Im Chemiewerk in Böhlen bedeutet jeder Tag Stillstand rund eine Million Euro Umsatzausfall. Kein Wunder also, dass Olaf Fuchs von TÜV SÜD Chemie Service ein eingespieltes Expertenteam für den Auftrag zusammengestellt hat: “Für diesen Turnaround haben wir zusätzlich zu unseren drei Sachverständigen in Schkopau noch zehn weitere aus unserem bundesweiten Niederlassungsnetz zusammengezogen.”
Die Männer bringen Erfahrung und genaue Kenntnisse der Anlage mit. Entscheidendende Eigenschaften, denn ohne jahrelange Praxis in der chemischen Industrie könnten sie beispielsweise Korrosionsbilder nicht richtig einstufen. “Eine Schweißnaht von damals ist nicht mit einer Automatennaht von heute vergleichbar”, sagt Olaf Fuchs. Das bedeute aber nicht, dass sie nicht mehr integer sei.
Der Cracker steht im Zentrum
Herzstück des Olefinkomplexes ist der sogenannte Cracker. Über eine mehr als 430 Kilometer lange Pipeline kommt das Rohbenzin direkt aus dem Rostocker Hafen ins Dow-Chemiewerk. Im Cracker wird das Naphtha in 15 Brennöfen bei rund 800 Grad Celsius in Kohlenwasserstoffverbindungen wie Ethylen oder Propylen aufgespalten. Böhlen beliefert die Werke und Anlagen in Schkopau und Leuna mit Vorprodukten. Dort werden sie zu hochwertigen Kunststoffen weiterverarbeitet. Die Besonderheit: Der Cracker versorgt intern auch noch Anlagenteile mit Prozessdampf.
Nachteil: “Wenn der Cracker hustet, dann husten alle”, sagt Olaf Fuchs. Aber nicht nur das: Bevor der Cracker überprüft werden kann, müssen entsprechend alle anderen Anlagen und Anlagenteile stillgelegt und überholt werden. Allein das benötigt zehn Tage.
Peter Goth, Sachverständiger von TÜV SÜD Chemie Service, kennt den Cracker seit seiner Errichtung vor rund 40 Jahren. Zielstrebig navigiert er durch das Labyrinth aus Stahlträgern, Rohren und Apparaturen. Er will eine Schweißnaht an einer kanaldicken Rohrleitung zeigen. Für Laien sieht sie sehr ungewöhnlich aus. “Auf den ersten Blick mag sie etwas unsauber erscheinen, doch die Naht ist hochwertige Handarbeit und nach dutzenden Betriebsjahren noch immer integer”, versichert er. Für ihn ist sie sogar “die Handschrift eines Fachmanns, der sein Handwerk gelernt hat.” Wer nur die lupenreinen Schweißnähte der modernen Vollautomaten von heute kennt, kann diese Handarbeit nicht beurteilen. Deshalb sind Fuchs’ Männer größtenteils “alte Hasen” von über 40 Jahren.
Logistik ist die Lösung
Während der Großabschaltung sind rund 1.200 Mitarbeiter unterschiedlicher Fremdfirmen auf dem Gelände unterwegs. Normalerweise sind es nur knapp 600 von Dow und 300 externe Servicekräfte. Die Logistik auf dem 320 ha Grundstück für den Turnaround ist enorm. Allein das Materiallager umfasst unter anderem zwei Zelte mit 240.000 Teilen, 290 Dusch- und Umkleidecontainer, 50 Container für die Erteilung der Arbeitserlaubnis vor Ort, 63 Bürocontainer und ein Küchenzelt. Für die Anfahrt wurde ein Großparkplatz mit eigener Ampel eingerichtet.
Die technische Überprüfung der Anlage ist extrem aufwendig und muss den Sicherheitsauflagen entsprechen. Die verschiedenen Gewerke und Mitarbeiter nehmen gemeinsam die betroffene Installation einmal komplett auseinander, prüfen, ersetzen oder erneuern Teile, und bauen anschließend alles wieder zusammen.
Die Mitarbeiter des Turnaround-Teams haben zirka 1.200 bis 1.500 Jobs mit insgesamt 25.000 Sequenzen (einzelnen Tätigkeiten) zu koordinieren. Alles ist miteinander verzahnt. “Es bringt zum Beispiel nichts, wenn Sie die ganzen Leute herholen, um etwas zu prüfen, und dann ist kein Sicherungsposten da”, sagt Reiko Hass, Turnaoround-Manager im Dow-Werk Böhlen, während er uns über das Gelände führt. “Damit überhaupt jemand arbeiten kann, braucht man Sicherungsposten, einen Kran, ein Gerüst und das richtige Material.”
2. Fachtagung
Zustandsbewertung in der Energie- und Anlagentechnik
Die Tagung am 15. November 2016 in München ist nach der erfolgreichen Erstveranstaltung wiederum ein Forum, um sich über aktuelle Trends zu den Themen Zustandsbewertung, Condition Monitoring, Datenanalyse und Lebensdauerbetrachtung praxisnah auszutauschen.
Dabei besteht auch die Möglichkeit, Herangehensweisen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen und Branchen zu vergleichen und voneinander zu lernen. Die Tagung richtet sich vor allem an
- Technische Leiter und Betriebsleiter in Kraftwerken und in der Prozessindustrie
- Instandhalter und Projektierer
- Hersteller und Zulieferer des Anlagen- und Komponentenbaus
- Servicedienstleister
- Vertreter von Behörden und Verbänden
- Technische Versicherer
Planung ist das A und O
Damit alles reibungslos funktioniert, wird die Planung im Voraus mit allen abgestimmt und in einer Roadmap festgehalten. Alle Bau- und Ersatzteile werden in allen Größen im Vorfeld bestellt, um Lieferzeiten zu vermeiden. Während der Abschaltung wird allabendlich die Einhaltung des Projektplanes überprüft. Dow überwacht das Projekt genau, denn neben den 50 Tagen Stillstand, die 50 Millionen Euro kosten, investiert das Unternehmen rund 45 Millionen in Instandhaltungskosten und technische Innovationen.
Bei diesem Turnaround machen die “legal related” genannten, gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen 80 Prozent der Arbeitspakete aus. Dazu gehört das Korrosionsmonitoring der Bauteile. So mussten beispielsweise wegen Korrosion zahlreiche Stutzen an den Behältern ersetzt werden, insgesamt 100 Stück. Der Austausch jeder Komponente wird exakt dokumentiert. Wenn die Anlage nach der Überprüfung wieder hochfährt, sitzt das Team von Olaf Fuchs noch eine Weile an der Dokumentation. In zehn Ordnern wird später jeder Prüfschritt von TÜV SÜD Chemie Service genau nachvollziehbar sein.