Laut einer Studie fuhr jeder zweite Gabelstaplerfahrer 2014 noch auf Zuruf und Sicht. Ganz anders der Autofahrer: Fahrerassistenzsysteme, wie Fahrdynamikregelungen oder Abstandsregler, gehören seit Jahren zur Standardausrüstung beim Neuwagenkauf. Und dies aus gutem Grund: Sie erhöhen Sicherheit und Komfort merklich. Doch wie lässt sich das auf die Intralogistik übertragen?
Aktive Entwicklung für die Lagerlogistik
Einen Ansatz bietet das Forschungsprojekt ‚Safe‘ der Entwicklungspartner Continental und TH Ingolstadt: ‚Safe‘ ermöglicht mithilfe von Kamera-, Radar- und Lidarsensoren die sichere Prädiktion der Schwere eines zu erwartenden Unfalls sowie das Auslösen von Schutzsystemen vor und zum Kollisionszeitpunkt. Eine Safety Domain Control Unit steuert die Entscheidung, welche Sicherheitsmaßnahmen erfolgen.
Unternehmen optimieren Transport
Am Beispiel eines Flurförderzeugs zeigen die Technologiepartner, wie vernetzte Sensortechnologie zu einer deutlich erhöhten Fahr- und Arbeitssicherheit in der Intralogistik beitragen kann. Arbeitsunfälle in Lagerhallen können so reduziert werden. Außerdem ermöglicht die vernetzte Sensortechnologie die Automation von Flurförderzeugen. Sie ist damit die Grundlage für ein voll vernetztes, integriertes und automatisiertes Lager der Zukunft.
Prozeß noch nicht abgeschlossen
Eine der Herausforderungen für die Umfeldsensorik ist der Einfluss der Umwelt auf die auszuwertenden Signale. So wird auch die Auswirkung von Nebel untersucht, der den Sichtbereich stört. An der Visualisierung der empfangenen Sensorsignale sind die Veränderungen dadurch deutlich zu erkennen.
Logistik schielt zur Automotiv-Industrie
Dieser Thematik angenommen hat sich Institutsleiter Thomas Brandmeier, der das Forschungs- und Testzentrum ‚Carissma‘ für den Bereich ‚Fahrzeugsicherheit‘ für zukünftige automatisierte Fahrzeuge an der TH Ingolstadt leitet. Dazu Christian Birkner, Professor für Testmethoden in der Fahrzeugsicherheit, Fahrzeugsysteme und deren Regelungen an der THI: „Gemeinsam mit Continental erforschen wir neue Sicherheitssysteme für automatisierte oder autonome Fahrzeuge, die dann von Continental industrialisiert und in den Markt eingeführt werden.“
Verschiedene Sensoren im Einsatz
In diesem Zusammenhang nutze er Videosensoren, Radarsensoren und inzwischen auch Lidarsensoren – also die Sensoren, die derzeit in den Fahrerassistenzsystemen bei Automobilen genutzt werden.
Intralogistik-Branche optimiert Schutz
Über das Ziel, das Birkner vorschwebt, hat er eine eindeutige Definition: „Wir nutzen die Sensorsysteme dafür, eine vorausschauende Unfallerkennung möglich zu machen.“ Allerdings seien die jetzigen Sensoren auf eine größere Distanz im Bereich von 200 bis etwas unter 20 Meter Abstand ausgelegt. Je kleiner der Abstand von Fahrzeugen, desto schwieriger werde es, aus den gewonnenen Daten Objektinformationen herauszulesen und desto zeitkritischer ist die Situation für Korrekturmaßnahmen. Vor allem, wenn das Objekt nur noch teilweise im Sichtfeld des Sensors sei.
Autonomes Fahren in Reichweite
Diese Systeme für den automobilen Bereich könnten zu einem späteren Zeitpunkt für die Sicherheit anderer autonomer Fahrzeuge wie beispielsweise für Gabelstapler eingesetzt werden. Birkner weiter: „Die Herausforderung liegt in der Umfelderkennung im Nahbereich – bis zur Berührung, bis zum Abstand ‚Null‘. Das System muss dabei eine so hohe Zuverlässigkeit in der vorausschauenden Unfallerkennung haben, dass irreversible Aktoren wie zum Beispiel Airbags in Fahrzeugen oder aber Brems- und Lenkeingriffe möglich sind.“
Lidar gut, aber teuer
Neben Lidar, Radar und kamerabasierten Systemen sei auch der Einsatz von Ultraschall möglich, „da ist die Windempfindlichkeit aber sehr groß – schon bei einer höheren Geschwindigkeit als beim Einparken. Mono- oder Stereo-Video-Kamerasysteme und Radar werden bevorzugt eingesetzt, da sie kostengünstig sind. So kann bei einer Stereokamera über die Auswertung direkt eine Aussage über die Entfernung gemacht werden. Lidar ist von der Performance her noch deutlich besser, aber derzeit noch zu teuer für einen großen Serieneinsatz“, erläutert Birkner.
