Richter an Patentgerichten haben derzeit gut zu tun. Zuletzt stieg die Zahl der Verfahren an den sieben zuständigen deutschen Landgerichten um fast zehn Prozent auf 841 Verfahren im Jahr 2021. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Das Landgericht München bearbeitete mit 262 Verfahren sogar 29,7 Prozent mehr Klagen als im Vorjahr, meldet das Fachportal Juve Patent.
In der Isarmetropole bekommen die Richter besonders häufig Klagen auf den Tisch, in denen es um Mobilfunktechnologien geht. Diese sind meist durch sogenannte standardessentielle Patente (SEP) geschützt. Das sind Schutzrechte für Technologien, die jeder anwenden muss, dessen Produkte einem bestimmten Standard entsprechend funktionieren sollen. Laut einer Zählung der Kommission der Europäischen Union gibt es aktuell etwa 75.000 solcher Patente. Das sind sechsmal mehr SEPs als vor zehn Jahren. Besonders häufig schützen sie Technologien, die notwendig sind, um Mobilfunkstandards wie 5 oder 6G, aber auch für das Internet der Dinge wichtige Normen wie Bluetooth, RFID, Wi-Fi oder HEVC erfüllen zu können.
Was sind standardessentielle Patente?
"Standardessentielle Patente" oder "standard-essential patents" (SEP) im Englischen bezeichnen Patente, die unerlässlich sind, um einen technischen Standard zu erfüllen oder umzusetzen. Diese Standards ermöglichen die Interoperabilität zwischen verschiedenen Geräten und Systemen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Standards für Mobilfunktechnologien wie 4G oder 5G, die viele Patente beinhalten.
Ein Patent gilt als standardessentiell, wenn es keine realistische Möglichkeit gibt, einen bestimmten technischen Standard umzusetzen, ohne das Patent zu verletzen. Oft werden diese Patente von den entsprechenden Standardisierungsorganisationen festgelegt.
Ein wichtiges Prinzip hierbei ist das Frand-Prinzip, welches für "Fair, Reasonable, And Non-Discriminatory" steht. Es bedeutet, dass der Inhaber eines SEP jedem Dritten, der den Standard nutzen möchte, eine Lizenz zu fairen, angemessenen und nicht-diskriminierenden Bedingungen anbieten muss. Das soll sicherstellen, dass der Zugang zu essenziellen Technologien nicht blockiert wird und der technologische Fortschritt nicht behindert wird.
Maschinenbauer kommen um Verhandlungen mit asiatischen Tech-Konzernen nicht herum
Diese Standards müssen Maschinenbauer einhalten, wenn von ihnen produzierte Geräte in privaten 5G-Netzen untereinander und mit der Cloud kommunizieren sollen, um Auftraggebern die Produktivitätsgewinne der Industrie 4.0 zu erschließen. Der Standard für die Kodierung von Bildern, HEVC, ist wichtig, wenn Kunden hochauflösende Videos ihrer Produktionsprozesse brauchen. RFID steigert die Effizienz der Prozesse in Lager und Logistik.
Um Lizenzverhandlungen mit Firmen wie dem Netzwerkausrüster Huawei, den Elektronikkonzernen Samsung und LG Electronics oder den Chipherstellern Qualcomm und ZTE kommen Maschinenbauer daher heute nicht mehr herum. Denn diese Unternehmen haben die fünf größten Portfolios an für den Mobilfunkstandard 5G relevanten Patenten, hat die auf geistiges Eigentum spezialisierte Unternehmensberatung IPlytics ermittelt. Bei Wi-Fi zählen zu dem Kreis auch die US-Chiphersteller Intel, Broadcomm und Marvell.
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Wenn sich diese Unternehmen in internationalen Standardisierungsorganisationen (auf Englisch: „standard setting organisation“, SSO) wie der Internationalen Fernmeldeunion, ITU, dem Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen, Etsi, oder der International Standardization Organisation, ISO, an der Entwicklung von Normen beteiligen, müssen sie offenlegen, welche für den jeweiligen Standard relevanten Patente sie besitzen. Das fordern die Regelwerke der meisten SSOs.
„Außerdem müssen sich Patentinhaber verpflichten, für die Nutzung der durch SEPs geschützten Technologien allen, die das wünschen, ohne Unterschied eine Lizenz zu fairen und vernünftigen Bedingungen – auf Englisch „fair, reasonable and non-discriminatory“ (Frand) – zu erteilen“, ergänzt Dr. Tim Meyer-Dulheuer, Patentanwalt bei der Kanzlei Meyer-Dulheuer MD Legal Patentanwälte in Frankfurt.
