Industriestandort unter Hochspannung

Energieintensive Industrie prüft Abwanderung

Die strategischen Spielräume in Deutschland gelten als ausgereizt. Energieintensive Unternehmen greifen vermehrt zu drastischen Maßnahmen – bis hin zur Standortverlagerung.

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94 Prozent der deutschen energieintensiven Unternehmen halten eine Abwanderung weiterer Unternehmen ihrer Branche aus Deutschland für wahrscheinlich.
94 Prozent der deutschen energieintensiven Unternehmen halten eine Abwanderung weiterer Unternehmen ihrer Branche aus Deutschland für wahrscheinlich.

Strategien am Limit

Die Ergebnisse der Allensbach-Studie im Auftrag der Unternehmensberatung FTI-Andersch zeigen ein deutliches Bild: Die energieintensive Industrie in Deutschland steht unter massivem Transformationsdruck. 94 Prozent der befragten Unternehmen halten eine Abwanderung weiterer Betriebe aus ihrem Sektor für wahrscheinlich – mehr als die Hälfte stuft diese Entwicklung sogar als sehr wahrscheinlich ein. Vor dem Hintergrund steigender Energiepreise, globalem Wettbewerbsdruck und einer zunehmend unübersichtlichen Regulierungslage sehen viele Unternehmen kaum noch Handlungsspielraum innerhalb Deutschlands.

Bereits jetzt zeigen sich tiefgreifende strukturelle Anpassungen. Ein Drittel der Unternehmen hat besonders energieintensive Produkte reduziert oder aus dem Portfolio gestrichen. Rund 22 Prozent verlagern aktuell Produktionsschritte ins Ausland oder bereiten entsprechende Maßnahmen konkret vor. Diese Verlagerung erfolgt keineswegs unüberlegt, sondern wird vielfach als strategischer Schritt zur Risikominimierung und Stärkung der Resilienz betrachtet.

Standortentscheidungen im Wandel

Die Entstehung neuer Standortlogiken lässt sich klar erkennen. Schon jetzt verfügen 33 Prozent der befragten Unternehmen über Produktionskapazitäten außerhalb Europas – mit einem Fokus auf asiatische Märkte. Weitere elf Prozent planen diesen Schritt in naher Zukunft. Die Reduktion der Abhängigkeit vom deutschen Energiemarkt, verbunden mit dem Aufbau internationaler Produktionsstrukturen, erscheint vielen Unternehmen als unumgängliche Konsequenz.

Die Strategie der Standortdiversifizierung wird flankiert von einer klaren Fokussierung auf Kernprodukte. Damit verbunden ist nicht nur eine Optimierung der Produktionskosten, sondern auch eine Anpassung der Lieferketten. Die zunehmende Verlagerung energieintensiver Produktionsstufen verändert zwangsläufig die gesamte Architektur industrieller Wertschöpfungsketten – mit weitreichenden Folgen auch für Unternehmen, die weiterhin in Deutschland produzieren.

Technologische und betriebswirtschaftliche Hebel

Zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit haben die Unternehmen in den vergangenen Jahren eine Vielzahl betriebswirtschaftlicher und technologischer Maßnahmen umgesetzt. 93 Prozent setzen Energieeffizienzprogramme ein, 86 Prozent verfügen über eigene Energieerzeugungsanlagen – etwa durch Photovoltaik, Windkraft oder Kraft-Wärme-Kopplung. Zudem haben 68 Prozent langfristige Direktlieferverträge mit Energieversorgern abgeschlossen. Ein Emissionshandels-Management ist bei 41 Prozent implementiert, wobei der Rest aktuell keine Pläne zur Einführung verfolgt.

Doch trotz dieser breit angelegten Maßnahmen zeigt sich in der Praxis: Die klassischen Effizienzstrategien stoßen zunehmend an ihre Grenzen. Die Mehrheit der Unternehmen bewertet ihre strategischen Optionen im Inland als weitgehend ausgeschöpft. Diese Entwicklung lässt sich auch an der Investitionstätigkeit ablesen: 46 Prozent der Unternehmen mit eingeschränkter Planbarkeit haben Investitionen bereits verschoben.

Wettbewerbsdruck aus dem Ausland

Ein wesentlicher Treiber für die aktuellen Veränderungen ist der internationale Wettbewerbsdruck. 56 Prozent der befragten Unternehmen sehen sich stark oder sehr stark durch außereuropäische Anbieter unter Druck gesetzt. Diese profitieren häufig von erheblich niedrigeren Energiepreisen, staatlichen Fördermaßnahmen und geringerer regulatorischer Belastung.

