"Polen ist nicht mehr die verlängerte Werkbank, die es Mitte der 1990er Jahre noch war", sagt Michael Kern, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der AHK Polen. Die Zeiten, als das Land noch als reiner Niedriglohnstandort galt, sind vorbei. Stattdessen zeichnen sich die Arbeitskräfte durch Qualitätsbewusstsein und Produktivität aus. Kein Wunder, dass das knapp 38,5 Millionen Einwohner zählende Land unter ausländischen Investoren einen hervorragenden Ruf genießt. In der jährlichen Umfrage der deutschen Außenhandelskammern in der Region Mittel-/Osteuropa (vom Baltikum bis nach Mazedonien) unter ausländischen, speziell unter deutschen Investoren nimmt Polen derzeit den zweiten Platz hinter Tschechien ein. Zuvor war Polen dreimal hintereinander auf dem ersten Platz.
Die wesentlichen Vorzüge, die die Investoren nennen sind der europäische Binnenmarkt, die Qualifikation und Motivation der Arbeiter sowie die Produktivität der polnischen Arbeitskräfte. Darüber hinaus punktet das Land mit den sogenannten Fühlungsvorteilen. Damit sind Verfügbarkeit und Qualität der lokalen Zulieferer gemeint. "Die sind in den letzten Jahren gestiegen, so dass auch die Fertigungstiefe in Polen zugenommen hat", erklärt Kern. So müssen die Unternehmen ihre Vorleistungen nicht mehr zu hohen Beschaffungsnebenkosten ins Land einführen, um sie hier dann zu veredeln.
Daimler baut neues Motorenwerk – VW, Opel und MAN schon vor Ort
Diese Vorteile hat die Automotive-Industrie längst erkannt. VW, Opel und MAN produzieren dort bereits. Mercedes-Benz hat erst im Oktober bekannt gegeben, 500 Millionen Euro in Polen zu investieren. Der schwäbische Autobauer will in Jawor, rund 70 Kilometer westlich von Breslau ein Motorenwerk bauen.
Mateusz Morawiecki, stellvertretender Ministerpräsident Polens und Minister für wirtschaftliche Entwicklung, kommentiert: "Die Entscheidung der Daimler AG beweist, dass Polen für ausländische Investoren ein attraktiver Markt ist. Die Automobilindustrie entwickelt sich zum Innovationshub der polnischen Wirtschaft. Dadurch entstehen in unserem Land hochqualifizierte Arbeitsplätze."
Große Bandbreite im Automotive-Sektor
In dem Hightech-Werk werden Vierzylindermotoren für Mercedes-Benz Pkw produziert. Das neue Werk in Jawor verbindet neueste Branchenstandards mit Industrie 4.0 und soll als Benchmark in der Motorenproduktion gelten.
Tadeusz Kościński, Unterstaatssekretär im Entwicklungsministerium, sagt: "Wir unterstützen unsere Auslandsinvestoren mit einem koordinierten und professionellen System. Wir betreuen den Investor bei jeder Etappe der Projekt-Implementierung, wobei der Staatsverwaltung und allen beteiligten Institutionen eine aktive Rolle zukommt." Der Produktionsstart am neuen Daimler-Standort ist für das Jahr 2019 geplant, die Bauarbeiten sollen im Jahr 2017 beginnen.
"Im Automotive-Sektor haben wir in Polen eine sehr große Bandbreite, vor allem wenn man noch die Zulieferer dazu zählt", sagt AHK-Vorstandsmitglied Kern. Ein Beispiel dafür sind die Aktivitäten von ZF. Das Unternehmen beschäftigt in Tschenstochau gut 4.500 Mitarbeiter. Neben dem Shared Service Center sind insbesondere die Produktion von Airbag-Modulen und Sicherheitsgurten dort angesiedelt.
