Sosehr die deutsche Industrie die westlichen Sanktionen gegen Russland mitträgt, sosehr sorgt sie sich um die Gasversorgung. Nicht ganz zu unrecht, wie Durchflussdaten an den Pipeline-Übergabepunkten Mallnow oder Lubmin zeigen: Die gelieferten Gasmengen aus Russland sind in den letzten Wochen und Monaten alles andere als stetig gewesen. Lieferungen, wie etwa durch die Pipelines Nordstream 1 oder Jamal, werden von russischer Seite immer wieder gedrosselt mit dem Verweis auf "Reparaturarbeiten" oder "fehlende Ersatzteile". Befürchtungen mehren sich, dass nach den turnusmäßigen Reparaturmaßnahmen im Juli die Gaslieferungen komplett eingestellt werden könnten.
Um die möglichen Auswirkungen konkreter auf dem Tisch liegen zu haben und entsprechende Maßnahmen einleiten zu können, hat die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft das Forschungsinstitut Prognos mit einer Studie beauftragt. Sie zeigt detailliert, wie groß die Abhängigkeit der deutschen Industrie von russischen Gaslieferungen ist und untersucht nicht nur die direkt bei den Gasabnehmern anfallenden Effekte, sondern auch die Wirkungen in vor- und nachgelagerten Branchen.
Anders als in früheren Studien zu den wirtschaftlichen Auswirkungen eines Erdgas-Embargos wurden einzelne Produktionsprozesse unter technischen Gesichtspunkten betrachtet und deren Bedeutung für beteiligte sowie vor- und nachgelagerte Branchen in den Blick genommen, um ein belastbares Ergebnis zu bekommen. Und das enstehende Bild ist - im Worst Case - ein dunkles: Ein Lieferstopp von russischem Erdgas würde große Probleme mit sich bringen, denn die von der Industrie benötigten Gasmengen aus Russland lassen sich kurzfristig nicht voll substituieren. Dreht Putin den Gashahn zu, würde das zu massiven Schäden in der gesamten Wertschöpfungskette führen. Laut Prognos drohen flächendeckend Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und ein dauerhafter Verlust von industriellen Strukturen.
Versorgung geschützter Kunden großteils gesichert
Konkret untersucht die vorliegende Studie ein Szenario, in dem russische Gaslieferungen in die EU ab 1. Juli 2022 ausbleiben. In diesem Fall muss die deutsche Gasversorgung mit den Lieferungen über westliche Grenzübergangspunkte und aus Speichern auskommen. Sollen gleichzeitig die Speicher gemäß Gasspeichergesetz weiter befüllt werden, dürfte das Gasangebot bereits im Juli nicht mehr ausreichen, um den Bedarf aller Kunden zu decken.
Prioritär werden dann die geschützten Kunden gemäß EnWG versorgt. Das sind unter anderem
- private Haushalte,
- sonstige Verbraucher, die nach Standardlastprofilen abgerechnet werden,
- soziale Dienste (Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Hospize, JVA, Feuerwehr, Polizei, Militär),
- Fernwärmeanlagen für oben genannte Kundengruppen.
Unter den Annahmen dieser Studie kann der Bedarf geschützter Kunden in der zweiten Jahreshälfte zu 93 Prozent gedeckt werden. Die Fehlmenge bei diesen Kunden könnte laut Prognos mit Maßnahmen seitens des Bundeslastverteilers und der Kunden selbst zu decken sein.
Industrie vom Gasausfall massiv betroffen
Der angenommene Gasbedarf der nicht-geschützten Kunden ist in diesem Szenario hingegen nicht einmal zur Hälfte gedeckt, obwohl die Studie erhebliche Einspar- und Substitutionsmechanismen berücksichtigt. Zu diesem Kreis gehören in Deutschland alle Gasverbraucher, die über eine Leistungsmessung verfügen, insbesondere die mittelgroßen und großen Industriekunden.
Die geschützten Kunden verbrauchen etwa einen Anteil von rund 48 Prozent, die nicht-geschützten Kunden einen Anteil von rund 52 Prozent am gesamten Gasverbrauch.
Unter der Annahme, dass die Einspeicherung bis Ende September noch nicht beendet ist, könnte der Oktober aufgrund des anziehenden Heizgasbedarfs besonders kritisch werden. Entscheidend sei, wie viel LNG erworben und bis September eingespeichert werden könne. Hier folgt dieStudie einer konservativen Annahme, die von einer eher niedrigen LNG-Verfügbarkeit ausgeht.
Ein Lieferausfall ab Juli führt direkt in den betroffenen Branchen zu einem Wertschöpfungsverlust in Höhe von 3,2 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung. Besonders betroffen sind die Branchen Glas/Glaswaren und Roheisen/Stahl. In diesen Branchen geht die erbrachte Wertschöpfung insbesondere aufgrund der hohen direkten Betroffenheit um fast 50 Prozent zurück. Aber auch in Branchen wie Keramik, Nahrungsmittel, Druckerei, Chemie und Textilien liegen die Wertschöpfungsverluste bei über 30 Prozent.
Füllstände der deutschen Gasspeicher 2021/2022
Von einem Wertschöpfungsverlust in dem beschriebenen Ausmaß ist auch ein erheblicher Anteil der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen. In Summe hängen rechnerisch etwa 5,6 Millionen Arbeitsplätze direkt, vorgelagert oder nachgelagert von der Wertschöpfung ab, die aufgrund der Lieferunterbrechungen verloren geht.
