Die Chemieindustrie steht in Bezug auf China vor einem Dilemma: Einerseits birgt die Abhängigkeit von China Risiken. Andererseits ist der chinesische Markt der größte der Welt. Hier auszusteigen würde bedeuten, auf enorme Gewinne und Weltmarktanteile zu verzichten.
China steht, sowohl was Produktion als auch Nachfrage angeht, bei Chemieprodukten weltweit an der Spitze. Allein 41 Prozent des globalen Chemiemarktes entfallen auf das Land. Die Branche zählt zu den wichtigsten Industriesektoren. Mit Rekordumsätzen und -gewinnen trug die petrochemische und chemische Industrie 2021 allein knapp über 13 Prozent zu den Gewinnen der gesamten Industrie des Landes bei.
Der Verbrauch chemischer Produkte und der Umsatz der Branche liegt weit über dem Wert Deutschlands, das noch Exportweltmeister ist, wobei China wichtigster Exportmarkt für Deutschlands Chemiebranche ist. China holt jedoch schnell auf. Im Jahr 2000 war es noch nicht unter den zehn größten Exportländern vertreten, 2005 war China bereits nach Daten der VCI fünftgrößte Exportnation und liegt jetzt nach Deutschland und den USA auf Platz 3.
Milliardeninvestitionen deutscher Konzerne
Noch höher als die deutschen Exporte chemischer Produkte nach China dürfte die Produktion deutscher Chemieunternehmen in China sein. Vor Ort kann der Markt besser bedient werden, wobei ein bedeutender Anteil in Form von Endprodukten von dort aus auf den Weltmarkt exportiert wird. In Elektronik, Konsumartikeln oder Autos „Made in China“ stecken chemische Produkte deutscher Konzerne. Ausländische Chemieunternehmen konzentrieren sich zunehmend auf technisch anspruchsvollere, profitable Segmente wie die Herstellung von Lacken und Beschichtungen oder hochwertige Klebstoffe für die Elektronikindustrie. Dabei müssen Investitions- und Erweiterungsentscheidungen im Einklang mit den globalen CO₂-Reduktionsplänen der Konzerne und Vorgaben der chinesischen Regierung stehen.
Trotz steigender geopolitischer Risiken sehen gerade die großen internationalen Chemiekonzerne weiterhin das immense Marktpotenzial Chinas und investieren weiter. Kleinere, eher mittelständisch geprägte Firmen zeigen sich derzeit hingegen eher zurückhaltend, weitere Investitionen zu tätigen.
Angesichts der Risiken wird geraten, verstärkt auf neue Märkte wie Indien zu setzen, das bevölkerungsreichste Land der Welt. Diese Ratschläge gab es jedoch schon vor Jahrzehnten, und in der Unternehmenspraxis dürfte Indien verschlossener und schwieriger als China sein. Außerdem sind auch dort große Konflikte nicht auszuschließen, beispielsweise bei militärischen Auseinandersetzungen mit Pakistan. Dazu kommt: Die Gewinne sind dort zu machen, wo sich die großen Märkte befinden, und auf den chinesischen Markt zu verzichten würde bedeuten, auf enorme Gewinnmöglichkeiten verzichten.
So investiert BASF in China
Die BASF-Geschäfte liefen in China 2022 nicht ganz so gut wie im Vorjahr. Der Konzern machte einen Umsatz von 11,6 Milliarden Euro (2021: 12 Mrd. Euro). Die Treibhausgas-Emission gibt BASF für 2022 mit 1.176.000 Tonnen an – 0,5 Prozent weniger als 2021. „Im Jahr 2022 hat BASF im Großraum China in einem schwierigen Marktumfeld Widerstandsfähigkeit bewiesen. Wir haben eine sichere Produktion, pünktliche Produktlieferungen und Geschäftskontinuität gewährleistet. Mit Blick auf die Zukunft erwarte ich eine Zusammenarbeit mit allen Stakeholdern, um eine nachhaltige Zukunft in China zu schaffen“, berichtet Dr. Jeffrey Lou President and Chairman Greater China, BASF.
Um in China schneller zu wachsen, sind hohe Investitionen erforderlich. „Der Bau des Verbundstandorts Zhanjiang soll das profitable Wachstum der BASF in der Region Asien-Pazifik weiter beschleunigen. Mit dem Bau der Zhanjiang-Verbundstandorte haben wir 2020 begonnen. Ab 2023 wollen wir unseren Verbundstandort in Nanjing, den wir gemeinsam mit Sinopec betreiben, erweitern, um der wachsenden Nachfrage nach Spezialchemikalien im chinesischen Markt gerecht zu werden. Teil dieser Investition sind neue Produktionsanlagen für ausgewählte Produkte in den Geschäftsbereichen Petrochemicals und Intermediates,“ so Lou.
