Uninspiriert schlichen die Profis über das Spielfeld. Der FC Bayern enttäuschte unter Trainer Carlo Ancelotti. Ein neuer Coach musste her. Erfahren, kompetent und erfolgreich musste er sein. Die Wahl fiel auf Jupp Heynckes. Ein Vertrag war nicht nötig. Per Handschlag besiegelten Heynckes und FCB-Präsidium den Deal. So macht man das unter Freunden – wie unter ehrbaren Kaufmännern.
Als solchen sieht sich auch Rüdiger Tibbe. Er macht für viele Industrieunternehmen das, was Heynckes für den FC Bayern machte: Den Turnaround schaffen. Zuletzt war Tibbe für ein Carve-Out eines Münchner Beleutungsherstellers tätig. „Nachdem sich die Planzahlen aus dem Carve-Out nicht mit der Realität deckten, bin ich vom damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden angesprochen worden“, erklärt der hochgewachsene Manager in seinem Büro in Grünwald.
Nach seinem Eintritt bei besagtem Carve-Out im Oktober 2017 als Geschäftsführer und Chief Transformation Officer sowie – nach dem Ausscheiden des damaligen CEO – als Interims-CEO ist es ihm gelungen, das Unternehmen finanziell schnell zu stabilisieren. Er konnte die Restrukturierung einleiten, nach kurzer Zeit erste Erfolge beim Turnaround erzielen. Mit der Benennung eines neuen Aufsichtsratsvorsitzenden zum 1. Januar 2018 und der Bestellung eines neuen CEO ging die Zusammenarbeit zu Ende – einvernehmlich und freundschaftlich wie Tibbe betont. „In jedem Projekt kommt irgendwann der Zeitpunkt, zu dem beide Seiten übereinkommen, dass der Kunde das Steuer wieder übernimmt. Das gehört zu meinem Job.“
Entspannt lehnt sich der Manager zurück, schlägt die Beine übereinander. Der Besprechungsraum ist spartanisch eingerichtet, oder sollte man sagen ‚lean‘? Er konzentriert sich auf das Gespräch, keine Ablenkung durch Smartphone oder Laptop. Keine effektheischende Powerpoint-Präsentation über sein Unternehmen der Excelliance Management Partners. Vorbereitet ist er aber. Seine Antworten hat er auf mehreren DIN-A4-Seiten ausgedruckt vor sich liegen. Reinzuschauen braucht er nicht, er wird sie während des anderthalbstündigen Gesprächs nicht ein einziges Mal zur Hand nehmen.
"Das ist für mich berufliche Erfüllung"
„Das permanente kritische Hinterfragen von Situationen und Zuständen, das ist für mich die berufliche Erfüllung“, beschreibt Tibbe seinen Job als Führungskraft, seinen Traumjob. Lieber bei einem Konzern, der sich in ruhigen Fahrwassern bewegt, einen Posten bekleiden, als Unternehmen vor der Insolvenz retten? Nichts für Tibbe: „Mein Beruf fällt mir nicht schwer. Ganz im Gegenteil. Ich habe den für mich ‚leichtesten‘ Beruf gefunden, weil ich voll darin aufgehe. Das ist ein großes Glück.“ Zum reinen Verwalten sei er nicht bestimmt, für ihn undenkbar. „Ich stehe für kontinuierliche Verbesserung. Das bedeutet ständige Veränderung, Transformation bis hin zu einem Paradigmenwechsel.“
Klar, als Kind sah das anders aus. Wollen doch wohl die wenigsten Schüler Notfall-Manager werden. Auch Tibbe nicht: „Mit meinem Opa bin ich als Kind des Öfteren von Münster nach München gefahren. Und zwar mit dem Zug, gezogen von einem schwarzen dampfenden Ungetüm. Das hat mich damals derart beeindruckt, dass der Wunsch entstand, Lokomotivführer zu werden.“ Etwas später war es dann der Pilotenberuf und als Jugendlicher verliebte er sich in die Musik.
„Sogar eine Karriere als Rockmusiker schwirrte – sehr zum Leidwesen meiner Eltern – in meinem Kopf herum.“ Die beruflichen Träume und Wünsche haben sich in eine andere Richtung entwickelt. „Allerdings ernte ich heute noch verwunderte Blicke an der Ampel, wenn ich im Auto mit lauter Stimme ‚Sympathy For The Devil‘ von den Rolling Stones anstimme.“
Kein Masterplan, Tibbe ist ins Transformations- und Turnaround-Management reingerutscht. „Erst als ich mich beruflich weiterentwickelte, entstand irgendwann die Idee einer Karriere als Task Force Manager.“ Durch seine Zeit in der Autoindustrie hatte er im Laufe der Jahre Verantwortung für verschiedene Geschäftsbereiche und Projekte übernommen; sowohl in börsennotierten Konzernen als auch in mittelständischen Familienunternehmen. „Ich habe stets die Verantwortung gesucht und mich nie hinter einem Team versteckt“, kommentiert Tibbe. „Nachdem ich konzernmüde wurde, habe ich mich 1995 dazu entschlossen, den Schritt vom angestellten Manager zum Start-up-Unternehmer zu machen.“
Kein normaler Unternehmensberater
Mit einem ‚normalen‘ Unternehmensberater darf man Tibbe nicht verwechseln. Die klassische Beratung kommt üblicherweise mit großem Team und bezieht nur einen kleinen Teil der Mitarbeiter in ihr Tun mit ein. Tibbe kommt mit kleiner Mannschaft zum Unternehmen und involviert eine große Zahl an Mitarbeitern des Kunden. Darüber hinaus sieht er seine Mannschaft als spezialisierte Spezialisten.
