Wer den Standard setzt, kontrolliert den Markt, erkannte Werner von Siemens bereits vor mehr als 100 Jahren. Chinas Kommunistische Partei (KP) nimmt sich den Rat des deutschen Erfinders und Unternehmers noch heute zu Herzen.
Vor zwei Jahren veröffentlichte ihr Zentralkomitee (ZK) daher zeitgleich mit der chinesischen Regierung eine Standardisierungsstrategie für die Volksrepublik. „Es ist äußerst selten, dass das ZK solch technische Dokumente herausgibt“, erklärt Dr. Tim Rühlig, Fachmann für Chinas internationale Standardisierungspolitik und Senior Research Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Da Institutionen der Partei in China zudem einflussreicher seien als die des Staates, zeuge die Veröffentlichung durch die KP davon, wie wichtig diese die Standardisierung nehme.
Ihr Bekenntnis beruht auf den Ergebnissen des seit 2018 laufenden Strategieentwicklungs- und Forschungsprojektes „China Standards 2035“. Bei diesem Projekt suchen die zentrale Standardisierungsbehörde der Volksrepublik und die Chinesische Akademie der Ingenieurwissenschaften Wege, um die Standardisierungspolitik in der Volksrepublik und die von dieser damit betrauten Institutionen besser unterstützen können. Dazu tragen chinesische Hochschulen schon heute bei. Sie bieten Standardisierung als eigenständige Ausbildung und als Fach in anderen Studiengängen an.
China gewinnt in ISO und IEC immer mehr Entscheidungsmacht
Im Rahmen des Projektes haben die Regierungen in Peking und zahlreichen chinesischen Provinzen zudem Fördertöpfe eingerichtet, aus denen Unternehmen umgerechnet bis zu 155.000 Dollar bekommen, wenn sie sich in internationalen Standardisierungsinstitutionen wie der International Standardization Organization (ISO), der International Electroctechnical Commission (IEC) oder dem Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI) und dem Europäischen Komitee für Normung (CEN) engagieren. In der ISO besetzten Vertreter der Volksrepublik daher 2022 mit 76 Sekretariaten fast doppelt so viele derartige Positionen wie noch 2021. Auch in der IEC führt China zwölf Sekretariate.
Werden die von Chinesen in der ISO geführten Kommissionen mitgezählt, lagen dort im vergangenen Jahr sogar 732 Gremien in chinesischer Hand. Entsandte deutscher Unternehmen hatten im vergangenen Jahr 703 derartige Aufgaben übernommen.
Standards sollten in einem konsensorientierten Dialog entstehen
In den Technischen Kommissionen diskutieren Fachleute Vorschläge ihrer Kollegen dazu, wie sich eine bestimmte Technologie am besten standardisieren lässt. So entstehen Standards idealerweise in einem Dialog, in dem sich ein Konsens darüber ausbildet, wie die Norm aussehen soll. Sekretariate organisieren dabei die Arbeit der Kommissionen. Sie können viel Einfluss darauf nehmen, was in diesen passiert und über welche Vorschläge welcher Mitglieder sie abstimmen. Letztlich können die Seketretariate einzelnen Unternehmen so dabei helfen, ihre Innovationen als Standard durchzusetzen.
China engagiert sich in den internationalen Normungsinstitutionen vor allem in Kommissionen und Sekretariaten, die Standards für Zukunftstechnologien wie das Internet der Dinge, die künstliche Intelligenz, die Industrie 4.0, neue Werkstoffe oder erneuerbare Energien und smarte Stromnetze entwickeln.
Chinesische Staatsbürger üben zudem immer häufiger Ämter im Vorstand der internationalen Standardisierungsorganisationen aus. So führt der Chinese Zhao Houlin seit 2015 die International Telecommunications Union (ITU) als Generalsekretär. Die IEC leitete bis 2022 Zhu Yinbiao, ebenfalls ein Bürger der Volksrepublik.
