Mensch und KI müssen kooperieren

Technik-Freaks sind begeistert von der Zukunftstechnologie Künstliche Intelligenz. Noch sind die Anwendungsmöglichkeiten in der Industrie aber beschränkt. (Bild: lassedesignen - stock.adobe.com)

Es ist nun über 100 Jahre her, dass die bis heute grundlegenden psychologischen Schulen begründet wurden. Über viele Jahre konkurrierte die von Siegmund Freud geschaffene Tiefenpsychologie mit dem Behaviorismus und seinen Lerntheorien. In der modernen Psychologie hat der Behaviorismus das Rennen weitgehend für sich entschieden. Er besagt, dass der Mensch ein konditioniertes Wesen ist, das durch seine Mitmenschen und durch seine Umwelt geprägt wird. Und was prägt den modernen Menschen neben seinen Mitmenschen immer mehr? Maschinen! Maschinen besonders in Form von Computern, Tablets und Smartphones.

So stellt sich die Frage, ob Menschen immer mehr zu Maschinen werden oder ob, umgekehrt, die Maschinen immer menschlicher werden. Derzeit scheint Letzteres der Fall zu sein: Mit Autos kann man sprechen, Alexa steht im Wohnzimmer zu Diensten und neueste Computerspiele entführen den Menschen in Abenteuerwelten. So glauben immer mehr Zeitgenossen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Maschinen dank künstlicher Intelligenz dem Menschen ebenbürtig oder gar überlegen sind.

Was KI nie können wird

Der Grund für diese Überschätzung der Technik und ihrer Möglichkeiten ist, dass der Mensch das Staunen verlernt hat. Die Schöpfung und das Leben sind ein Wunder und bleiben ein Geheimnis. Kein Forscher konnte bisher Leben aus toter Materie erzeugen. Ein Beispiel: Das Erbgut einer Fruchtfliege ist komplett entschlüsselt und ein Chemiker kann die einzelnen Elemente bis auf das letzte Molekül angeben. Geben Sie einem Biologen oder einem Chemiker diesen Bauplan und die chemischen Elemente und bitten Sie ihn, daraus eine Fruchtfliege zu bauen. Kann er das? Er kann es nicht und wird es nie können. Ganz zu schweigen davon, einen Menschen zu schaffen.

Was das menschliche Genie im besten Sinne hervorgebracht hat, wird eine Maschine auch mit noch so viel künstlicher Intelligenz nie können: Einen Roman wie das Glasperlenspiel von Hermann Hesse zu verfassen oder eine Oper wie die Zauberflöte von Mozart zu komponieren. Genius, Fantasie und Kreativität bleiben dem Menschen vorbehalten. Soweit also zu den Grenzen der Künstlichen Intelligenz.

KI ist kein Algorithmus im engeren Sinn

Was allerdings bereits heute möglich ist, ist durchaus beeindruckend. Da wäre zunächst die Intelligenz zu nennen, wie sie uns täglich bei unseren Ausflügen ins Internet begegnet: Google oder Youtube kennen uns mittlerweile ziemlich gut und manchmal ist man regelrecht erstaunt, wie sie uns „bei der Hand“ nehmen und stets die passenden Vorschläge zu den Suchanfragen machen. Wobei das eher clevere Algorithmen sind, die wenig mit künstlicher Intelligenz zu tun haben.

Denn Künstliche Intelligenz bedient sich keiner Algorithmen im engeren Sinn. Es handelt sich dabei eher um eine „Black Box“, die mit klassischer Programmierung eines Computers wenig gemein hat. Basis sind dabei Daten, mit denen die KI „gefüttert“ wird. Und es ist besonders wichtig, dass diese Daten konsistent sind. Je mehr Daten vorhanden sind und je besser deren Qualität ist, desto besser „lernt“ die KI.

Das sind die Treiber der KI

„Ein Treiber der künstlichen Intelligenz ist die Bildverarbeitung. Der zweite große Treiber der KI ist die Text- und Sprachverarbeitung, wie aktuell die großen Sprachmodelle GPT oder ChatGPT zeigen“, berichtet Prof. Marco Huber, Abteilungsleiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart. Dabei denkt man zunächst an die Möglichkeiten der Biometrie, die oft durch negative Schlagzeilen auffällt: So lassen sich beispielweise durch Gesichtserkennung einem Regime unliebsame Menschen erkennen und verfolgen.