Der Beschäftigungseffekt ist laut Studie jedoch rein rechnerisch zu betrachten. Aufgrund von Kurzarbeiterregelungen, anderen Einsatzmöglichkeiten der Beschäftigten usw. würden diese Beschäftigten nicht (unmittelbar) in die Erwerbslosigkeit fallen. Gesamtwirtschaftliche Kosten durch faktische Unterbeschäftigung entstehen aber gleichwohl.
Erdgasverbrauch in Deutschland 2021 nach Sektoren
Welche Einspar- und Substitutionsmöglichkeiten gibt es?
Aktuell diskutieren Experten (kurzfristige) Einspar- und Substitutionsmöglichkeiten von Erdgas in den verschiedenen Sektoren und Branchen. Folgende Maßnahmen sind weitestmöglich auch ohne Drosselungen der Produktion bzw. Produktionsstopps möglich:
- Verhaltensänderungen (z. B. Reduktion der Raumwärme)
- Nutzung anderer Brennstoffe in Anlagen, die für bivalente Feuerung vorgesehen sind (mitsamt Anpassung von Emissionsgrenzwerten)
- Schnelle Umstellungen/-rüstungen auf Strombetrieb
- Bezug von Biomethan
- Bezug von Strom aus alternativen Quellen
- anderweitige Effizienzmaßnahmen (z. B. optimierte Wärmedämmung, Regelung von Prozessen)
Je nach Sektor ergeben sich kurzfristige Einsparpotenziale zwischen vier und 100 Prozent, etwa durch den Stopp des Erdgasverkehrs oder die Einstellung der Gasverstromung. Im Schnitt ergibt sich so eine mögliche Einsparung von 23 bis 25 Prozent, was 214 bis 237 TWh ausmacht.
Die stoffliche Nutzung von Erdgas (vor allem in der Ammoniak-, Methanol- und Wasserstoffherstellung) ist dagegen kurzfristig nicht substituierbar.
Welche Industriebranche kann wie viel Gas sparen oder ersetzen?
Mit Blick auf einzelne Branchen geht die Prognos-Studie davon aus, dass Erdgas vor allem bei Warmwasserbereitung und mechanischer Energie, weniger aber bei Prozesswärme einsparbar ist.
Gemäß einer Umfrage der vbw (2022) geben von 731 Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe circa 18 Prozent an, über Anlagen zur bivalenten Feuerung zu verfügen. Mit diesen ist der Einsatz von Heizöl oder Kohle anstelle von Erdgas ohne relevante zusätzliche Investitionen möglich, auch wenn die Beschaffung und Lagerung der Substitutionsbrennstoffe sowie eine eventuell anfallende Umrüstung bestehender Anlagen mit zusätzlichen Kosten und Zeitaufwand verbunden ist.
Tendenziell verfügen mehr Unternehmen aus der chemischen Industrie, Ernährung, Glas, Keramik und Textilien über bivalente Systeme als in der Gesteins-, Erden- und Metallverarbeitung. Insgesamt schätzen die Experten, dass Branchen wie Ernährung, Metallerzeugung oder Maschinenbau kurzfristig (bis Herbst / Winter 2022 – verbunden mit Investitionen) bis zu rund 13 Prozent ihres Gasverbrauchs substituieren können.
Weitere Branchen wie die Grundstoffchemie werden mit lediglich bis zu 4 Prozent als deutlich weniger flexibel angesehen (BDEW, 2022). Eine Umfrage unter Unternehmen der Papierindustrie identifiziert hingegen ein weitaus höheres Potenzial. Demzufolge wären 10 bis 15 Prozent des branchenspezifischen Erdgasverbrauchs noch in diesem Jahr ersetzbar.
Diese Branchen wären von einem Gaslieferstopp besonders betroffen
- Durch die Abhängigkeit vieler Branchen (sonstige chemische Industrie, Landwirtschaft, Kunststoffe etc.) von der Grundstoffchemie und deren massiven Erdgaseinsatz, nimmt diese eine spezielle Rolle ein. Es wird geschätzt, dass circa 25 Prozent (9 TWh) des normalbetrieblichen stofflichen Einsatzes von Erdgas sicherstellen (könnten), dass systemische Folgeprobleme und Kaskadeneffekte in Lieferketten vermieden werden.
- In der Glasindustrie sind vor allem Schmelzöfen und -wannen betroffen, da ein Aushärten des Rohglases sie stark beschädigen würde und dies zusätzliche massive ökonomische Folgeschäden hätte. Es wird davon ausgegangen, dass ein Erdgaseinsatz von zumindest 70 Prozent des Normalbetriebs dies verhindern könnte (entspricht insgesamt 7 TWh).
- Auch andere Branchen und Prozesse wie die Produktion und Verarbeitung von Metallen setzen Schmelz- und Brennöfen ein, die dauerhaft in Betrieb sind und deren Stopp problematisch sein kann. In vielen Fällen ist eine Abschaltung zwar (technisch) möglich, hierfür ist aber eine gewisse Vorlaufzeit von einigen Tagen bis Wochen notwendig. Unternehmen aus vielen Branchen (z. B. chemische Industrie, Ernährung, Metalle, Maschinenbau) geben an, auch bei einem vollständigen Wegfall der Erdgaslieferungen an das jeweilige Unternehmen einen Monat oder länger weiterproduzieren zu können. In Branchen wie Glas und Keramik dürfte dies hingegen nicht möglich sein.
- Insbesondere durch die Erdgasabhängigkeit der Walzwerke praktisch die gesamte Stahlerzeugung auf Erdgas angewiesen ist.