Im Maschinen- und Anlagebereich gut aufgestellt
Neben der Automobilindustrie ist der Maschinen- und Anlagenbau ein weiterer wichtiger Industriebereich. "Das ist ein Bereich, wo die polnische Industrie gut aufgestellt ist", sagt Kern und ergänzt: "Das will Polen auf der Hannover Messe demonstrieren." Auch die Luft- und Raumfahrttechnik ist ein industrieller Schwerpunkt Polens. Im Südosten des Landes befindet sich das sogenannte Aviation Valley, ein laut Kern sehr gut funktionierendes Luftfahrt-Cluster. "Hier forschen und entwickeln die Unternehmen sehr viel", sagt Kern. Dort geht es nicht vordergründig darum ein neues Verkehrsflugzeug zu entwickeln. Im Fokus ist der Bau von Drohnen, aber auch das Überholen von Triebwerken.
So wollen Lufthansa Technik und der amerikanische Triebwerksbauer GE Aviation für rund 250 Millionen Euro ein Triebwerkswartungszentrum im südwestpolnischen Legnica errichten. Die Anlage soll ab September 2018 in Betrieb gehen. Sie sei ein Beweis dafür, dass Polen bereit für neue und technologisch fortgeschrittene Projekte sei, sagte Polen-Minister Morawiecki. In der Anlage sollen neueste Flugzeugtriebwerke getestet und gewartet werden. Dadurch entstehen voraussichtlich rund 500 neue Arbeitsplätze.
Gut entwickelte IT-Branche
Darüber ist insbesondere im IT-Bereich der Industrie, bis hin zur Sensorentechnik für die Kommunikation Maschine-zu-Maschine, ist laut Kern eine erfreuliche Entwicklung zu erkennen. Das sind auch die Industrie-Sektoren, die von der polnischen Wirtschaftspolitik besonders gefördert werden. Ohnehin gilt die gesamte polnische Informationstechnologie-Branche – bis hin zu Technologie-basierten IT-Unternehmen – als extrem gut entwickelt. Aus der Start-up-Phase längst entwachsen sind Polens Computerspiel-Programmierer. Polnische Firmen sind bei der Entwicklung von Computerspielen beziehungsweise Browsergames führend. Es gelingt den polnischen Unternehmen sogar die weltweit besten Software-Entwickler der Szene nach Polen zu locken.
"Gerade im IT-Bereich ist das Niveau der Hochschulen in keinster Weise zu unterschätzen", erklärt Kern. Beispielsweise gewinnen polnische IT-Studenten regelmäßig internationale Programmier-Wettbewerbe oder sind zumindest unter den Top 5. Das ist gepaart mit einem dichten Netz an technischen Hochschulen – allen voran sind hier Krakau, Breslau, Lodz, Warschau und auch Danzig zu nennen. In der Nähe dieser Hochschulen sind in den letzten Jahren Software-Entwicklungszentren entstanden. In Krakau und Breslau gibt es zudem Start-up-Zentren, die sich aus dem gesamten Wissenschaftsbereich heraus gründen.
Entwicklungsarbeit von polnischen Ingenieuren ist gefragt
"Das wird von Unternehmen im Engineering-Bereich genutzt", berichtet AHK-Vorstandsmitglied Kern. Ein Beispiel dafür ist Siemens. Der Konzern hat in Polen so gut wie keine Produktion, lässt aber von polnischen Ingenieuren Entwicklungsarbeit betreiben. Das Land befindet sich im Wandel und entwickelt sich immer weiter zu einem Standort für Produktentwicklung . "Das ist noch nicht im großen Stil der Fall, aber wir sehen die Anzeichen dazu", so Kern. Ihre Produktentwicklungsstandorte siedeln die Konzerne hauptsächlich in der Nähe der technischen Hochschulen an. Dazu zählt beispielsweise Warschau, vor allem was den Engineering-Bereich betrifft. Andere Hochschulen wie Breslau oder Krakau tun sich besonders im IT-Bereich hervor. In deren Dunstkreis haben sich schon zahlreiche Software-Entwicklungszentren angesiedelt – die wohl bedeutendsten sind von Google und Microsoft.