Es ist Chinas gutes Recht, sich in die internationale Standardisierung einzubringen
Daran ist erst mal nichts auszusetzen. „Dass China Verantwortung im internationalen Standardisierungsprozess übernimmt, muss man einer so großen Volkswirtschaft wie der Volksrepublik zugestehen“, findet Sibylle Gabler. Sie ist in der Geschäftsleitung des Deutschen Instituts für Normung (DIN) für Regierungsbeziehungen und External Relations zuständig. Außerdem sei die Zusammenarbeit dort für alle Beteiligten transparent. „China könnte sich auch aus den internationalen Gremien verabschieden und eigene Standardisierungsorganisationen aufbauen, oder versuchen seine nationalen Standards in bilateralen Vereinbarungen mit anderen Staaten durchzusetzen“, ergänzt DGAP-Experte Tim Rühlig.
China setzt andere Staaten unter Druck, in seinem Sinne über Standards abzustimmen
Die Volksrepublik verpflichtet ihre Vertreter in den Kommissionen der Standardisierungsorganisationen allerdings oft auf Spielregeln, die nicht zum demokratischen Anspruch der ISO, IEC und ETSI passen. „Es gibt Fälle, in denen wir gesichert annehmen können, dass Peking das Votum kontrolliert hat, das chinesische Vertreter in den Abstimmungen von Kommissionen abgegeben haben. Damit wurde Abstimmungszwang auf diese Personen ausgeübt“, erklärt Tim Rühlig von der DGAP. Bei 90 Prozent der Standardisierungsarbeit komme das zwar nicht vor, bei strategisch relevanten Abstimmungen aber durchaus. Auch wirtschaftlich von ihr abhängige oder bei ihr verschuldete Staaten setzt die Volksrepublik unter Druck, damit sie in ihrem Sinne abstimmen.
Peking weiß, dass sich mit Standards und Patenten viel Geld verdienen lässt
„Chinas Führung versteht sehr gut, dass sich viel Geld verdienen lässt, wenn chinesische Unternehmen Innovationen entwickeln und mit Patenten schützen, und der internationale Standard für die Technologie zugleich so gestaltet wird, dass er das geschützte geistige Eigentum chinesischer Firmen abbildet“, erklärt Tim Rühlig von der DGAP. Unternehmen, die ihre Produkte an die in solchen Patenten geschützten Erfindungen anpassen müssen, um sie standardkonform herstellen zu können, haben im Gegenzug hohe Ausgaben. Im kostspieligen globalen Innovationswettbewerb ist das ein nicht unerheblicher Nachteil.
Technische Standards werden zur Waffe des Konfliktes zwischen China und den USA
Technische Standards haben allerdings nicht nur wirtschaftliche Bedeutung. „Da sie bestimmte Anwendungen oder Funktionen einer Technologie zulassen oder verhindern, prägen sie das Verständnis, das wir von einer „normalen“ Technologie haben. Ein Standard bildet also immer auch die gesellschaftlich und politisch für wünschenswert gehaltenen Werte ab, wie sie die Mitglieder der entsprechenden Standardisierungskommission bei ihrer Arbeit vertreten“, erklärt Tim Rühlig.
Zugleich lassen sich ethische ebenso wie Schwachstellen im Bereich der IT- und Cybersicherheit in einen Standard einbauen. Wer Einfluss auf die Erarbeitung von Normen nimmt, kann daher neben Wettbewerbern auch anderen Staaten und deren Bürgern massiven Schaden zufügen. „Denn wenn es Beteiligten in einem Standardisierungsprozess gelingt, technische Lücken offen zu halten, die ein Sicherheitsproblem darstellen, werden Produkte mit dieser Schwachstelle weltweit mitunter millionenfach hergestellt“, veranschaulicht DGAP-Standardisierungsexperte Rühlig das Problem. Für Staaten wie China und die USA werden Standards so auch zu einem Instrument, mit dem sie geopolitische Interessen verfolgen können.
In ISO, IEC und ETSI wird Geopolitik auf dem Rücken von Privatpersonen ausgetragen
„Diese Politisierung der Standardisierung führt mitunter dazu, dass deutsche Expertinnen und Experten privater Unternehmen, die ihre Fachkenntnisse in technischen Komitees als Delegierte aus Deutschland in die Arbeit an einer Norm einbringen wollen, auf Personen stoßen, die im Auftrag der Regierung ihres Heimatlandes tätig sind“, berichtet Sibylle Gabler von DIN. Wer bei der ISO oder IEC die deutsche Meinung vertrete, sei dann aber anders als Entsandte mit einem politischen Auftrag nicht durch ein staatliches Mandat ermächtigt.