Dabei setzt der Konzern auf neue Materialien und Entwicklung vor Ort. „Mit der Gründung der BASF Shanshan Battery Materials Co., Ltd. haben wir einen weiteren wichtigen Meilenstein erreicht, indem wir eine starke Präsenz von Batteriematerialien auf dem größten Markt geschaffen haben. Mit mehr Produktionskapazitäten und F&E-Einrichtungen sind wir gut aufgestellt, um Zellhersteller und OEM-Kunden in den relevanten Märkten mit maßgeschneiderten und nachhaltigen Lösungen zu bedienen. Durch den Spatenstich für die dritte Phase des Innovation Campus Shanghai, der voraussichtlich Anfang 2023 beschreibt Lou einige der aktuellen Investitionsprojekte.
Neue PE-Fabrik am Verbundstandort Zhanjiang
BASF hat im Juni 2023 mit dem Bau einer Polyethylen-Anlage am Verbundstandort in Zhanjiang begonnen, die 2025 in Betrieb gehen soll. Die neue Anlage mit einer jährlichen Produktionskapazität von 500.000 Tonnen PE soll die schnell wachsende Nachfrage in China bedienen.
„Die Nachfrage nach PE in China ist rasant gewachsen und wird die Nachfrage im Rest der Welt übertreffen. Mit dem ersten Spatenstich tritt BASF in den PE-Markt in China ein und wird am voll integrierten Produktionsstandort in Zhanjiang eine wettbewerbsfähige Produktion aufbauen, die unsere Kunden in der Konsumgüter-, Verpackungs-, Bau- und Transportindustrie bedient“, sagt Bir Darbar Mehta, Senior Vice President, Petrochemicals Asia Pacific bei BASF.
In Zhanjiang investiert BASF etwa zehn Milliarden US-Dollar in ein Werk, das die Dimension einer Kleinstadt hat. Über neun Quadratkilometer soll sich das „Hightech-Verbundwerk“ erstrecken. Die Kapazitäten allein der Ethylen-Produktion sollen sich auf eine Million Tonnen pro Jahr belaufen.
Doch auch in die anderen chinesischen Chemiestandorte investiert der Konzern kräftig. Ein neuer Campus zur Forschung und Entwicklung wurde am 27. Juni 2023 eröffnet. In den Innovation Campus Shanghai flossen seit 2012 Investitionen von bisher 280 Millionen Euro. Dr. Melanie Maas-Brunner, Mitglied des BASF-Vorstands und Chief Technology Officer, erklärte: „Unsere Kunden suchen mehr denn je nach innovativen Lösungen für eine nachhaltige Zukunft. Durch den Ausbau des BASF Innovation Campus Shanghai können wir schneller auf ihre wachsenden Bedürfnisse und Anforderungen in den Märkten in China und ganz Asien reagieren.“
Aktuelles aus der Industrie
Sie wollen auf dem Laufenden bleiben, was in der Welt der produzierenden Industrie gerade geschieht? Dann melden Sie sich hier zu unserem Newsletter an oder folgen Sie uns auf LinkedIn.
Deutschland und China: Beides keine idealen Standorte für BASF
In Europa, wo der Chemiekonzern rund 40 Prozent seines Umsatzes erwirtschaftet, stockt das Wachstum. BASF spricht in seinem aktuellen Geschäftsbericht von einem „deutlichen Ergebnisrückgang“ im europäischen Absatzmarkt. Nicht zuletzt der Krieg in der Ukraine habe deutlich gemacht, dass viele dringend nötige Modernisierungsanstrengungen in Deutschland und Europa zu lange hinausgezögert wurden – von der Digitalisierung über den schleppenden Ausbau der erneuerbaren Energien bis hin zu den notwendigen Investitionen in die Infrastruktur.
Das Chinageschäft berge jedoch erhebliche Rieken, warnen Kritiker. Wie bei Russland bestehe die Gefahr eines Totalausfalls. Der Konzern solle neue Märkte erschließen. Doch lukrative neue Märkte gibt es nur dort, wo auch die Nachfrage vorhanden ist. Und die neuen Investitionen sollen zudem die Chinastandorte unabhängiger vom europäischen Geschäft und damit krisensicherer machen.
Bayer verlagert Geschäft nach China und in die USA
Auch Bayer ist schon lange in China tätig: 1993 legte das Unternehmen mit der Unterzeichnung einer breit angelegten Kooperationsvereinbarung zwischen Bayer und dem Ministerium für Chemische Industrie der Grundstein für den Ausbau der Geschäftsaktivitäten in China. 2001 gründete Bayer einen integrierten Polymerstandort im Shanghai Chemical Industriepark. 2009 begann der Aufbau eines globalen pharmazeutischen Forschungs- und Entwicklungszentrums in Peking.
Auch Bayer wendet sich von Deutschland ab. Den europäischen Standort beschrieb Bayer-Pharmachef Stefan Oelrich Anfang 2023.als „innovationsunfreundlich“. Bayer wolle sich nun stärker auf China und die USA konzentrieren. China stehe Innovationen zunehmend positiv gegenüber, so Oelrich.
