Im Juli 2022 wurde mit der IEC 63278-1:2022-07 ein standardisiertes Informationsmodell der Verwaltungsschale für den digitalen Zwilling präsentiert. Sie soll die Digitalisierung in den Fabriken wesentlich vorantreiben und als durchgängiges Modell Daten über den gesamten Lebenszyklus aller Komponenten sammeln. Die Ziele: Schnelleres Engineering, höhere Produktivität, geringere Wartungskosten, verbesserte Nachhaltigkeit. Aber noch steckt die Verwaltungsschale in den Kinderschuhen – wie kommt sie dort heraus?
„Um die Verwirrung auf dem Markt aufzulösen: Wir müssen zwischen digitalen Zwillingen und der standardisierten Verwaltungsschale unterscheiden“, stellt Andreas Faath, Managing Director Machine Information Interoperability beim VDMA, klar. „Es gibt bereits unzählige digitale Zwillinge, die nichts mit der standardisierten Verwaltungsschale zu tun haben und die dennoch im Maschinenbau genutzt werden.“ Diese virtuellen Abbilder erfüllen schon heute herstellerspezifisch die Anforderungen der Anwender in verschiedenen Umfängen. Das erhöht zwar die Komplexität, aber die Maschinenhersteller nutzen und beherrschen die jeweiligen Umgebungen bereits im Alltag. Sie haben schrittweise die Entwicklung mitvollzogen.
Die genaue technische Ausgestaltung wird jedoch noch entwickelt und muss sich dann um Akzeptanz und Adaption bemühen.
Auf Standards basierte, herstellerübergreifende Verwaltungsschale
Eine auf Standards basierte, herstellerübergreifende Verwaltungsschale klingt natürlich verlockend. Aber eine Umfrage unter mehr als einem Dutzend Maschinenherstellern unterschiedlicher Branchen und Größen erntet ein dröhnendes Schweigen. Dieses Thema sei zu unterschwellig, derzeit nicht aktuell, auf absehbare Zeit noch nicht relevant. Ist die Verwaltungsschale damit schon vor dem Start gescheitert? Die Antwort: Für ein Requiem ist es viel zu früh, aber es müssen noch wesentliche Voraussetzungen geschaffen werden.
Daten über den gesamten Lebenszyklus
„Die Standardisierung der Verwaltungsschale ist noch lange nicht abgeschlossen, sie muss sich im Ökosystem integrieren und reifen, damit sie weitreichend in der Industrie umgesetzt wird“, schätzt Faath die Ausgangssituation ein. Ihm fehlen dementsprechend derzeit noch weitreichende und in der Praxis umgesetzte Anwendungsfälle mit entsprechenden Werteversprechen, auch wenn bereits erste Demonstrationen existieren.
Verwaltungsschale bringt Transparenz in der Fertigung
Ein Unterschied zu bisherigen Ansätzen, die vorrangig Live-Daten zur Verfügung stellen: Die standardisierte Verwaltungsschale sammelt Daten über den gesamten Lebenszyklus und legt entsprechende Files an.
„Das Konzept ist gut und die derzeitige Standardisierung geht in die richtige Richtung, die genaue technische Ausgestaltung wird jedoch noch entwickelt und muss sich dann um Akzeptanz und Adaption bemühen“, beschreibt Faath eine Herausforderung. „Derzeit ist auch noch die Frage offen, wie zum Beispiel Verwaltungsschale, OPC UA und AML konsistent und komplementär miteinander eingesetzt und wie bestehende Systeme integriert werden.“
Genau diese Frage treibt auch Johannes Olbort, Projektleiter für interoperable Schnittstellen in der Produktion beim VDMA, um. Für ihn ist eine auf herstellerübergreifende Standards basierende Verwaltungsschale ein wichtiges Element für Transparenz in der Fertigung: „Aber sie ist nur eine technische Ausprägung digitaler Zwillinge, neben anderen standardisierten wie auch proprietären Lösungen.“
Für den Erfolg und die Akzeptanz entscheidend sei, dass sie auf etablierten Standards und Schnittstellen der Fabrikautomation aufsetzt und industriellen Anforderungen nach Langlebigkeit und Support durch zahlreiche Marktteilnehmer erfüllt.
Bislang gibt es Brüche zwischen Unternehmen.
