Das Verfahren versprach insbesondere bei schwer zu zerspanenden Materialien wie beispielsweise Titan oder Inconel deutlich höhere Standzeiten oder schnellere Bearbeitungsprozesse. Angesichts des Siegeszugs dieser Materialien müsste das Verfahren doch mittlerweile viele Anwender haben?
Nein, weit gefehlt: „Mir sind keine Anwender bekannt, die das Verfahren in der Serienproduktion einsetzen. Wir sind immer noch auf der Suche nach einem Technologiepionier, der mit uns und den Systempartner den Einsatz in der Serie erproben möchte“, sagt Thomas Schaarschmidt, Technologieverantwortlicher beim Präzisionswerkzeughersteller Walter AG.
Warum hat das Verfahren den Durchbruch nicht geschafft? Eine Erklärung liefert Dr. Jens Osmer vom Machining Innovations Network: "Ich glaube, dass bei vielen potenziellen Anwendern Skepsis vorherrscht. Das betrifft insbesondere die eingesetzten Medien wie flüssiges Kohlendioxid oder flüssigen Stickstoff."
Die seien von der Handhabung ganz anders als herkömmliche Kühlschmierstoffe. Weil diese Prozesse seit vielen Jahren laufen, sei die Bereitschaft nicht sehr ausgeprägt, an der Überflutungskühlung etwas zu ändern. Und das, obwohl dieses Verfahren Nachteile hat, wie beispielsweise stark verschmutzte Bauteile, die anschließend gereinigt werden müssen. "Das entfällt bei der kryogenen Kühlung, weil das Medium in der Regel vollständig verdampft", weiß Osmer.
Dr.-Ing. Benjamin Döbbeler, Oberingenieur am Werkzeugmaschinenlabor der RWTH Aachen, vergleicht das Szenario mit dem Durchbruch der Trockenbearbeitung. Auch hier waren die Potenziale lange bekannt und trotzdem dauerte es viele Jahre, bis das Verfahren im großen Stil in der Praxis eingesetzt wurde. "Die Umsetzung und die Bestimmung der entsprechenden Schnittparameter dauert einfach seine Zeit", glaubt Döbbeler. So dachte man bei der Trockenbearbeitung zunächst, man müsse die Schnittgeschwindigkeit reduzieren, um die Belastung der Maschine zu verringern. Später ist man dann dazu übergegangen, mit neuen Schneidstoffen die Schnittgeschwindigkeit zu erhöhen, um die Wärmeeinwirkung möglichst kurz zu halten.
"Einen ähnlichen Effekt sehen wir derzeit bei der kryogenen Kühlung und es gilt auch hier, dass das Verhältnis von Kühlung zur Prozessleistung passen muss", so Döbbeler. Noch sei es häufig der Fall, dass zu viel Kühlung zugeführt werde. Das Werkzeug vereist dann und dadurch wächst neben der verschlechterten Wirtschaftlichkeit durch hohe Zufuhrmengen die Gefahr thermischer Schocks. Das Werkzeug bricht dann vorzeitig. Wird dagegen zu wenig Kühlung zugeführt, verschleißt das Werkzeug vorzeitig. "Die hohe Kunst besteht darin, die Kühlung in das richtige Prozessfenster zu schieben", erklärt Döbbeler.
Mit CO2 kühlen
Ein Hemmschuh beim Durchbruch der kryogenen Kühlung ist laut Osmer auch die relativ aufwendige Umrüstung der Maschine: "Bei flüssigem Stickstoff muss das komplette Leitungssystem vom Tank bis hin zum Werkzeug sehr aufwendig isoliert werden. Bei CO2 ist es etwas einfacher, weil das Gas auch bei Zimmertemperatur flüssig ist."
Deswegen tendiert Osmer zu einer Lösung mit CO2. Allerdings bestünden bei CO2 gesundheitliche Bedenken und es seien teilweise zusätzliche Absaugungen oder Sicherheitsmaßnahmen für den Maschinenbediener erforderlich.
Auch Döbbeler setzt auf CO2: "Früher dachte man, dass die Potenziale beim Stickstoff wegen seiner nominell tiefer erreichbaren Temperatur höher sind. Mittlerweile sehe ich es so, dass CO2 bei ähnlicher Kühlwirkung interessanter und höchstwahscheinlich wirtschaftlicher ist." Die Umrüstung sei nicht so aufwendig und zudem sei CO2 auch bei Zimmertemperatur unter geeignetem Druck flüssig. Dabei habe man bei der Drehbearbeitung von Titan schon einige vielversprechende Erfahrungen gesammelt.
