Seit mehr als 200 Jahren wird an den Ufern der Flüsse Nette und Hase bei Kämmerer in Osnabrück Papier hergestellt. Heute hat sich das Unternehmen auf Spezialpapiere wie Dekorpapiere, Schleifrohpapiere, Tapetenvlies sowie Tapeten- oder Posterpapiere konzentriert. Die Papiermaschinen, die das Unternehmen dazu nutzt, sind zwar noch nicht ganz so alt, aber von brandneu kann auch keine Rede sein: Sie stammen aus den Jahren 1923, 1925 und 1957. Zumindest die Basis. "Das ist wie bei einem Fahrrad, bei dem der Rahmen 30 Jahre alt ist, der Reifen aber neu", erklärt Matthias Pieper, der Leiter Technik bei Kämmerer und mit seinem rund 70 Köpfe starken Team zuständig für die Instandhaltung der Maschinen sowie der anderen Anlagen auf dem Gelände.
Seine drei betagten Hauptkunden machten dem Technikleiter Sorgen – speziell die Lager: "Die Maschine hat 40 Trockenzylinder, 160 Leitwalzen und 15 Funktionswalzen. Jeweils mit zwei Lagerstellen. Und das ist nur die reine Papiermaschine – die vorgelagerten und nachgelagerten Prozesse nicht mitgerechnet", sagt er mit Blick auf die Papiermaschine 3. "Wir haben immer wieder das Problem, dass gerade Leitwalzen unangekündigt mit Lagerschäden den Dienst versagen", sagt er. "Dann stehen die Maschinen für zwei, drei, vier Stunden still – was bei einer Papiermaschine natürlich dramatisch ist. Konstruktiv kann man da aber wenig machen, da die Maschinen aufgrund ihrer Bauweise ursprünglich mal für ganz andere Geschwindigkeiten konzipiert wurden. Wir kommen aber heute an allen drei Maschinen schon in die Grenzregionen der Produktionsgeschwindigkeiten, die konstruktiv möglich sind."
Überblick Condition Monitoring
Sie interessieren sich für Condition Monitoring, die Technologie dahinter und die neuesten Entwicklungen zum Thema? Dann ist unser Überblick dazu genau der richtige Lesestoff für Sie.
Einfach hier klicken und schon finden Sie Informationen rund um die moderne Zustandsüberwachung.
Also war eine Möglichkeit gesucht, die Maschinen mit Sensoren nachzurüsten, die Leitwalzen und Getriebe überwachen und eventuelle Unregelmäßigkeiten melden sollten, um sich anbahnenden Schäden rechtzeitig begegnen zu können. Mobile Systeme fielen aufgrund der dann dafür nötigen Manpower aus. Und auch konventionelle Sensorik, die für die Stromversorgung sowie die Messwertübertragung an Kabel gebunden ist, kam für Pieper nicht infrage. "Denn die Verkabelung ist oftmals die Quelle des Übels", sagt Pieper.
Der Profi kennt die Problemstellen wie die Siebe, die die Papierbahnen durch die Maschine führen und öfter getauscht werden müssen. "Dabei – wie auch beim Tausch von Leitwalzen – lässt es sich fast gar nicht vermeiden, dass Kabel beschädigt werden. Dann haben sie mehr Fehlermeldungen aufgrund defekter Kabel als Sie Nutzen aus der Schwingungsüberwachung haben." Daher war für Pieper von Anfang an klar: Eine Nachrüstung mit verkabelten Systemen wird es mit ihm nicht geben. Also blieb vorerst nur der ‚traditionelle’ Weg: "Wir haben Personen in der vorbeugenden Instandhaltung, die nichts anderes machen als Rundgänge. Die finden mit dem klassischen Hören und Fühlen auch vieles", erklärt Pieper. "Wir waren also nie schlecht – aber verbessern kann man sich immer."