Was er damit meint? „Wenn ein Uni-Absolvent in einer Unternehmensberatung das erste Mal auf ein Projekt fliegt, ist er – überzogen dargestellt – gleich der Spezialist für den Bereich Aviation.“ Sein Team habe hingegen schon Patina. Es besteht aus ehemaligen Industriemanagern mit viel Erfahrung. „Wir übernehmen die Verantwortung für das operative Management von strategischen Aufgabenstellungen nach dem Motto ‚Besser machen statt besser wissen!‘“
Noch ein entscheidender Unterschied zur klassischen Unternehmensberatung? Ja, ein ganz entscheidender. Tibbe selbst geht bei einem Unternehmen in Organschaft. „Ein Unternehmensberater hingegen scheut die Organschaft wie der Teufel das Weihwasser.“ Tibbe ist damit verantwortlich für das Unternehmen und macht sich im Ernstfall haftbar. Ein solches Risiko geht man nicht für jeden ein. So nimmt er nicht jeden Auftrag zur Unternehmensrettung an. „Wenn ich den Eindruck habe, dass sich ein Engagement mit meinen Werte- und Moralvorstellungen nicht vereinbaren lässt, dann würde ich definitiv von einem Engagement Abstand nehmen beziehungsweise erst gar nicht antreten.“
Darüber hinaus seien seine Voraussetzungen, dass die Gesellschafter ihm Vertrauen entgegenbringen und dass das Management an einem Strang zieht. „Und natürlich muss ich selbst davon überzeugt sein, dass ein Turnaround überhaupt möglich ist.“
Firmen sind oft in den roten Zahlen, wenn Tibbe kommt
Wenn ein Bundesligaverein einen neuen Trainer holt, ist er meist gerade auf einen Abstiegsplatz gerutscht. Wenn ein Unternehmen Tibbe holt, ist die Firma oft schon in den roten Zahlen. Vielleicht weil Absatzmärkte zurückgehen, Rohstoffpreise steigen, die Nachfrage wegen fehlender Produktinnovation oder attraktiverer Wettbewerber sinkt.
Das Unternehmen ist gezwungen, Kosten zu trimmen und gleichzeitig neue Strukturen aufbauen. „Dabei liegt das Problem häufig darin, dass die Unternehmen gar nicht wissen, wo sie überhaupt stehen, geschweige denn, wohin sie wollen“, sagt Tibbe. Die Frage nach den eigentlichen Ursachen für die Schieflage würden – bewusst oder unbewusst – erst gar nicht gestellt.
Auf dem Weg zum Turnaround müssen harte Entscheidungen getroffen werden. Dazu gehört auch die Schließung von Standorten – wie zuletzt beim Carve-Out in Augsburg.
Tibbe weiß um die Bedeutung des Traditionsstandorts: „Augsburg ist ein historisch wertvoller Standort für dieses Unternehmen. Jetzt kommt der Tibbe und sagt: ‚Wir schließen Augsburg.‘ Das ist wie eine Bombe eingeschlagen. Ich verstehe auch die emotionale Reaktion, die diese Nachricht nach sich zog.“ Niemand schließt ein Werk aus Bösartigkeit oder weil er nichts Besseres zu tun hat. „Es gibt ja Gründe für diese Entscheidung. Und diese liegen in der Vergangenheit.“ Im Falle des Carve-Outs hat sich der Lichtmarkt verändert. Das Unternehmen hatte nicht schnell genug auf den Wandel reagiert. Der Wettbewerb war schneller.
Mission den Abstieg zu verhindern
Die Reaktionen rund um den Fall fielen heftig aus. „Natürlich ist es zunächst einmal richtig, dass über unternehmerische Entscheidungen dieser Dimension eine öffentliche Debatte stattfindet. Und es ist auch richtig, dass die Arbeitnehmer und ihre Vertreter für den Erhalt von Standorten und Arbeitsplätzen kämpfen. Schließlich waren sie oft über Jahrzehnte für das Unternehmen tätig und verdienen unsere Wertschätzung“, kommentiert Tibbe. „Am Ende muss ein Geschäftsführer jedoch immer die Möglichkeit haben, eine unternehmerische Entscheidung zu treffen, auch wenn sie hart ist und die Schließung von Standorten bedeutet.“
Denn eine Schließung eines Standorts bedeutet nicht selten den Erhalt von Arbeitsplätzen an anderen Standorten des Unternehmens. Es ist wie bei einem Fußballclub. Verliert dieser ein Spiel nach dem anderen, muss ein Wandel stattfinden – ansonsten folgt der Abstieg.
„Ich bin also eine Art Coach, der kommt und die Mission hat, den Abstieg zu verhindern.“ Schon bald wird er wieder auf der Trainerbank des nächsten Industrieunternehmens sitzen.