Gas-Pipeline im Vordergrund, im Hintergrund ein industrieller Komplex

Die Unternehmen leiden unter hohen Gaspreisen - und ein Ende ist nicht in Sicht. (Bild: Studio-FI - stock.adobe.com)

Frau Illner, sollte im kommenden Winter die Versorgung der deutschen Industrie mit Erdgas knapp werden, müssten die meisten Branchen ihre Produktion zurückfahren. Dadurch könnten die Lieferketten vieler Maschinenbauer reißen. Wie nehmen die Unternehmen die Situation wahr?

Bianca Illner: Als wir unsere Mitgliedsunternehmen in einer Umfrage im Juli fragten, unter wie viel Druck ihre Lieferketten stehen, gaben neun von zehn Teilnehmern zur Antwort, ihre Einkäufer hätten derzeit merkliche bis große Schwierigkeiten, ihren Bedarf in der benötigten Zeit zu beschaffen. Die Probleme haben aber nicht erst begonnen, als Russland damit drohte, Europa weniger Gas zu liefern.

Sondern?

Die Einkaufsabteilungen müssen sich schon seit Beginn der Corona-Pandemie mit der angespannten Lage auf ihren Beschaffungsmärkten auseinandersetzen. Dort entstehen Engpässe durch den Fachkräftemangel in Deutschland, die Schwierigkeiten in den globalen Transportketten und die Produktionsstopps in China im Zuge der dortigen Lockdowns. Da laufen momentan viele Entwicklungen gleichzeitig ab. Jetzt kommt noch die Gas-Krise hinzu. Das fordert die Betriebe enorm heraus.

Welche Produktgruppen sind aktuell besonders schwer zu beschaffen?

Illner: Elektronikkomponenten! Das hat aber nichts mit der Gas-Problematik zu tun, sondern ist auf die Unterbrechung der Produktion in Fabriken in China und die Lage in der internationalen Logistik zurückzuführen. Bereits an zweiter Stelle der besonders schwer zu beschaffenden Vorprodukte nannten die Teilnehmer unserer Umfrage allerdings Metalle. Hier schlagen die Sanktionen gegen Russland als großen Stahlerzeuger und die Gas-Krise durch sowie der Wegfall von Kapazitäten aus der Ukraine. Für die Herstellung von Stahl und Blechen sind ja große Mengen Erdgas als Energieträger und Reduktionsmittel nötig.

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Gas könnte künftig auch in der chemischen Industrie und damit bei der Herstellung von Kunststoffen knapp werden. Auf welche Probleme stoßen Maschinenbauer derzeit bei der Beschaffung von Kunststoffprodukten?

Illner: Hier funktioniert die Zulieferung eigentlich noch recht gut. Denn große Chemiekonzerne wie BASF haben ihre Produktion von Basischemikalien und Kunststoffen in den USA ausgeweitet, um nicht von der Gasmangellage getroffen zu werden. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Kunststoffe in einem halben Jahr nicht auch auf der Liste der schwer zu beschaffenden Güter stehen werden. Wahrscheinlich wird das aber eher ein punktuelles als ein strukturelles Problem.

Wie gehen Maschinenbauer mit der angespannten Situation auf ihren Beschaffungsmärkten um?

Illner: Das hängt davon ab, in welchem Maße sie von dieser betroffen sind. Das ist nicht in allen Sparten des Maschinenbaus gleich. Während etwa Hersteller von Werkzeugmaschinen und verfahrenstechnischen Apparaten sehr große Schwierigkeiten haben, ihren Bedarf zu decken, kommen andere Bereiche der Branche weitgehend ohne größere Probleme durch die aktuelle Krise. Insgesamt hatte im Juli aber ein Drittel der Betriebe bereits Maßnahmen umgesetzt, um seinen Einkauf an die kritische Situation anzupassen.

Was genau unternehmen die Betriebe?

Illner: Der überwiegende Teil der Unternehmen versucht, seine Lieferanten zu diversifizieren. Auch das birgt aber Tücken.

Inwiefern?

Illner: Die Beschaffung von Stahl und Stahl-Halbwaren beispielsweise wurde direkt nach Beginn des Kriegs in der Ukraine schwierig. Jedoch nicht, weil viele Maschinenbauer diesen bis dahin in Russland eingekauft und ihn wegen der Wirtschaftssanktionen nun nicht mehr von dort hätten beziehen können.

Sondern?

