deren Produktion unabhängiger von in Raffinerien gewonnenen Aromaten zu werden und nachhaltige Produkte anbieten zu können, stellt Delo zudem immer mehr Klebstoffe mit recycelten beziehungsweise biobasierten Rohstoffen her. „Wir analysieren zu Beginn jedes Entwicklungsprojektes, ob wir biobasierte Alternativen zu herkömmlichen Komponenten finden. Außerdem achten wir darauf, dass wir Metalle wie Silber in elektrisch leitfähigen Klebstoffen aus dem Recycling bekommen“, erklärt Bitzer. Schließlich wird der Kampf um die Unabhängigkeit von Rohstoffimporten in der Kreislaufwirtschaft nicht nur in Schwedt geführt.