Nachrüst-Sensorik-Lösung über Investor-Connections
Möglicherweise hätte man bei Kämmerer noch geraume Zeit die passende Lösung gesucht, wäre da nicht der technologie-, investitions- und startupaffine Hauptinvestor des Unternehmens. "Er nutzt uns schon durchaus auch mal als großes Feldversuchslabor", sagt Pieper. "Dann klingelt das Telefon und es heißt 'Ich hab‘ da was, das müssen Sie sich mal anschauen.' Er kommt einfach oft auf Unternehmen, Produkte und Technologien, auf die ich im Tagesgeschäft im Leben nicht stoße." Diesmal war er auf den Sensorik- und Netzwerkspezialisten Endiio gestoßen, dessen CEO Dr. Tolgay Ungan er kannte. Das Unternehmen hatte ein Baukastensystem entwickelt, das extrem energiesparende, wartungsfreie und drahtlose Sensorik mit ausgeklügelter Funkübertragungstechnik, einem Gateway und einem Cloud-Überwachungsportal verbindet.
„Der Ansatz, den Endiio mit der Funktechnik wählte, klang für mich erstmal interessant und ich wollte es probieren“, erinnert sich Technikleiter Pieper. „Aber ich gebe zu, ich habe dem System zuerst gar keine Chance eingeräumt, weil aus einer aluminiumeingehausen Wärmeschutzhülle mit einer Temperatur von 120 Grad, in der die Trockenpartie der Papiermaschine läuft und wo wir die Sensoren an Leitwalzen anbringen wollten, rechnete ich nicht mit Funksignalen.“
Insofern nahm er die Ansage des Endiio-CEO nicht ganz für bare Münze: „Dr. Ungan sagte, er würde jetzt aus der eingehausten Wärmehaube in eine mit Metallfenstern ausgerüstete Lärmschutzkabine funken und das über 80 Meter quer durch die Maschinenhalle. Ich habe zum Glück nicht darauf gewettet, dass das nicht funktioniert, denn die Wette hätte ich verloren.“ Tatsächlich war das Signal bis in der hinterletzten Ecke der Halle empfangbar. „Das beeindruckt mich bis heute – gerade wenn man sieht, wo heute die Sensoren verbaut sind.“
Diese Sensoren allerdings haben es in sich. Die mit Energyharvestern ausgerüsteten Module können praktisch jede Art von Sensor aufnehmen, wie CEO Ungan erklärt. Dann wird alle 15 bis 30 Minuten ein neuer Messwert erzeugt. Der Clou: Das System braucht keinen absoluten physikalischen Wert, sondern misst die Abweichung vom zuvor gelernten Normalwert. "Das Charmante an diesem Ansatz ist, dass man unabhängig von der Drehzahl oder der Umgebung einen Eindruck bekommt, über: Was ist normal bis hin zum Kaputten", erklärt Ungan. "So wollen wir auch den Installationsaufwand bis hin zum Auswerten minimal halten, sodass der Anwender keine Datenanalysten braucht. Die Auswertung der Messgrößen erfolgt nicht in der Cloud, sondern ausschließlich im Gateway. Die Cloud wird 'nur' zur Darstellung der Daten und der Alarme verwendet."
Durch die relativ geringe Größe der Sensoreinheiten können sie praktisch überall angebracht werden – im Prinzip sind vier Schrauben ausreichend. Durch die geringe Stromaufnahme von 2,8 µA bei 3,3 Volt und die Ausrüstung mit beispielsweise Fotozellen für das Energyharvesting sind sie über praktisch die gesamte Lebensdauer unabhängig von Kabeln.
Prädestinierte Anwendungen gesucht
Diese Spezifikationen sowie der gelungene Funktest erleichterten dem Kämmerer-Technikchef die Aufgabe: "Dann haben wir uns relativ leicht erreichbare Leitwalzen herausgesucht, die zwar in einer sehr warmen Umgebung laufen, an die man aber gut rankommt. Denn uns war klar, dass wir schon ein wenig Babysitting bei den Versuchen machen müssen", erklärt Pieper. Damit sollte er recht behalten, denn ein paar Faktoren gab es noch zu tunen: "Wir haben verschiedene Kunststoffe in der Sensorik ausprobiert. Denn es gibt in der Papiermaschine Bereiche, da kann der Mensch die Lage beobachten und auch mal einen Finger hinhalten und fühlen. Aber es gibt auch Bereiche wie unter der Trockenhaube, wo wir aktuell fünf Sensoren installiert haben, da herrschen dauerhaft Temperaturen von 120 Grad Celsius – da kann keiner hingehen. Und genau das ist dann natürlich eine prädestinierte Anwendung für eine Fernüberwachung."