Doch der Ansturm auf die Unis und Hochschulen hat für Polens Industrie einen entscheidenden Nachteil: Dem gewerblich-technischen Bereich droht in fünf bis zehn Jahren ein Engpass, wenn nicht bald eine richtungsweisende Änderung eintritt. Hinzu kommt, dass Polen einem ähnlichen demographischen Wandel unterliegt wie Deutschland. Indessen gibt es von vielen Unternehmen, aber auch von staatlicher Seite Bestrebungen die Ausbildungsberufe wieder aufzuwerten. "Die polnische Regierung hat erkannt, dass hier gegengesteuert werden muss", berichtet Kern. Die duale Ausbildung, die es zwischenzeitlich im Land einmal gab, soll wieder aufgebaut werden. Manche Betriebe ergreifen teilweise auch selbst die Initiative, sie bilden in Eigenregie, aber mit Unterstützung der AHK, aus.
Potentielle Schwachpunkte von Polens Wirtschaft
Gleichwohl könnte derzeit die Verfügbarkeit der qualifizierten Fachkräfte ein Risiko für die wirtschaftliche Entwicklung Polens sein. Der typische Industrie-Elektroniker oder –Mechatroniker, Zerspanungstechniker und qualifizierter Schweißer sind derzeit die Achillessehne. Ein weiterer Pferdefuß weshalb Polens Wirtschaft eventuell hinken könnte: Das Land hat seit dem Regierungswechsel Reputation als Investitionsstandort eingebüßt. Die Investoren bemängelten zuletzt die Berechenbarkeit der Wirtschaftspolitik der neuen Regierung. Der Grund dafür: Es gab in relativ kurzer Zeit zahlreiche Gesetzesänderungen. Das trifft allerdings derzeit nicht auf das produzierende Gewerbe zu, sondern eher Investitionen im Finanz- und Einzelhandelssektor.
Deshalb sagt auch Polen-Experte Kern: "Für die Gesamtentwicklung der Wirtschaft Polens sehen wir einen positiven Trend für die nächsten Jahre." Der Grund für diese Annahme sind geplante Investitionen deutscher Unternehmen in Polen. Hinzu kommt, dass auch viele polnische Unternehmen in Deutschland bereits investieren oder Investitionen planen. Die polnischen Unternehmen sind sehr vom Mittelstand geprägt. Gerade diese mittelständischen Unternehmen kommen nach einer fünf bis zehn jährigen Entwicklungszeit nun in die Lage ausländischer Märkte intensiver bearbeiten zu können. "Das gilt nicht nur für den Export-, sondern auch für den Investitionsbereich", erläutert Kern. Eine Reihe polnische Unternehmen investiert in Deutschland in Brownfield oder sogar in Unternehmensübernahmen. Das findet insbesondere im Automotive-Bereich, in der Medizintechnik und in der Chemieindustrie statt.
Fazit: Polen ist mehr als Robert Lewandowski und Billig-Urlaub an der Ostsee. Vor allem ist das Land nicht mehr die verlängerte Werkbank Polens. Vielmehr ist das Land dabei sich zu einem veritablen Forschungs- und Entwicklungsstandort zu entwickeln, der deutschen Unternehmen Konkurrenz machen kann, von dem deutsche Firmen aber auch profitieren können.
Darauf sollten Sie achten, wenn Sie in Polen investieren wollen
Polen hat eine Reihe von Sonderwirtschaftszonen. Derzeit sind es 14, sie sind meist an der Peripherie angesiedelt. Dort können interessante Vorteile durch die Unternehmen geltend gemacht werden.
Worauf man bei der Ansiedlung eines neuen Standorts achten sollte, ist eine gut ausgebaute Infrastruktur. Die hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert – zumindest was die Straßen betrifft. Die östlichen Gebiete des Landes sind zwar noch nicht so gut erschlossen, aber die westlichen, gerade die südwestlichen Gebiete sind sehr gut ans Autobahnnetz angebunden.
Was noch ausbaufähig ist und was die polnische Wirtschaftspolitik auch noch angehen will, ist der Ausbau des Schienennetzes. Beim Schienentransport gilt Polen international noch nicht als wettbewerbsfähig. Firmen, die auf die Schiene setzen, müssen darauf achten, wo sie sich in Polen ansiedeln.