“Wir haben Busse organisiert, du und deine Kinder könnt aus der Ukraine fliehen!” Nachdem sie die erlösende Nachricht bekommen hat, begann Yulia S.* sofort nach ihrem und den Pässen ihrer Kinder zu suchen. Die Suche erfolgte in vollkommener Dunkelheit. Aus Angst vor russischen Kampffliegern müssen nachts alle Lichter ausbleiben. „Die Tage seit dem russischen Angriff waren wie ein Alptraum“, sagt die 36-jährige gegenüber PRODUKTION. Insbesondere um ihre Kinder machte sie sich große Sorgen. „Sie hatten große Angst, konnten die Situation nicht verstehen.“
Seit dem 2. März sind Yulia und ihre Kinder im sicheren Rumänien. Sie hat Arbeit und ihre Kinder sind betreut beziehungsweise in der Schule. Organisiert hat die Flucht ihr Arbeitgeber Leoni. Mehr als 100 Kolleginnen, teils mit Kindern, haben es Yulia gleichgetan und das Angebot ihres Arbeitgebers angenommen. Sie konnten die Ukraine verlassen und arbeiten am rumänischen Leoni-Standort Arad.
Insgesamt hat der Automobilzulieferer rund 7.000 Mitarbeitende an seinen beiden Standorten in der Westukraine. Von dort aus beliefert das Unternehmen auch viele deutsche Automobilhersteller unter anderem mit Bordnetzen. Nachdem die beiden Werke in Stryi (rund 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt) und Kolomyia (circa 100 Kilometer von der rumänischen Grenze entfernt) in den ersten Tagen des Krieges die Produktion eingestellt hatten, laufen beide nun trotz der Kampfhandlungen in eingeschränktem Betrieb und unter strengen Sicherheitsbestimmungen (wir berichteten).
Produktion fast wieder auf Vorkriegsniveau
„Mittlerweile haben wir bei der Produktion in der Ukraine an guten Tagen fast wieder das Vorkriegsniveau erreicht“, erklärt Leoni-CEO Aldo Kamper im Gespräch mit unserer Redaktion. Und das unter widrigsten Bedingungen. Immer wieder gibt es Raketenalarm. Die Produktion wird unterbrochen, die Mitarbeitenden bringen sich in Luftschutzbunkern in Sicherheit.
CEO Kamper betont, dass Leoni zu seinen beiden ukrainischen Standorten stehe. Man wolle möglichst vor Ort bleiben. Das sei auch der Wunsch der OEMs, die Leoni beliefert.
Den in der Ukraine verbliebenen Leoni-Werkern steht es, wie berichtet, angesichts der aktuellen Situation frei, zur Arbeit zur kommen. Der Zulieferer kommt ihnen entgegen, jeder bekommt sein volles Gehalt, ob er eine Schicht übernimmt oder zu Hause bleibt, um sich beispielsweise um die Familie zu kümmern.
Sieben Stunden dauert die Fahrt bis zur Grenze
Im Werk Kolomyia wird zwar wieder produziert. Doch insbesondere am Anfang des Krieges war die Angst unter den Mitarbeitenden groß, dass die russischen Panzer bis nach Kolomyia rollen könnten. Viele wollten fliehen. Leoni handelte schnell, die Personalabteilung organisierte mehrere Bustransfers nach Rumänien. Yulia S. war eine der Frauen, die mit ihren Kindern die helfende Hand ergriff.
Lange sieben Stunden dauerte die Fahrt bis zur ukrainisch-rumänischen Grenze. Während der ganzen Fahrt waren Leoni-Vertreter mit Kontaktpersonen im Bus im Austausch. Sind die Straßen frei? Gibt es Probleme?
An einem eher kleinen, unbekannten Grenzübergang (den wir auf Wunsch des Unternehmens nicht nennen, Anmerk. d. Red.) hieß es dann für die Leoni-Mitarbeiterinnen und ihre Kinder aussteigen und Bus wechseln. Dann ging die Fahrt weiter bis nach Arad.
In Rumänien ist gut für Yulia und ihre Kolleginnen gesorgt. Leoni hat Unterkünfte und Verpflegung organisiert. Die Werkerinnen können am Standort Arad mitarbeiten, teilweise haben sie sogar die Möglichkeit, die gleiche Tätigkeit auszuüben wie in ihrer ukrainischen Heimat. Yulia kümmert sich beispielweise auch in Rumänien als Quality Engineer um die Qualitätssicherung. „Ich fühle mich hier willkommen und bekomme viel Unterstützung“, so die 36-Jährige. „Meine Kinder sind froh, hier in Rumänien in die Schule gehen zu können. Wir haben alles, was man zum Leben braucht.“
„Bei der Integration der ukrainischen Kolleginnen bekommen wir viel Unterstützung von den rumänischen Behörden und von Freiwilligen“, betont Florin Dragomir, Werkleiter des Leoni-Standorts in Arad. 42 Kinder, die mit ihren Müttern aus der Ukraine fliehen konnten, gehen mittlerweile in rumänische Schulen. Zusätzlich haben sie Tablet-PCs bekommen, um an Online-Unterricht in ukrainischer Sprache teilnehmen zu können.
Sorge um Ehemann in der Ukraine
Ein Vorteil für die Geflohenen: In Arad gibt es wie in anderen rumänischen Landesteilen eine große ukrainische Community. „Sie unterstützen unsere ukrainischen Kolleginnen hier beispielsweise als Dolmetscher im Alltag“, so Werkleiter Dragomir. Auch im Leoni-Werk selbst gibt es Ukrainisch-sprachige Mitarbeitende. Ansonsten erfolgt die Kommunikation auf Englisch und notfalls hilft der Google-Translator weiter.
Dass man sich in der großen, 100.000 Mitarbeitenden umfassenden Leoni-Familie gegenseitig hilft, ist für CEO Aldo Kamper von immenser Bedeutung. „Ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter 100.000 Mitarbeitenden zu schaffen, ist ein hohes Gut. Das gelingt nur, wenn man es vorlebt. In diesen Zeiten heißt es, Haltung zu haben und vor allem diese Haltung auch beizubehalten, wenn es schwierig wird“, betont Kamper. Er ergänzt: „Es ist ein Glücksfall, dass wir die Ausreise und die Arbeit in Rumänien organisieren konnten.“
Dank ihrem Job hat sie so etwas wie Alltag, sagt Yulia. „Das wichtigste ist, in Sicherheit zu sein“. Sorgenfrei ist sie mitnichten. Ihr Ehemann, der auch bei Leoni angestellt ist, ist noch in der Ukraine – und wird in den nächsten Tagen für den Kampf gegen die russischen Invasoren zur Armee eingezogen.
*Name von der Redaktion geändert