Niemand prüft, ob standardessentielle Patente für eine Norm wirklich relevant sind
Erkennt der Inhaber eines entsprechenden Schutzrechtes diese Regeln nicht an, wird seine Technologie nicht in den Standard aufgenommen. Daran hat er aber ein Interesse. Denn nur wenn Hersteller, egal welchen Produkts, die Technologie anwenden müssen, um eine Norm erfüllen zu können, erwerben sie eine Lizenz. SEP sind für innovative Unternehmen also eine attraktive Einkommensquelle.
Standardisierungsorganisationen prüfen allerdings nicht, ob die ihr gegenüber offengelegten Patente für die Erfüllung eines Standards auch wirklich relevant sind. Da solche Kontrollen der Patentwesentlichkeit fehlen, geben Unternehmen viele Schutzrechte als standardessentiell an, bei denen das technisch nicht gerechtfertigt ist.
Mangelnde Transparenz bringt juristische Risiken für Maschinenbauer
„Seit vielen Jahren leidet das derzeitige System daher unter einem Mangel an Transparenz, Vorhersehbarkeit und langwierigen Streitigkeiten“, erklärt Dr. Friedrich-Philipp Becker, Syndikusanwalt des Verbands deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) die juristischen Risiken, denen Maschinenbauer im Patentrecht ausgesetzt sind.
Um sich korrekt verhalten zu können, müssen sie gewaltigen Aufwand treiben. Schon herauszufinden, welche Patente die Technologien schützen, die sie nutzen wollen und wem diese gehören, überfordert viele kleinere Betriebe. In einer Umfrage der EU-Kommission wünschten sich 2022 acht von zehn Teilnehmern diesbezüglich mehr Transparenz. Neun von zehn Befragten befürworteten zudem, dass unabhängige Experten prüfen, ob ein bestimmtes bei einer SSO als standardessentiell angegebenes Patent dies auch tatsächlich ist.
Nirgendwo ist definiert, was Frand-Bedingungen sind
Ebenso unklar ist, welche Kriterien eine Lizenzvereinbarung erfüllen muss, damit sie als Frand gilt, und wie hoch Lizenzgebühren sein dürfen. Das bemängeln sieben von zehn Umfrageteilnehmern. Strittig ist vor Gericht allerdings oft nicht nur die angemessene Höhe der Gebühr, sondern die Frage, welcher Betrieb an welcher Stelle der Wertschöpfungskette die Lizenz beantragen und bezahlen muss.
Patentinhaber können sich sowohl bei Zulieferern wie beim Hersteller des Endprodukts schadlos halten, vergeben aber am liebsten nur letzterem die entsprechenden Rechte. Denn Grundlage für die Berechnung der Lizenzgebühr ist, wie viel die geschützte Technologie zum erzielbaren Verkaufspreis des Endproduktes beiträgt. Dieser ist bei einer fertigen Maschine höher als bei einer in sie verbauten Platine, einem Sensor oder Modem.
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Rechtsunsicherheit im Patentrecht bremst innovative Unternehmen aus
Die so verursachte Rechtsunsicherheit kann für Lizenznehmer teuer werden. Denn wenn sie vor den Patentkammern der Landgerichte in München, Düsseldorf oder Mannheim verklagt werden, oder selbst dort klagen müssen, tragen sie bei einem Streitwert von einer Million Euro ein Prozesskostenrisiko von 79.500 Euro, so die internationale Wirtschaftskanzlei Osborne Clarke. Für mittelständische Betriebe, die nach Angaben Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europaparlament 84 Prozent der Unternehmen stellen, die Lizenzen auf SEPs erwerben wollen, ist das eine echte Innovationsbremse.
EU-Patentrichtlinie soll mehr Transparenz bringen
Die EU-Kommission will dies mit einer Richtlinie zu standardessentiellen Patenten nun ändern. Den Entwurf dazu hat sie Ende April vorgestellt. Danach will die Kommission beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) in Alicante ein Kompetenzzentrum für standardessentielle Patente einrichten. Dieses soll ein SEP-Register und eine Datenbank mit Details der in den Schutzrechten beschriebenen Technologien und ihrer Bedeutung für die jeweiligen Standards aufbauen.
