Team-Gespräch in Werkshalle mit 5 Personen

Digitales Shopfloor Management ersetzt nicht die persönlichen Rücksprachen vor Ort. - (Bild: ROI)

Kaum ein Buzzword beschäftigt Produktionsverantwortliche hierzulande derzeit so stark, wie das digitale Shopfloor Management. Kein Wunder, beschert es produzierenden Unternehmen doch immense Effizienzvorteile, indem Daten aus dem Fertigungsprozess direkt an der Quelle erfasst und automatisiert weitergereicht und angereichert werden. Vorbei damit die Zeiten des manuellen Dokumentierens, des mühsamen Beschaffens und Zusammenführens von Informationen aus unterschiedlichen Arbeitsplätzen eines Bereichs.

Was dabei allerdings meist übersehen wird: Durch die Digitalisierung und teilweise Automatisierung dieser bislang analogen Tätigkeiten verändert sich auch der Umgang der Mitarbeiter und Führungskräfte mit den Prozessen selbst – und zwar in einer Weise, die der ursprünglichen Idee des „Führens vor Ort“ widerspricht.

Remote Monitoring statt Problemlösung vor Ort

Denn anstatt die Abläufe vor Ort selbst zu begutachten, erhalten Prozessverantwortliche die Zahlen, Daten, Fakten heute direkt von den Maschinen online auf den Bildschirm – ohne den „Umweg“ über den Mitarbeiter gehen zu müssen. Automatisierte Informationskaskaden und Eskalationsstufen von Abweichungen liefern zu jedem Zeitpunkt die richtige Information an die richtige Stelle – eine zentrale Voraussetzung für die effiziente Steuerung in der digitalen Fabrik.

Doch dieses „Remote-Monitoring“ mithilfe von digitalen Tools kann weder die Präsenz und Kommunikation am Ort der Wertschöpfung noch die Erfahrung und Intuition langjähriger Mitarbeiter völlig ersetzen. Vielmehr drohen durch das Fehlen von Primärerfahrungen und direkten Einschätzungen Fehlinterpretationen und falsche Rückschlüsse.

Aus dem Führen 4.0 wird so schnell ein führungsloses Überwachen im Sinne eines „Management by Exception“ statt einer proaktiven und lösungsorientierten Auseinandersetzung mit den Problemen am Shopfloor – wie sie ursprünglich im Zentrum des Shopfloor Managements stand.

Entfremdung von den eigenen Prozessen

Doch nicht nur Führungskräfte sind von diesen Verhaltensänderungen betroffen – auch Meister, Maschinenbediener und Monteure neigen dazu, sich weniger intensiv mit den Prozessen vor Ort auseinanderzusetzen, sobald die Daten aus dem eigenen Arbeitsbereich automatisiert erfasst und bereitgestellt werden.

Denn an die Stelle eines persönlichen Reportings und „Verteidigens“ der eigenen Zahlen treten festgelegte Informationskaskaden und automatische Eskalationsberichte. Diese Entfremdung vom eigenen Verantwortungsbereich ist fatal: Denn wer sich nicht mit den eigenen Kennzahlen beschäftigt, beschäftigt sich auch nicht mit der Problemlösung.

KVP bleibt auf der Strecke

Diese Praxis der „führungslosen Prozesssteuerung“, wie sie mittlerweile vielerorts vorzufinden ist, steht damit im krassen Gegensatz zu den Lean-Prinzipien, die darauf abzielen, den Prozess möglichst gut zu verstehen und kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Fehlt die intensive Auseinandersetzung mit den Prozessen vor Ort, werden die eigentlichen Problemursachen oft nicht gefunden und der kontinuierliche Verbesserungsprozess bleibt auf der Strecke. Digitale Technologien können in diesem Zusammenhang zwar durchaus unterstützend wirken – allerdings nur, wenn sie auf funktionierenden Lean-Routinen fußen.