Es wurde viel getestet und herangetastet. "Jetzt sind wir soweit, und die Geräte haben das zum Teil ja schon über 1,5 Jahre im Einsatz in der Trockengruppe mit 120 Grad Dauerumgebungstemperatur bewiesen, dass das Energyharvesting über die Beleuchtung oder die thermischen Bedingungen funktioniert."
Entscheidend ist die Abweichung
Für Pieper liegt der Reiz der Lösung im Pragmatismus: "Andere Verfahren können mit hoher Genauigkeit feststellen, ob der ein Wälzlager?">Schaden an einem Wälzkörper, am Innen- oder Außenring aufgetreten ist. Aber das Lager ist trotzdem schlicht kaputt und ich muss es wechseln, denn ich wechsle ja in aller Regel nicht nur diesen einen Wälzkörper." Ausschlaggebend sei also die Abweichung: "Nur die will ich sehen. Ich will auch gar nicht wissen, welche Walzen gut laufen. Ich will mich nicht damit beschäftigen, dass ich alle FFT-Analysen durchgehe, sondern nur die, hinter denen ein hoher Geldwert steht."
Für Pieper verbindet das System die Reduzierung auf einfache Analysen, auf einfache Aussagen, auf einfache Installation und Vereinfachung der Arbeit: "Denn man kann man natürlich die Frage stellen, warum muss einer rumgehen und sich 160 Walzen anhören, von denen 158 gut laufen. So gibt es ein System, das mich darauf hinweist, gehe nur zu den Walzen 62 und 108, da tut sich was", sagt Pieper. "In der Sensorunit und im Gateway passiert natürlich viel, da steckt viel Knowhow dahinter. Aber nach außen hin, für die Mitarbeiter sind es vier Befestigungsschrauben für die Unit, Antenne drauf, ins Gateway einlesen und fertig. Und die Papiermacher, die die Walzen teilweise selbst wechseln, können die vier Schrauben lösen und die Unit zur Seite legen und dann wieder anbringen."
Mitarbeiter entlasten, nicht entlassen
Dennoch soll das System nicht dafür sorgen, dass Personal abgebaut werden kann. "Im Gegenteil – dann verlagert sich die Arbeit in die anderen, heute nicht so intensiv begangenen Bereiche der Papierfabrik", sagt Pieper. Dr. Ungan schlägt in die gleiche Kerbe: "Wir wollen das System natürlich so einfach wie möglich machen. Aber trotzdem ist es nicht unser Ziel, dass das jetzt übertrieben gesagt die Reinigungskraft übernehmen soll, sondern wir wollen ja Mitarbeiter entlasten. So nimmt man aus vielen Fällen die Dramatik raus und kümmert sich in erster Linie um die Hot Topics."
Ungan ist überzeugt, dass sich im Brownfield Geld verdienen lässt und es nicht immer eine neue Maschine sein muss. "Das ist ein wenig mein Nachhaltigkeitsgen: Ich glaube, die Maschinen werden immer sehr alt sein und gut funktionieren und es gibt einen Nachrüst-Trend in der Sensorik. Wir wollen eine Plattform sein, die es 50, 70 oder 100 Jahre alten Maschinen ermöglicht, so intelligent und sensibel zu sein, dass man sie guten Gewissens weiter nutzen kann."
Aktuell sind die Sensoren bei Kämmerer an der Papiermaschine 3 verbaut. Das soll sich aber ändern: "Sobald alle Maschinen ein neues Leitsystem haben, werden wir darangehen, auch die anderen Maschinen auszurüsten", sagt Pieper. "Die Wahrscheinlichkeit, dass wir für viele Millionen Euro noch eine neue Papiermaschine hinstellen ist relativ gering. Wir stellen Spezialpapiere her und die Maschinen sind auf die Produkte angepasst. Die Märkte sind relativ klein, wir werden also mit diesen Maschinen auch in zehn, in 15 Jahren noch erfolgreich Papier machen. Aber wir müssen natürlich sehen, dass wir Verfügbarkeit sowie Output verbessern und mit schlanken Methoden diese Maschinen auch am Laufen halten. Da passt die pragmatische Lösung natürlich."