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KI ist ein regelrechter Hype

In der Industrie ist die KI dagegen bereits heute ein wertvoller Helfer und Huber spricht von einem regelrechten Hype in der KI, der durch die Bildverarbeitung getrieben wird. Davon profitiert auch die industrielle Bildverarbeitung (IBV). Eine seit Jahren geläufige Anwendung ist der sogenannte „Griff in die Kiste“. Dabei werden chaotisch liegende Teile in einer Kiste von einem Roboter erkannt und zielsicher gehandhabt. Kernelemente sind dabei optische Sensoren und ein Rechner, auf dem die Software läuft. Ihr größtes Einsatzfeld hat die IBV in der Qualitätssicherung: Schlechtteile werden identifiziert und aussortiert. Beispiele sind Kratzer oder sonstige Fehlstellen am Bauteil. Dabei kennt die IBV keine Müdigkeit und macht so deutlich weniger Fehler, als ein Mensch. KI kann hier durch maschinelles Lernen und visuelle Mustererkennung zu einer erheblichen Steigerung des Automatisierungsgrades und damit der Prozesseffizienz beitragen. Zwei Kernprobleme des Qualitätsmanagements werden durch künstliche Intelligenz adressiert.

Pseudo-Ausschuss wird gesenkt

Erstens kann der Pseudo-Ausschuss hochautomatisierter Systeme gesenkt werden. Dies ist vor allem erfolgversprechend, wenn bestehende regelbasierte Systeme häufig nachkalibriert werden müssen (z.B. auf Grund von Chargenwechseln, sich verändernden Rahmenbedingungen, etc.). Zweitens ermöglicht der Einsatz von KI den Umgang mit hoher Variabilität im Produktionsvorgang. Durch den Lernprozess sind diese Systeme in der Lage, Anomalien zu erkennen, die vorher nicht explizit definiert wurden, und können daher in vielen hoch komplexen Produktionsvorgängen eingesetzt werden. Durch das Adressieren dieser Herausforderungen können Kosten gesenkt und das Qualitätsniveau der Produktion angehoben werden. Das sind starke Argumente, sich den Einsatz von KI in der visuellen Qualitätskontrolle im Detail anzuschauen.

Prüflinge auf einem Glasteller
Kameras kontrollieren mit künstlicher Intelligenz Gewinde, die auf einem Glasteller rotieren. (Bild: Hörmle GmbH)

Das kann die KI in der industriellen Bildverarbeitung

Führend in der Anwendung der IBV ist – wie so oft – die Automobilindustrie. Aber auch in der Elektronikindustrie werden Bauteile von der IBV auf schlechte Lötstellen inspiziert oder fehlerhafte Tabletten in der Pharmaindustrie aufgespürt. Auch in der spanenden Fertigung gibt es bereits Anwendungen: So kann die IBV den Zustand eines Werkzeugs erkennen und dadurch einen Werkzeugbruch verhindern oder abnehmende Bauteilqualität aufgrund eines verschlissenen Werkzeugs. „Das Fernziel sind autonome Produktionssysteme, die sich selbst korrigieren und steuern“, berichtet Huber. Recht weit ist man auch beim Thema Predictive Maintenance: So überwacht sich eine Maschine selbst und ordert Verschleißteile automatisch rechtzeitig.

„Künftig wird die Künstliche Intelligenz mit ihren Möglichkeiten immer mehr zu einem entscheidenden Wettbewerbskriterium. Sie nicht zu nutzen, ist ein entscheidendes Defizit“, glaubt Huber. Sorgen, dass der Mensch eines Tages nicht mehr gebraucht wird, hat er keine: „Die KI hat kein Weltverständnis und keinen gesunden Menschenverstand. Kreativität und vernetztes Arbeiten bleiben den Menschen vorbehalten.“ Einsteigern in die Technologie empfiehlt er, zunächst kleinere Schritte zu gehen. So sei eine Prüfmaschine für Kleinteile bereits mit einem Invest im mittleren fünfstelligen Bereich zu haben. Dafür stehe mittlerweile ein gut etabliertes Ökosystem an Anbietern zur Verfügung. „Kein Unternehmen bleibt im Regen stehen. Neben Start-ups gibt es auch erfahrene Anbieter am Markt“, so Huber. Auch mit Blick auf die allgegenwärtige Nachhaltigkeit kann die KI punkten: So gibt es Studien, die belegen, dass KI helfen kann, CO2 einzusparen. Sie kann beispielsweise beim Laserschneiden die Bauteile so platzieren, dass Verschnitt vermieden wird.