360°-Blick um den Stapler
Linde bietet neues Umgebungskamerasystem Surround View an:
Gerät ein Fußgänger in den ‚toten Winkel‘ eines Gabelstaplers, wird es gefährlich. Denn sieht der Fahrer die Person zu spät oder gar nicht, kommt es schnell zum Unfall. 44 Prozent aller meldepflichtigen Unfälle mit Gabelstaplern entfielen laut Deutscher Gesetzlicher Unfallversicherung (DGUV) im Jahr 2016 auf das Anfahren, Einquetschen o. ä. von Personen. Damit solche brenzligen Situationen erst gar nicht entstehen, bietet Linde MH ein ‚Surround View‘-System an.
Im Automobilbereich bieten zahlreiche Hersteller sogenannte Bird-View-Systemlösungen als videobasierte Einparkhilfe an. Systemseitig setzt sich das Ganze aus mehreren Kameras zusammen, deren Einzelbilder über eine entsprechende Software zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. In dieses Bild platziert der Bordcomputer dann die Konturen des Fahrzeugs und zeigt es dem Fahrer als virtuelle Vogelperspektive an.
Das jetzt von Linde angebotene ‚Surround View‘-System geht einen Schritt weiter. Die Bilddarstellung basiert zwar ebenfalls auf den Live-Daten von rund um den Stapler angebrachten Kameras. Statt eines einzigen Gesamtbildes werden jedoch ein vorderer, zwei seitliche und ein hinterer Sichtbereich erzeugt. Das große Plus dieser Lösung: Die Kameraansichten werden 1 : 1 als Splitscreen auf dem Monitor am Fahrerarbeitsplatz angezeigt. Eine verzerrte und dadurch möglicherweise undeutliche Darstellung der Kamera-Überschneidungsbereiche wie beim Bird-View-System wird vermieden. Befindet sich eine Person im Überschneidungsbereich von zwei Kameras, wird sie in beiden Sichtbereichen angezeigt.
Optimierung des Betriebs
Wichtig ist, dass die Systeme auch unter allen Wetterbedingungen funktionieren. Diese Frage stellt sich zwar bei einem Flurförderzeug in einer Halle nicht, dort sind hingegen andere Einflüsse wie zum Beispiel Staub zu berücksichtigen. „Im Regen hat Radar durch die Rückstreuung der Tropfen Probleme, funktioniert jedoch bei Nebel. Das Video- und Lidarsignal hilft bei Nebel nicht, kann aber zwischen den Tropfen hindurch gucken. Durch die Kombination verschiedener Sensortechnologien können wir bei schwierigen Wetterbedingungen oder auch bei Staub das Umfeld sicherer erkennen. So benötigen wir immer mehrere Sensorsysteme. Für die Nacht testen wir auch Infrarot. Das wird in Zukunft noch bedeutender werden“, verdeutlicht Birkner.
"Wir nutzen die Sensorsysteme dafür, eine vorausschauende Unfallerkennung möglich zu machen", sagt Christian Birkner, Testmethoden für Fahrzeugsicherheit, Fahrzeugsysteme und deren Regelungen, THI. - Bild: Technische Hochschule Ingolstadt
Höhere Frequenzen bei den Sensoren
Spannend ist im Anschluss die Auswertung, wenn die jeweiligen Objekte erkannt worden sind. Da kommt es darauf an, „wie wir diese plausibilisieren beziehungsweise durch einen anderen Sensor bestätigen. Das Ganze muss natürlich schnell passieren, vor allem die Sensoren für den Nahbereich müssen darauf ausgelegt werden. Da benötigt man einen ‚fast mode‘, bei dem die Sensoren mit deutlich höherer Frequenz arbeiten werden. Insgesamt gehen wir bei den Sensoren zu höheren Frequenzen“, beschreibt Birkner.
Assistenzsystem für Flurförderzeuge
Doch welche Aktivierungssysteme greifen bei drohendem Kontakt? „Wenn wir merken, dass Bremsen nicht mehr ausreicht, greifen passive Systeme wie Airbags. Die können sowohl im Fahrzeug verbaut sein als auch außerhalb, um einen Mitarbeiter bei einem Kontakt mit einem Stapler zu schützen. Unser Ziel ist es eben, den Airbag nicht wie üblich nach, sondern bereits vor der Berührung auszulösen“, betont Birkner.
Mehr an Sicherheit in der Lagerlogistik
Ähnliche, den Staplerfahrer unterstützende Systeme, sind durchaus schon in der Intralogistik im Einsatz, so wie das ‚Surround View‘ (s. a. Kasten) von Linde Material Handling: „Das Mehr an Sicht bedeutet auch höhere Produktivität. Denn der Fahrer kann effizienter, schneller und ergonomischer arbeiten. Beispielsweise sieht er beim Einlagern, was vor den Gabelzinken passiert – selbst dann, wenn die Last die Sicht behindert“, sagt Frank Bergmann, Produktmanager Frontstapler.
Ausbildung für Fachkraft kaum notwendig
Gerade in engen Arbeitsbereichen und bei Rangiervorgängen sei die Option ein echter Gewinn, so Bergmann: „Jeder Winkel um das Fahrzeug wird für den Bediener sichtbar. Und das ist gerade in Bereichen, wo der Platz beschränkt ist oder sich Menschen und Stapler häufig begegnen, für die betriebliche Sicherheit von entscheidender Bedeutung.“