Das umfasst insbesondere „analoge Tugenden“ wie die Fehlersuche vor Ort und persönliche Rücksprachen mit den Mitarbeitern im Shopfloor. Ein digitales Shopfloor Management, das genau diese Elemente unterbindet, führt sich somit selbst ad absurdum.

Gegenkonzept zur „Führungslosen Prozesssteuerung“

Unternehmen stehen damit vor ähnlichen Herausforderungen wie einst bei der Einführung von Lean Production. Damals wie heute geht es darum, nicht nur Tools und Methoden einzuführen, sondern das Verhalten der Mitarbeiter so nachhaltig zu verändern, dass sie die Philosophie dahinter tatsächlich leben.

Im Fall des digitalen Shopfloor Managements bedeutet das beispielweise, dass Mitarbeiter die Freiräume und Zeitersparnisse, die sie durch den Wegfall manueller Dokumentationspflichten gewonnen haben, einsetzen, um die Problemlösung und Weiterentwicklung der Prozesse vor Ort konsequent voranzutreiben.

Nur so ist sichergestellt, dass sich der Einsatz von DSFM-Tools auch tatsächlich positiv auf die Prozessqualität auswirkt. Führung bedeutet in diesem Zusammenhang, das Bewusstsein und die Rahmenbedingen zu schaffen, dass Mitarbeiter ihre freigewordenen Potenziale bestmöglich im Sinne einer kontinuierlichen Prozessverbesserung einbringen können.

Timeboxing für die Problemlösung

Das erfordert eine Sensibilisierung und Befähigung insbesondere der Rollen im Unternehmen, die bislang mit den administrativen Aufgaben im Rahmen der Prozesssteuerung beschäftigt waren und künftig eine gestalterische und lösungsorientierte Funktion einnehmen sollen.

Dabei reichen Trainings- und Weiterbildungsmaßnahmen allein allerdings nicht aus. Stattdessen sollten – vergleichbar mit agilen Arbeitsmodellen – feste Routinen zur Problemlösung und Weiterentwicklung der Prozesse etabliert werden, um eine echte Lean-Digital Philosophie nachhaltig abzusichern. Fixe, regelmäßige Termine im Sinne eines „Timeboxing für die Problemlösung“ bilden dabei eine Möglichkeit, mit der Führungskräfte ihren Mitarbeitern Zeit geben, um an der Erreichung ihrer Prozessziele zu arbeiten.

Der Mensch im Mittelpunkt der Wertschöpfung

Fest steht: Das digitale Shopfloor Management ist ein unverzichtbarer Schritt bei der Etablierung eines effizienten durchgängigen Informationsflusses in modernen Produktionsumgebungen. Sein volles Potenzial kann es jedoch nur dann entfalten, wenn die Mitarbeiter, insbesondere die Meister, eine aktive Rolle als Problemlöser und Prozessentwickler einnehmen. Dann liefert das digitale Shopfloor Management einen echten Mehrwert zur Optimierung des Produktionssystems.

Ist das nicht der Fall, handelt es sich lediglich um ein Tool zur kurzfristigen zeitlichen Entlastung der Mitarbeiter, das schlimmstenfalls sogar die Weiterentwicklung des Produktionssystems blockieren kann.

Damit betont das digitale Shopfloor Management auch im Zeitalter von Industrie 4.0 die Rolle des Menschen als Dirigent der Wertschöpfung in immer stärker automatisierten Produktionsumgebungen. Wenn sich sein Tätigkeitsbereich verändert wie weiter oben beschrieben, liegt darin eine große Chance zur Neuinterpretation und Aufwertung seiner Rolle. Die zentrale Aufgabe von Führung im digitalen Produktionsumfeld ist es, Mitarbeiter zu befähigen, diese neue Rolle anzunehmen und auszufüllen.

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Zum Autor

Jonas van Thiel

Autor: Jonas van Thiel

Principal & IoT Operations-Experte, ROI Management Consulting AG

Kontakt: I4.0@roi.de

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