„Die am 3. Februar 2023 vorgestellte Standardisierungsstrategie der Europäischen Kommission versucht hier zwar einen gewissen Rückhalt zu bieten, weil sie das Thema Normung in der EU auf eine höhere politische Ebene trage als je zuvor“, so Gabler weiter. Die Strategie könne allerdings das Problem nicht lösen, dass in internationalen Standardisierungsinstitutionen politische Konflikte oft auf dem Rücken einzelner Menschen ausgetragen werden.
Noch nie nahm die Europäische Kommission Standardisierung so ernst wie heute
In ihrer Strategie ergänzt die EU die Arbeit der nationalen Standardisierungsinstitutionen und –verbände ihrer Mitgliedsländer um ein strategisches Element auf Ebene der Europäischen Gemeinschaft - das „High Level Forum on Standardization“. An diesem sollen neben hochrangigen Beamten der EU-Kommission auch Vertreter von Standardisierungsorganisationen, Unternehmen, Hochschulen und der Zivilgesellschaft teilnehmen.
„Da Industrie und Standardisierungsinstitutionen hier mit Politikern auf der höchsten Ebene der EU zusammenarbeiten, kann es gelingen, für europäische Unternehmen günstige Rahmenbedingungen im Bereich der Standardisierung zu schaffen“, erwartet DGAP-Fachmann Tim Rühlig. „Denn die Politik erfährt unmittelbar, was die Firmen brauchen, um in der Normung weiter stark zu bleiben.“
Zugleich könne das High Level Forum einen Konsens über die Technologien erarbeiten, an deren Standardisierung die EU ein besonderes Interesse hat – etwa dem Internet der Dinge, Halbleitern, Robotik, Quantencomputing, 5G oder der Künstlichen Intelligenz. Aus Europa in einschlägige Kommissionen in internationalen Standardisierungsgremien entsandte Fachleute könnten damit quasi „im Auftrag“ der EU auftreten.
Standardisierung muss Bestandteil der akademischen Ausbildung werden
Um ihnen den Rücken zu stärken, wird das allein aber nicht reichen, befürchtet Sibylle Gabler vom DIN. „Damit Menschen, die sich in der internationalen Standardisierungsarbeit einbringen wollen, klug und zielführend verhandeln können, müssen wir Standardisierung auch hierzulande in die akademische Ausbildung aufnehmen“, fordert Gabler. Außerdem brauchen Unternehmen, die sich beteiligen wollen, finanzielle Unterstützung. Denn gerade bei kleinen und mittelgroßen Unternehmen schlagen die anfallenden Personal- und Reisekosten deutlich zu Buche. „Hier könnten Fördermittel, aber vor allem die Möglichkeit, den Aufwand steuerlich abzusetzen, Abhilfe schaffen“, schlägt Tim Rühlig von der DGAP vor.
Vertreter der USA und Chinas dürfen nicht über europäische Normen entscheiden
Obwohl die Standardisierungsstrategie der EU also nachgebessert werden muss, hat sie, so Rühlig, viel Potenzial. Auch, weil sie sich der zunehmenden Einflussnahme von Vertretern US-amerikanischer und chinesischer Unternehmen in europäischen Normungsgremien annimmt.
Konzerne wie Apple, Microsoft oder Huawei reichen beim ETSI inzwischen mehr Standardisierungsvorschläge ein als europäische Unternehmen, heißt es aus dem Vorstand des Instituts. Wenn aus diesen Vorschlägen Standards entwickelt werden, erlangen sie als sogenannte harmonisierte europäische Normen (hEN) jedoch de facto Gesetzeskraft, sobald sie in Richtlinien und Vorschriften der EU zitiert werden. Rühlig erklärt, dies sei zwar nur bei knapp fünf Prozent der vom ETSI entwickelten Normen der Fall.
Dennoch sei es zu begrüßen, dass dank der Standardisierungsstrategie der EU nun nur noch solche Vertreter hEN beschließen dürfen, die von den Normungsorganisationen der EU-Staaten abgeordnet sind. Schließlich gilt: Wer den Standard setzt, beherrscht neben dem Markt für eine Technologie längst auch die Art, wie die Politik mit dieser Technologie umgeht.