Zollschock trifft Produktionsstandorte hart

Zollpolitik beschleunigt Industrieabwanderung

Steigende Zollkosten, Protektionismus und globale Unsicherheiten bringen Bewegung in die industrielle Landkarte. Produktionsverlagerungen nehmen rasant zu – mit weitreichenden Folgen für Wertschöpfung, Forschung und Supply Chains.

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Die Zollpolitik der vergangenen Monate hat die Abwanderung der Industrie aus Deutschland beschleunigt. Das zeigt der aktuelle Supply Chain Pulse Check von Deloitte und BDI.
Die Zollpolitik der vergangenen Monate hat die Abwanderung der Industrie aus Deutschland beschleunigt. Das zeigt der aktuelle Supply Chain Pulse Check von Deloitte und BDI.

Industrie auf dem Rückzug

Die aktuelle Ausgabe des „Supply Chain Pulse Check“ von Deloitte und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) liefert alarmierende Zahlen: Bereits jedes fünfte Unternehmen des produzierenden Gewerbes hat seine Produktion ins Ausland verlagert. Gegenüber 2023 bedeutet das einen Anstieg von acht Prozentpunkten. Die Untersuchung basiert auf einer Befragung von 148 Lieferketten-Verantwortlichen aus zentralen Industriebranchen wie Automobil, Technologie, Maschinenbau, Energie und Chemie.

Besonders auffällig: Die Verlagerung betrifft längst nicht mehr nur die Produktion. Auch Forschung, Entwicklung und Verwaltungsfunktionen geraten zunehmend unter Druck. So gaben 17 Prozent der Unternehmen an, ihre Entwicklung ins Ausland verlegt zu haben – ein Anstieg um fünf Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr. Die Verlagerung von Forschungsabteilungen stieg von zehn auf 13 Prozent. Auch in der Endmontage zeigt sich eine vergleichbare Dynamik: 18 Prozent der Befragten haben diesen Bereich ins Ausland ausgelagert, ein Anstieg von sieben Prozentpunkten.

Planung auf Distanz

Die nächsten Schritte sind bereits in der Pipeline. Laut Studie planen 43 Prozent der Unternehmen innerhalb der kommenden zwei bis drei Jahre eine Verlagerung der Produktion. Vor zwei Jahren lag dieser Wert noch bei 33 Prozent.

Auch in den vor- und nachgelagerten Bereichen der Produktion zeichnen sich deutliche Tendenzen ab. 30 Prozent planen, ihre Entwicklungsabteilungen ins Ausland zu verlegen (2023: 24 Prozent), 35 Prozent rechnen mit einer Auslagerung der Forschung (2023: 23 Prozent). Einkaufs-, Vertriebs- und Marketingfunktionen stehen ebenfalls im Fokus möglicher Standortverlagerungen.

Zielmärkte der Industrie

Europa bleibt mit 30 Prozent der Nennungen das bevorzugte Zielgebiet der Industrie. Die USA folgen mit 26 Prozent, Asien ohne China wird von 19 Prozent genannt. Auffällig ist die differenzierte Betrachtung Chinas: 16 Prozent der Unternehmen planen weiterhin, Teile ihrer Wertschöpfung dorthin zu verlagern. Indien wird mit 14 Prozent ebenfalls als attraktiver Standort wahrgenommen.

Es gibt jedoch auch Gegenbewegungen: Neun Prozent der Unternehmen haben Produktion oder andere Funktionen aus China nach Europa zurückverlagert. Eine Rückverlagerung aus den USA erfolgte bei sieben Prozent.

Dr. Jürgen Sandau, Partner und Lieferkettenexperte bei Deloitte, warnt vor vorschnellen Schlüssen: „Kurzfristig können die Unternehmen anderswo zwar kostengünstiger produzieren, aber dadurch werden sie nicht unbedingt resilienter. Wenn sich der neue Standort nicht als sicherer Hafen erweist, macht ein Lieferstillstand sehr schnell alle Einsparungseffekte zunichte.“

Kostenfalle Lieferkette

Die Absicherung internationaler Lieferketten wird zunehmend zur Herausforderung. Infolge protektionistischer Tendenzen und geopolitischer Unsicherheiten steigen die Kosten dramatisch.

