Sucht man einen Ort, an dem die Umwälzungen im Automobilbau besonders drastisch zu sehen sind, ist Salzgitter sicher ein Top-Favorit. Volkswagen hat die Stahl- und Industriestadt in Südostniedersachsen ausgewählt, um hier ein Zentrum der europäischen Produktion von Batteriezellen zu installieren - gleich neben dem bestehenden Motorenwerk, aus dem seit Jahrzehnten viele Konzernmarken Benzin- und Dieselantriebe bekommen.
Am Donnerstag beginnt nun eine Etappe, die für die zweitgrößte Autogruppe von großer Bedeutung ist. Und diese könnte noch weit über VW und über Europa hinaus reichen.
Rasch haben sie zur Grundsteinlegung einige der üblichen Superlative parat. Vorstandschef Herbert Diess spricht von einem "Meilenstein für den Standort Deutschland", die Eröffnungssause heißt hip "Mission SalzGiga", mal wieder raunt die Branche über ein "Leuchtturmprojekt". Aber in der Tat markiert dieser Tag - abgesehen von allerlei Technik-Pathos und Marketing-Jubel - einen entscheidenden Schritt.
Denn Volkswagens erste deutsche "Gigafactory", wie man die Fabrik in Anspielung auf den Erzrivalen Tesla nennt, steht gleichermaßen für den Aufbruch in die elektrische Massenfertigung wie für das recht späte Erwachen der Autobauer, den dominanten Batteriemächten vor allem aus Asien etwas entgegenzusetzen. Bislang ist die Abhängigkeit hoch. Die brüchigen globalen Lieferketten bei Chips und Rohstoffen wie Lithium oder Kobalt sind ebenso ein Grund, warum sich Europas Wirtschaft mehr auf heimische Ressourcen besinnen will. Darauf wiesen zuletzt auch die deutsche Industrie und die Bundesbehörde BGR hin.
Die strategische Rolle, die E-Mobilität und Verkehrswende spielen, dürften Kanzler Olaf Scholz und Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil (beide SPD) in Salzgitter ansprechen. Daneben haben sich Diess, Technikvorstand Thomas Schmall und Betriebsratschefin Daniela Cavallo angesagt. Im Zellkomplex wird es weniger nach Metall und Maschinenöl riechen. Stattdessen gibt es Reinräume und automatisierte Anlagen, die eher an einen Mix aus Chipfabrik und Chemielabor erinnern.
Möglichst viele Beschäftigte sollen vom klassischen Motorenbau für die Batteriezell- und -modulherstellung weiterqualifiziert werden. Doch es ist auch nicht einfach, genügend zusätzliche Experten von außen zu gewinnen. Seit einiger Zeit betreibt VW eine Pilotlinie, in der bereits hausgemachte Batteriezellen für Probeserien entstehen.
Angedockt ist ein Forschungszentrum, perspektivisch soll ein Großteil des Batteriegeschäfts aus der Stammregion gesteuert werden. Ausgehend von einer elektrischen Gesamtenergie von 20 Gigawattstunden (GWh) ab 2025 peilt man in Salzgitter über mehrere Schritte eine Jahresmenge von 40 GWh an. Dabei geht es um die "Einheitszelle" - also einen Typ, der nicht für Oberklasse-, sondern für preiswertere Modelle gedacht ist und dank großer Volumina kostengünstiger produziert werden soll.
Europaweit errichtet Volkswagen bis 2030 sechs solcher Fabriken, jede davon soll etwa eine halbe Million E-Autos pro Jahr ausrüsten können. Im nordschwedischen Skellefteå, wo man bei Northvolt eingestiegen ist, wird auch schon gebaut. Die Schweden ziehen außerdem in Schleswig-Holstein ein eigenes Zellwerk hoch. VW selbst hat außer Salzgitter Valencia in Spanien genannt. Die übrigen drei Orte sind noch offen, es gibt Interessenten aus Deutschland und Osteuropa.
Börsengang der VW-Batteriesparte denkbar
Das ganze Zell-Netzwerk soll auf dem Kontinent Jobs in fünfstelliger Höhe schaffen. Beinahe scheint Diess das Schaulaufen der Politik vor der Festlegung auf die nächsten Fabriken zu genießen. Man könne sich "vor Bewerbungen kaum retten". Vor der Belegschaft erklärte er: "Von der Rohstoff-Beschaffung bis zum Batterie-Recycling wollen wir alles in der Hand behalten." Auch externe Kunden wie der US-Autobauer Ford oder Mahindra in Indien sollen mit Elektro-Plattformtechnik beliefert werden. Ein Börsengang der VW-Batteriesparte könnte folgen.
Darüber hinaus bildet der Konzern eine Subfirma, die unter anderem für Forschung, Rohstoffeinkauf und Entwicklung der Anlagenkonzepte zuständig ist. Zusammen mit Bosch will VW komplette Standardfabriken ausstatten. Für die USA werden ebenso weitere Pläne vorangetrieben.
Ob die derzeit veranschlagten Zahlen ausreichen, wenn der E-Mobilität der Durchbruch gelingen soll, hält manch einer indes für fraglich. "Neben dem dringlichen Ausbau der Ladeinfrastruktur ist eine deutlich breitere Produktpalette im Einstiegssegment notwendig", sagt Marcus Hoffmann vom Beratungsunternehmen PwC Strategy&. Diess sieht eher die Zellen als möglichen Mangelfaktor, nicht mehr so sehr die Ladepunkte.
Hier wie da bleibt viel zu tun. Die von Klimaschützern vermissten E-Kleinwagen für 20.000 Euro sollen ab 2025 kommen, bisher boten die VW-Marken reine Stromer bevorzugt im Ober-, Mittel- oder bestenfalls oberen Kompaktsegment an. Ein ID.2 im Polo-Format wird diskutiert.
Investitionen sind gewaltig
Stefan Reindl, Direktor des Instituts für Automobilwirtschaft (IfA) in Geislingen, verweist wie auch einige VW-Stimmen darauf, dass das Tempo bei der Erweiterung der Kapazitäten jetzt nicht nachlassen dürfe. Mercedes, BMW oder Opel investieren in Deutschland ebenso in leistungsstarke Auto-Akkus. Der Grad der Eigeninitiative sowie die Beteiligungs- und Finanzierungsmodelle sind aber unterschiedlich.
Strebe man allein für die Bundesrepublik im Jahr 2025 eine Zahl von gut 600.000 im Inland verkauften und etwa drei Millionen produzierten E-Autos an, dann könnte eine anteilige Energiemenge von etwas mehr als 220 GWh genügen, schätzt Reindl. In der Zeit danach müsse wohl einiges nachkommen: "In der Langfristperspektive wären mehr als 600 GWh nach den vorliegenden Daten möglich." Die Investitionen sind also gewaltig. Doch er findet, das Risiko sollten die Anbieter eingehen.
Schließlich nehme der Hunger nach Batteriezellen weltweit zu, betont der IfA-Chef: "Insgesamt sind zur Deckung der Nachfrage, die relativ dynamisch wächst, zusätzliche Produktionsstätten notwendig." Ganz zu schweigen von Lerneffekten und neuer Arbeit für die neue Auto-Ära.