Heiko Seitz ist technischer Autor bei IDS
Heiko Seitz, technischer Autor bei IDS Imaging Development Systems: „Die KI hat frischen Schwung in diesen Markt gebracht. Das sieht man nicht zuletzt an den zahlreichen Startups in diesem Marktsegment“. (Bild: IDS)

Das sind die Anbieter

Einer dieser erfahrenen Anbieter ist die deutsche Firma IDS Imaging Development Systems GmbH. Das Unternehmen ist seit 25 Jahren als Anbieter von Bildverarbeitungskomponenten am Markt. Alle Produkte werden am Standort in Obersulm entwickelt und produziert. Das Unternehmen entwickelt sich laut Heiko Seitz, technischer Autor bei IDS, vom reinen Zulieferer immer mehr zum projektbezogenen Partner seiner Kunden hin. Ziel ist es, dass der Kunde von IDS alles aus einer Hand erhält. Seitz berichtet, dass der Markt für Bildverarbeitungssysteme in der Industrieautomation in der Vergangenheit eher „beständig“ war: „Die KI hat frischen Schwung in diesen Markt gebracht. Das sieht man nicht zuletzt an den zahlreichen Startups in diesem Marktsegment“. Noch fehle es hier häufig an der Akzeptanz dieser System und es sei noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch er berichtet, dass die KI in der industriellen Bildverarbeitung hauptsächlich bei der Qualitätssicherung zum Einsatz komme. Interessant sei ihr Einsatz besonders für Produkte, die eine starke Varianz aufweisen.

Typische Einsatzgebiete auch abseits der Industrie

Ein Beispiel abseits der Industrieautomation ist die Erkennung von natürlich gewachsenen Produkten wie Gemüse oder anderer Pflanzen oder der Maserung von Werkstücken aus Holz – und daraus resultierend die entsprechende Einteilung in Preisgruppen. Aber auch die Erkennung unterschiedlicher Oberflächenfehler bei Metallteilen ist ein typisches Einsatzgebiet. Dabei gilt es, die KI vorab richtig anzulernen: „Das lässt sich durchaus mit der Schulung eines neuen Mitarbeiters vergleichen und erfordert daher eine andere Herangehensweise“, so Seitz. Gleichzeitig zeigt er die Grenzen der KI auf: „Die KI ist nicht allmächtig. Letztendlich trifft immer der Mensch die Entscheidung, denn er ist es auch, der sein Wissen in die KI einbringt“, betont Seitz. Vielmehr helfe die KI, den Menschen von stupider Arbeit zu befreien. Die Zukunft gehöre dabei Embedded-Lösungen, die Ergebnisse direkt am Ort des Geschehens erzeugen. Beispielsweise liest eine KI-basierte Kamera nur prozessrelevante Daten aus dem vorliegenden Bildmaterial aus und somit erfolgt eine Filterung direkt am Ort des Geschehens.

Viele Startups tummeln sich in der Branche

Wer sich auf die Suche nach geeigneten Anbietern macht, dem fällt auf, dass die Branche vergleichsweise jung ist. So tummeln sich einige Startups in diesem Segment und sorgen für frischen Schwung in der Industrie. Aber auch bereits seit Jahren etablierte Anbieter wie Cognex oder IDS gibt es, die mit ihrer Erfahrung auch einen lückenlosen Support für alle Projektkomponenten anbieten können. Den Status eines Startups bereits verlassen hat das Unternehmen Maddox AI mit seinen 30 Mitarbeitern. CEO und Mitgründer ist der 33-jährige Peter Droege.