Merck: 70 Millionen Euro für Reagenzienherstellung in China
Auch Merck investiert weiter in China. Im chinesischen Nantong gab das Unternehmen 70 Millionen Euro aus, um die Produktionskapazitäten für hochreine Reagenzien zu erweitern. Die Produktionsstätte soll 2026 in Betrieb gehen. Am 2016 eröffneten Standort betreibt der Darmstädter Konzern bereits eine Produktionsstätte für Zellkulturmedien, und der Unternehmensbereich Healthcare produziert dort Arzneimittel.
„Mit dem anhaltenden Wachstum der Life-Science- und Biopharma-Branchen in China hat der Bedarf an hochwertigen Produkten und einer resilienteren Lieferkette zugenommen“, sagte Jean-Charles Wirth, Leiter der Geschäftseinheit Science & Lab Solutions des Unternehmensbereichs Life Science von Merck. Ein weiteres neues Investitionsprojekt von Merck sind Anlagen zur Herstellung von Halbleiter-Vorprodukten und Lagerung von Spezialgasen in der Provinz Jiangsu.
Merck möchte sein Pigmentgeschäfts verkaufen und hat Mitte Juni 2023 drei finale Offerten erhalten. Die US-Firma Vibrantz Technologies, im Besitz der Private-Equity-Firma American Securities, hat ebenso geboten wie die in der Chemiebranche erfahrene Beteiligungsgesellschaft Lone Star und der chinesische Wettbewerber Chesir. Die Gebote lägen bei etwa 750 bis über 850 Millionen Euro, hieß es, wobei das Chesir-Angebot das höchste sei.
Covestro errichtet in China sein größtes TPU-Werk
Der Umsatz von Covestro in China belief sich im Jahr 2022 auf mehr als 3,64 Milliarden Euro, was einem Fünftel des Konzernumsatzes entspricht und es zu einem der größten Märkte des Unternehmens macht. Die kumulierten Investitionen von Covestro in China überstiegen zum Ende des Jahres 2022 3,9 Milliarden Euro. Im Großraum China verfügt Covestro über zehn Produktionsstandorte, zwei Innovationszentren und rund 3.400 Mitarbeiter. China ist weltweit der größte Standort des Unternehmens.
Im südchinesischen Zhuhai will der Konzern jetzt sein bislang größtes Werk für Thermoplastische Polyurethane (TPU) bauen. Für das Projekt investiert Covestro einen niedrigen dreistelligen Millionen-Euro-Betrag, meldete das Unternehmen im Februar 2023. Das neue TPU-Werk mit einer jährlichen Kapazität von 120.000 Tonnen TPU pro Jahr soll in drei Phasen gebaut werden, die bis 2033 abgeschlossen sein sollen.
Es werde vor allem die asiatischen Märkte, aber auch Bedarfe in Europa und Nordamerika bedienen, so Govil. Dr. Andrea Maier-Richter, Leiterin TPU bei Covestro, sagte dazu: „Der Großteil des TPU-Marktes und seine Wachstumsaussichten liegen in Asien und insbesondere in China.“
Ein Teil der Investition fließt in ein Innovationszentrum, das es Forschern vor Ort ermöglichen soll, maßgeschneiderte Materialformeln zu entwerfen und Formelanpassungen vorzunehmen, um schnell auf Kundenanforderungen zu reagieren.
Ungarn: Drehkreuz für chinesische Chemie-Produkte
Auch wenn in Europa zunehmend in neue Branchen wie die Batterieproduktion investiert wird, dürften chemische Grundstoffe dafür weiterhin zu einem Großteil aus China kommen. Im März 2023 gab es eine Absichtserklärung zwischen China und Ungarn, ein chinesisches Chemiedrehkreuz in Ungarn einzurichten. Ein formelles Abkommen soll im September 2023 in China unterzeichnet werden. Ein Großteil der für Europa bestimmten chemischen Produktion soll aus China per Bahn nach Ungarn transportiert werden. Batteriefabriken und andere Industrieanlagen in Europa würden dann von den ungarischen Chemiestandorten aus beliefert. In Ungarn haben sich schon einige chinesische Unternehmen und Zulieferer der Batteriebranche angesiedelt.
Die globale Wirtschaft dürfte sich in den nächsten Jahren weiter drastisch verändern. Wenn in Westeuropa Investitionsbeschränkungen verstärkt werden, geht das Kapital verstärkt nach Osteuropa. Und wenn dies in den USA der Fall ist, gewinnen die lateinamerikanischen Länder als Industriestandort an Bedeutung. Dort liegen, ebenso wie in Afrika die Zukunftsmärkte mit den höchsten Wachstumsraten, nicht nur für die chemische Industrie. Deutschland muss sich dieser neuen Form des internationalen Wettbewerbs durch verbesserte Wirtschaftsstrukturen stellen.
Bearbeitung: Dagmar Merger, 12.9.2023