53 Prozent der befragten Unternehmen berichten von einem leichten Anstieg ihrer Ausgaben zur Absicherung der Lieferketten. Bei 39 Prozent sind diese Ausgaben stark oder sehr stark gestiegen.

Die Zollpolitik der vergangenen Monate hat bei 66 Prozent der Unternehmen die Beschaffungskosten erhöht. Gleichzeitig kämpfen 52 Prozent mit gestiegenen Verwaltungskosten, während 53 Prozent sinkende Margen verzeichnen.

FAQ zum Supply Chain Pulse Check

  • Welche Bereiche der Industrie sind besonders von der Abwanderung betroffen? Neben der Produktion verlagern Unternehmen zunehmend auch Entwicklung, Forschung sowie Einkaufs-, Vertriebs- und Marketingfunktionen.
  • Was sind die Hauptgründe für die Verlagerung? Gestiegene Zollkosten, protektionistische Maßnahmen, steigende Verwaltungskosten und sinkende Margen zählen zu den Hauptursachen.
  • Welche Rolle spielt KI in diesem Kontext? KI gilt als Hoffnungsträger zur Effizienzsteigerung und Risikominimierung, wird aber bisher nur begrenzt eingesetzt.
  • Gibt es Rückverlagerungen nach Europa? Ja, neun Prozent der Unternehmen verlagerten aus China, sieben Prozent aus den USA zurück nach Europa.

Hoffnungsträger Künstliche Intelligenz

Technologie soll gegensteuern – zumindest in der Theorie. Künstliche Intelligenz wird von vielen Unternehmen als Schlüsseltechnologie zur Optimierung von Lieferketten betrachtet.

Laut Studie glauben 54 Prozent, dass KI die Supply Chain stark oder sehr stark verbessern kann. Für 58 Prozent steht fest, dass betriebliche Effizienz durch KI deutlich gesteigert werden kann. Beim Bestandsmanagement sehen sogar 65 Prozent ein großes bis sehr großes Potenzial, bei der Entscheidungsfindung 46 Prozent.

In der Praxis zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Nur 41 Prozent der Unternehmen nutzen Technologien zur Früherkennung von Lieferschwierigkeiten. Noch geringer ist der Anteil derer, die KI aktiv zur Planung ihrer Lieferketten einsetzen – lediglich 34 Prozent.

Dr. Jürgen Sandau sieht in der Digitalisierung einen kritischen Faktor: „Umfassend digitalisierte und diversifizierte Lieferketten können helfen, Produktionsstopps und Lieferengpässe zu vermeiden. Für die Resilienz der Unternehmen ist das eine wesentliche Voraussetzung.“

Industrie vor dem Strukturwandel

Die Auslagerung zentraler Wertschöpfungsbereiche ist nicht nur ein betriebswirtschaftlicher Schritt, sondern spiegelt einen tiefgreifenden Strukturwandel wider. Die Kombination aus wachsendem Kostendruck, geopolitischen Risiken und technologischen Lücken zwingt viele Unternehmen, ihre Standortstrategien grundlegend zu überdenken.

Nicht nur die physischen Produktionsstätten wandern ab, sondern auch Know-how, Innovationskraft und systemrelevante Prozesse. Forschung und Entwicklung im Ausland könnten langfristig Auswirkungen auf den Technologiestandort Deutschland haben.

Ein Rückgang der Innovationsdichte in Verbindung mit einer erschwerten Absicherung globaler Lieferketten könnte mittelfristig die Wettbewerbsfähigkeit zahlreicher Industriezweige gefährden.

Mit Material von Deloitte