Illner: Weil Einkäufer oft kaum mehr nachvollziehen konnten, woher ihre Lieferanten ihren Stahl hatten. Wer beispielsweise Stahlgussteile in der Tschechischen Republik beschaffte, musste unter Umständen feststellen, dass die dortige Gießerei sich bei einem Händler eingedeckt hatte, der Stahl aus Russland bezog. Wenn Unternehmen also nicht unwillentlich gegen die von der Europäischen Union gegen Russland verhängten Sanktionen verstoßen wollten, mussten sie Stahl und Gießereiprodukte in Europa, Türkei, Südkorea oder Vietnam einkaufen. Dort haben Stahlwerke ihre Produktion zwar ausgeweitet. Allerdings stellt die Beschaffung in Asien Unternehmen natürlich vor größere Transportprobleme.

Was tun die Unternehmen noch, damit ihre Lieferketten nicht reißen?

Illner: Bei kritischen Vorprodukten erhöhen sie ihre Lagerbestände. Immer öfter beißen sie auch in den sauren Apfel und zahlen für Komponenten und Material mehr, wenn sie so ihre Versorgung sichern können. Außerdem versuchen die Betriebe so viele alternative Materialien einzusetzen wie möglich. Umkonstruktionen stehen daher derzeit so gut wie überall auf der Tagesordnung.

Bianca Illner
(Bild: VDMA)

Zur Person: Bianca Illner

... leitet seit sechs Jahren beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau die Abteilung „Business Advisory“. Mit 134 Mitarbeitern berät und unterstützt sie Unternehmen dabei, ihre betrieblichen Wertschöpfungsketten optimal zu gestalten. Zuvor war die Juristin und Betriebswirtin lange Jahre für ein großes Beratungsunternehmen und den Robotik-und Automatisierungsspezialisten KUKA tätig.

Unternehmen nutzen die aktuelle Lage also, um geschlossene Stoffkreisläufe aufzubauen und mehr recycelte Materialien einzusetzen...

Illner: Leider nur sehr bedingt. Recycling folgt als Maßnahme, mit der sich die Betriebe entlasten, erst mit großem Abstand auf einem der hinteren Ränge. Hier gäbe es noch erheblich mehr Potenziale, als tatsächlich genutzt werden.

Wie erklären sie die Zurückhaltung der Unternehmen?

Illner: Zum einen gibt es für Rezyklate noch keine einheitlichen Standards und Normen. Entwickler und Konstrukteure wissen daher schlicht nicht, wie hoch die Qualität der recycelten Materialien ist. Zum anderen haben sie in der Vergangenheit oft auf nur ein einziges Material gesetzt, um sehr eng gefasste Spezifikationen erfüllen zu können. Den entsprechenden Werkstoff bekamen sie dann meist nur bei ein oder zwei Lieferanten. Damit haben sich die Unternehmen selbst die Flexibilität genommen, die ihnen der Einsatz alternativer Materialien bei der Fertigung ihrer Produkte böte. Ich habe allerdings den Eindruck, dass viele Betriebe das verstanden haben und sich zunehmend vom Single Sourcing verabschieden.

All diese Maßnahmen kosten eine Menge Geld. Das setzt Betriebe erheblich unter Druck, wenn zugleich ihre Kosten für Strom und Gas brutal steigen. Wie bewältigen die Unternehmen das?

Illner: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Manche Unternehmen können steigende Ausgaben für ihr Material über gleitende Preisanpassungsklauseln in ihren Verträgen an ihre Kunden weitergeben. Viele andere Maschinenbauer haben diese Möglichkeit aber nicht, etwa weil sie auf ihrem jeweiligen Markt im Wettbewerb mit ausländischen Konkurrenten stehen. Bei diesen Unternehmen sinkt durch die gestiegenen Einkaufspreise die Rendite.

Stehen wir also vor einer Insolvenzwelle?

Illner: Ich bin sehr zuversichtlich, dass das nicht passieren wird. Denn schon nach der Finanzkrise haben viele Maschinenbauer ihr Eigenkapital deutlich erhöht und sind daher heute finanziell stabil aufgestellt. Seit Beginn der Coronakrise war mangelnde Liquidität für die überwiegende Mehrheit der Unternehmen nicht in einer einzigen unserer Umfragen ein Problem.

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Gaspipeline und Hilfsgeräte in der Gaspumpstation.
(Bild: 63ru78 - stock.adobe.com)

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