Er hat sich bewusst für den Unternehmensstandort Tübingen entschieden, da hier Europas größtes Forschungs-Cluster im Bereich KI beheimatet ist. Zum breiten Kundenkreis gehören Mittelständler wie Rosenberger oder Woco, aber auch Großkonzerne wie Siemens. Ein typisches Anwendungsbeispiel ist die Kontrolle eines Traktors nach der Endmontage: Vor dem Verlassen des Bandes wird das Fahrzeug von Kameras erfasst und die KI kontrolliert, ob alle Bauteile richtig montiert wurden. „Manchmal sind die falschen Leuchten oder Blinker montiert. Unser System analysiert das“, so Droege.

Prüfung von elektronischen Bauteilen
Noch sind KI-Anwendungen in der Industrie eher die Ausnahme. Hier die Prüfung von elektronsichen Bauteilen. (Bild: Rainer Bez - Fraunhofer IPA)

Regelrechter Hype rund um das Thema KI

Droege beobachtet, dass es in der Presse einen regelrechten Hype rund um das Thema KI gebe. „Konkrete Berichte zu umgesetzten Erfolgsgeschichten sind dabei die Ausnahme“, moniert er. So kamen dutzende Studien zum Einsatz von KI in Unternehmen zum gleichen Ergebnis: Die Firmen haben die großen Optimierungspotenziale erkannt, setzen KI-Systeme aber trotzdem fast nie im operativen Regelbetrieb ein. „Grundsätzlich vereinen KI-basierte Inspektionssysteme eine hohe Erkennungsgenauigkeit mit niedrigen Kosten. Trotzdem vertrauen die meisten Firmen noch auf manuelle Prüfung“, stellt Droege fest.

Als Hauptgründe für die Zurückhaltung werden die vermeintlich hohen Kosten sowie die fehlende KI-Expertise angegeben. Dazu kommt der ebenfalls vermeintlich hohe Aufwand beim Annotieren der Daten. Droege: „Eine saubere Datengrundlage ist das A und O für KI-basierte Inspektionssysteme. Die beste Algorithmik wird aus einer inkonsistenten Datengrundlage kein prüfgenaues Modell zaubern. Bei Maddox AI legen wir einen größtmöglichen Fokus darauf, den Nutzer dabei zu unterstützen, eine saubere und konsistente Defektdefinition zu kreieren. Das führt letztlich zu besseren Modellen“.

Die Zurückhaltung der Kunden entkräftet Droege für sein Unternehmen: „Der Kunde geht bei uns kein Risiko ein. Bezahlt wird erst, wenn alles funktioniert. Das Investitionsrisiko liegt somit bei uns“.  Und es funktioniert: Über 50 Mio Bauteile wurden mittlerweile von Maddox AI inspiziert. Ein einfacher Einstieg mit niedrigen Kosten steht auch bei IDS im Fokus. Das Unternehmen senkt das Investitionsrisiko mit seinem KI-Vision Komplettsystem, indem eine Anwendung vollständig in der Cloud mit einer einfach nutzbaren GUI konzipiert und mit Bildmaterial evaluiert werden kann.

Deutschland ist gut aufgestellt

Und wie ist Deutschland bei der KI in der IBV im internationalen Vergleich aufgestellt? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass Deutschland bei einer Hochtechnologie den Anschluss verliert. „Die Grundlagenforschung in Deutschland ist gut. Wir sind zusammen mit den USA, China, Großbritannien und Israel führend. In Deutschland gibt es allerdings noch zu wenig industrielle Anwendungen“, so Huber. Allerdings gebe es extrem gut finanzierte US-Unternehmen: So konnte Landing AI als weltweit erfolgreichster KI-Experte rund 100 Mio US-Dollar an Kapital einsammeln. Insbesondere kleineren und mittelständischen Unternehmen empfiehlt er, „mehr Gas zu geben“. Diese seien in Sachen Digitalisierung noch zu zögerlich.

So wird die KI die Welt nicht retten, aber sie kann eine Schlüsseltechnologie werden: Die Vision sind dabei weitgehend autonom arbeitende Produktionsanlagen, die sich selbst überwachen und steuern. Das könnte angesichts des Fachkräftemangels zu einem entscheidenden Faktor für die Zukunft des Industriestandorts Deutschland werden.

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