Um im globalen Wettbewerb bestehen zu können, investieren 91 Prozent der Unternehmen in Automatisierung und Digitalisierung. Zwei Drittel setzen auf spezialisierte Engineering-Lösungen, während 71 Prozent auf Qualitäts- und Herkunftsstrategien wie „Made in Europe“ bauen. Weitere Unternehmen nutzen zudem verkürzte Entwicklungszyklen durch „Fast Engineering“ – eine Praxis, die aktuell von 24 Prozent genutzt und von sieben Prozent konkret geplant wird.

Diese Maßnahmen gelten nicht mehr als Zukunftsmusik, sondern sind vielfach bereits Realität. Dennoch lassen sich daraus keine langfristigen Wettbewerbsvorteile ableiten, solange strukturelle Rahmenbedingungen bestehen bleiben, die eine wirtschaftliche Produktion im Inland erschweren.

Finanzierung, Planbarkeit und Protektionismus

Neben Energiepreisen und Wettbewerbsdruck beeinträchtigen auch finanzielle und politische Faktoren die Handlungsfähigkeit der Industrie. 20 Prozent der Unternehmen berichten von einem erschwerten Zugang zu Fremdkapital. In diesen Fällen hat die Mehrheit (77 Prozent) Investitionen verschoben. Fast die Hälfte (47 Prozent) musste Arbeitsplätze abbauen oder plant dies aktuell.

Ein weiterer Risikofaktor ist die sinkende Planbarkeit: 83 Prozent der Unternehmen berichten von einer Verschlechterung, 67 Prozent sogar in erheblichem Maß. Hinzu kommt eine Zunahme protektionistischer Tendenzen: 43 Prozent der Industrieunternehmen sehen sich stark oder sehr stark durch zunehmenden globalen Protektionismus belastet.

Konsequenzen für Lieferketten und Geschäftsmodelle

Die strukturellen Veränderungen wirken sich unmittelbar auf bestehende Lieferketten aus. Verlagerungen ins Ausland und die Konzentration auf weniger energieintensive Produkte verändern die Anforderungen an Beschaffung, Logistik und Kapazitätsplanung. Auch Unternehmen, die weiterhin in Deutschland produzieren, müssen auf diese Dynamiken reagieren. Neue Abhängigkeiten entstehen, gleichzeitig eröffnen sich Chancen durch internationale Kooperationen oder eine stärkere Fokussierung auf hochspezialisierte Wertschöpfungsstufen mit geringerer Energieintensität.

Die Unternehmen sind gefordert, ihre Risikoarchitekturen neu zu definieren und die eigene Wettbewerbsposition durch gezielte strategische Anpassungen abzusichern. Dabei wird deutlich: Die Transformation ist nicht länger eine Frage der Perspektive, sondern eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit.

Verlagerung als strategische Neuausrichtung

Die Studie verdeutlicht: Produktionsverlagerungen und Produktreduktionen sind Ausdruck einer aktiven, strategisch gesteuerten Neuausrichtung – kein Anzeichen von Resignation. Vielmehr stellt sich eine neue Realität ein, in der Flexibilität, Standortvielfalt und technologische Exzellenz zu zentralen Wettbewerbsfaktoren avancieren.

Ob durch Diversifikation der Produktionsstandorte, gezielte Investitionen in Zukunftstechnologien oder eine klare Portfoliofokussierung – die Unternehmen setzen zunehmend auf robuste, zukunftsfähige Geschäftsmodelle. Dabei gilt: Wer operative Effizienz, technologische Innovation und strategische Standortentscheidungen erfolgreich miteinander verbindet, kann auch unter schwierigen Rahmenbedingungen resilient agieren.

Mit Material der  FTI-Andersch AG

FAQ – Energieintensive Industrie im Wandel

Wie viele Unternehmen halten eine Abwanderung für wahrscheinlich? - 94 Prozent halten eine Abwanderung der Branche für wahrscheinlich, 56 Prozent sogar für sehr wahrscheinlich.

Welche Maßnahmen haben Unternehmen bereits umgesetzt? - Energieeffizienzprogramme (93 %), eigene Energieerzeugung (86 %), Direktlieferverträge (68 %), Emissionshandels-Management (41 %).

Wie stark ist der Wettbewerbsdruck? - 56 Prozent der Unternehmen berichten von starkem oder sehr starkem Druck durch außereuropäische Wettbewerber.

Welche Rolle spielen Auslandsverlagerungen? - 33 Prozent haben bereits Produktionskapazitäten außerhalb Europas aufgebaut, weitere elf Prozent planen dies.

Welche Faktoren behindern Investitionen? - 20 Prozent der Unternehmen haben eingeschränkten Zugang zu Fremdkapital, 83 Prozent berichten von erschwerter Planbarkeit.

Wie reagieren Unternehmen auf die Lage? - Durch Investitionen in Automatisierung (91 %), Engineering (66 %), Qualitätssiegel und Standortdiversifizierung.