Sowohl die Inhaber von SEPs wie Unternehmen, die diese nutzen wollen, sollen beim EUIPO zudem für bis zu 100 Schutzrechte pro Jahr beantragen können, dass von dem Kompetenzzentrum benannte Sachverständige die Wesentlichkeit des Patents für einen Standard prüfen. VDMA-Anwalt Philipp Becker erwartet, dass solch ein System mehr Rechtssicherheit schafft und die Kosten für bei Patentstreitigkeiten vor Gericht insgesamt sinken.
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EU will Patentstreitigkeiten vorgerichtlich klären
Teure Verfahren soll künftig auch ein vorgerichtlicher Schlichtungsmechanismus für Streitigkeiten im Zuge von Verhandlungen über Frand-Konditionen vermeiden. Die EU-Kommission will Patentinhaber dazu verpflichten, die Schlichter anzurufen, bevor sie Klage vor einem Landgericht erheben. Unternehmen, die eine durch ein SEP geschützte Technologie anwenden wollen, sollen das Verfahren dagegen in Gang setzen müssen, bevor sie beim EUIPO die Bewertung der ihnen angebotenen Frand-Bedingungen durch Sachverständige beantragen können.
Nach den Vorstellungen der EU-Kommission können Unternehmen so über Lizenzen verhandeln, ohne befürchten zu müssen, sofort verklagt zu werden, wenn sie die Konditionen des Patentinhabers nicht widerspruchslos akzeptieren. Dieser dagegen soll von einem schnelleren Abschluss der Verhandlungen profitieren. Denn die Schlichtung soll, so der Richtlinienentwurf, nicht länger als neun Monate dauern.
Für Jurist Philipp Becker hat das vorgeschlagene Streitschlichtungsverfahren sowohl Vor- wie Nachteile. „Einerseits mag man dem derzeitigen Patentsystem, das marktoffen auf Verhandlungen zwischen den Marktteilnehmern setzt, einen merklichen Effizienzzugewinn absprechen, wenn Gerichtsverfahren ein bindendes behördliches Verfahren vorgeschaltet wird“, so Becker. „Andererseits erscheint ein außer-beziehungsweise vorgerichtliches Schlichtungsverfahren unter fachkundiger Leitung in der Lage, schneller und vor allem kostengünstiger zu tragbaren Ergebnissen zwischen Parteien zu gelangen.“
Verliert die EU durch die SEP-Richtlinie den Zugang zu Technologie aus China?
Es gibt auch Kritiker, die nicht abwägen und den Richtlinienentwurf rundweg ablehnen. Sie monieren, dass die Kommission mit dem EUIPO einer Behörde die Verantwortung für standardessentielle Patente überträgt, die kaum Erfahrung mit technischen Schutzrechten hat. Das Amt ist bislang für Urheber- und Markenrecht zuständig. IP Europe, die Interessenvertretung von Unternehmen, die wie die Mobilfunkausrüster Ericsson, Nokia und Qualcomm viele Patente auf Mobilfunktechnologien haben, hält auch andere von der Kommission vorgeschlagene Regelungen für so unausgewogen, dass die Richtlinie dem geistigen Eigentum in der EU mehr schadet als nutzt.
Das befürchtet auch Patentanwalt Tim Meyer-Dulheuer. „Chinesische Netzwerkausrüster und Elektronikkonzerne, die zahlreiche Patente für Mobilfunkstandards wie 5G, 6G, Wi-Fi oder Wi-Fi6 haben, werden sich den Vorgaben der EU-Kommission wahrscheinlich entziehen. Immerhin kann niemand sie zwingen, ihre Patente bei Standardisierungsorganisationen als essenziell für deren Normen zu deklarieren und sich zu verpflichten, Lizenzen zu Frand-Konditionen zu vergeben“, so Meyer-Dulheuer. Für bereits bestehende Standards macht dies keinen Unterschied. Die technische Entwicklung bleibt aber nicht stehen – gerade nicht in China. „Wenn chinesische Innovatoren aus dem Frand-System der SSOs ausscheren, müssen europäische Unternehmen künftig aber entweder auf in der Volksrepublik entwickelte Technologien verzichten, oder Lizenzen außerhalb des Rechtsrahmens der Standardisierungsorganisationen nehmen“, erklärt Patentanwalt Tim Meyer-Dulheuer.
Die von der Kommission vorgeschlagene Richtlinie zu SEPs könne für Unternehmen, die im Mobilfunk Basistechnologien anwenden wollen, somit zu einem großen und teuren Problem werden. Ob die Richter an Patentkammern der Landgerichte von Düsseldorf bis München dann weniger Arbeit haben werden? Wer weiß.
Bearbeitet von Julia Dusold