Standards sind Angebote an den Markt
Das sieht auch Stefan Hoppe, President and Executive Director der OPC Foundation so: „Die Idee der Verwaltungsschale ist gut und macht absolut Sinn.“ Aus seiner Sicht erfüllen die herstellerübergreifenden Standards OPC UA, in Kombination mit AutomationML, bereits die Anforderungen für die Realisierung der IEC 63278. „Standards sind immer Angebote an den Markt und eine Exklusivität der Middleware durch einen Standard wird es aus meiner Sicht niemals geben.“ Darum plädiert er eindringlich dafür, die Verwaltungsschalen Sub-Modelle wie Carbon-Footprint mit ca. 80 Parametern schnell auf Basis einer OPC UA Companion-Spezifikation in den Markt zu tragen.
„Wir entwickeln OPC UA seit 17 Jahren kontinuierlich weiter, ohne einen Kompatibilitätsbruch. Die benötigten IT-Schnittstellen wie MQTT und REST-Interface sind seit langer Zeit verfügbar. Das passt zu den Innovationszyklen im Maschinenbau.“ Andreas Faath bestätigt, dass für neue Standards mindestens eine Dekade angesetzt werden kann, um sich am Markt durchzusetzen.
Eine Exklusivität der Middleware durch einen Standard wird es aus meiner Sicht niemals geben.
Vielversprechender Anwendungsfall digitaler Produktpass
Bleibt die Frage nach einem konkreten Anwendungsfall offen. Hier zeichnet sich für Hersteller die Bereitstellung des Product Carbon Footprint (PCF) eigener und zugekaufter Produkte entlang der gesamten Wertschöpfungskette als Use Case ab. Die Europäische Union plant die Einführung eines digitalen Produktpasses, in dem alle relevanten Umweltdaten hinterlegt sind.
„Bislang gibt es Brüche zwischen Unternehmen bei der einheitlichen Bereitstellung solcher Umweltdaten wie dem PCF“, beschreibt Johannes Olbort die Situation. „Hier brauchen wir mehr Transparenz, damit Unternehmen zum Beispiel auf Knopfdruck die Summe aller CO2-Äquivalente abrufen, aber auch je nach Anwendungsfall an ihre Kunden weitergeben können – das wäre ein klarer Use Case.“
Nachhaltigkeit fördern und Energieeffizienz fördern.
Nachhaltigkeit fördern und Energieeffizienz erhöhen
An diesem Punkt sehen auch erste Unternehmen Ansatzpunkte. „Wir beteiligen uns seit vielen Jahren aktiv an der Weiterentwicklung der Verwaltungsschale in der Plattform Industrie 4.0, bei der IDTA sowie im Digital Data Chain Consortium“, betont Kai Garrels, Leiter Standardisierung und Verbandsarbeit, Electrification Business, ABB Stotz-Kontakt GmbH. Das Unternehmen ist auf die elektrische Ausrüstung und Automatisierung von Gebäuden, Maschinen und Anlagen spezialisiert. „Wir legen dabei unseren Schwerpunkt auf Anwendungen, die Nachhaltigkeit fördern und Energieeffizienz erhöhen.“
Verwaltungsschale als zentrales Element in der Datenökonomie
„Wenn sich die standardisierte Verwaltungsschale komplementär in bestehende Systeme und Technologien einfügt und Anwender ihre Daten von einer Stelle aus explorieren können, kann sie zu einem zentralen Element in der Datenökonomie werden, zeigt Andreas Faath einen möglichen Erfolgskurs auf. Dieser Aufgabe stellt sich die Industrial Digital Twin Association (IDTA), die unter Beteiligung und auf Initiative von VDMA und ZVEI aus der Taufe gehoben wurde. Andreas Faath ist sicher: „Die industrie- und anwendungsfallzentrierte Entwicklung in der IDTA ist von großer Bedeutung.“
Überarbeitet von: Dietmar Poll
Was ist eine Verwaltungsschale?
Eine Verwaltungsschale (englisch: Asset Administration Shell, AAS) ist ein herstellerübergreifender und branchenneutraler Standard für die Bereitstellung von Informationen und die Kommunikation in Industrie 4.0 und dem Digitalen Zwilling. Sie dienen als digitale Abbildung eines Assets, das die Merkmale und Verhaltensweisen eines physischen oder virtuellen Objekts darstellt. Die Verwaltungsschale erfüllt verschiedene Eigenschaften wie Abstraktion (Typ vs. Instanz), Identifizierbarkeit und Kommunikationsfähigkeit ist. Sie ist eine Schnittstelle, über die alle relevanten Daten und Informationen zugänglich sind. In der DIN SPEC 91345 wird die Verwaltungsschale als Grundlage für zukünftige offene dezentrale Ökosysteme und innovative Anwendungen bezeichnet.
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