Führender Maschinenhersteller bei der kryogenen Kühlung ist die Schweizer Starrag Group. "Die kryogene Kühlung ist auf allen unseren Schaufelbearbeitungszentren der LX-Baureihe möglich. Diese Maschinen sind mit vertretbarem Aufwand nachrüstbar", berichtet Entwicklungsleiter Dr. Markus Ess. Neben kleinen Anpassungen müsse dazu nur ein entsprechendes System installiert werden.
"Natürlich muss auch die entsprechende Sicherheitstechnik an der Maschine nachgerüstet werden", berichtet Ess. Die Potenziale sieht er vor allem in einer verbesserten Profitabilität des Kunden. Je nach Wunsch könne entweder die Produktivität stark erhöht werden oder die Standzeit der Werkzeuge verlängert werden.
Zu den Skeptikern gehört Prof. Dirk Biermann von der Technischen Universität Dortmund: "Die kryogene Kühlung macht nur bei Werkstoffen Sinn, bei denen die konventionelle Kühlung an ihre Grenzen stößt und es zum Beispiel zu Schwierigkeiten hinsichtlich Werkzeugverschleiß, Span- oder Gratbildung kommt. Für Standardbearbeitungen ist sie nicht sinnvoll und es wird daher auch keinen Durchbruch im großen Stil geben."
Interview mit Prof. Dr.-Ing. Dirk Biermann
Produktion: Herr Prof. Biermann, was eignet sich zur kryogenen Kühlung besser: CO2 oder Stickstoff?
Prof. Biermann: Die Realisierung der Zuführung ist mit CO2 einfacher, denn bei Stickstoff benötigt man immer isolierte Leitungen. CO2 hat dagegen den großen Vorteil, dass es unter entsprechenden Drücken auch bei Raumtemperatur flüssig ist. Der eigentliche Kühleffekt tritt bei CO2 erst ein, wenn es aus der Düse austritt und die Phasenänderung von flüssig nach fest eintritt.
Wir haben beispielsweise Untersuchungen für hochfeste Titanwerkstoffe durchgeführt und konnten dabei nachweisen, dass CO2 sehr gute Bearbeitungsergebnisse ermöglicht. Ein Vorteil ist auch, dass ein gewisser Anteil in Gas umgesetzt wird, was eine Schutzgaswirkung gewährleisten kann.
Dagegen entstehen bei der normalen Bearbeitung mit Emulsion von höherfesten Titanwerkstoffen ausgeprägte Oxydschichten, die sehr hart sind. Bei der anschließenden Schlichtbearbeitung kommt es dabei zu großen Problemen beim Werkzeugverschleiß. Das kann man bei der CO2-Kühlung deutlich reduzieren bis komplett vermeiden.
Aber die Kühlwirkung ist bei Stickstoff aufgrund der besonders niedrigen Temperatur doch höher?
Prof. Biermann: Die Kühlwirkung kann man nicht so einfach an der Temperatur festmachen. Es muss auch die Wärmeaufnahme der Medien betrachtet werden und dabei liegt der Kühleffekt der beiden Gase gar nicht so weit auseinander.
Zudem muss bei der Bearbeitung von zähen und hochfesten Stoffen wie Titan oder Inconel der problematische Spanbruch beachtet werden. Bei der Kühlung mit CO2 treffen die Partikel mit sehr hoher Geschwindigkeit auf die Bearbeitungszone und gewährleisten so einen deutlich verbesserten Spanbruch.
Wir haben in unserem Labor gerade bei der Bearbeitung von hochfesten und zähen Titanwerkstoffen sehr gute Ergebnisse erzielt. Die Ergebnisse bei der Schlichtbearbeitung sind sogar vergleichbar zu denen bei einer Emulsionsbearbeitung mit Drücken von über 100 bar. Man kann den Spanbruch und auch die Gratbildung mit der Schneestrahlkühlung sehr gut in den Griff bekommen.
Ist das Umrüsten auch bei CO2 nicht sehr aufwendig?
Prof. Biermann: Für unsere Untersuchungen im Laborbetrieb ist die Umrüstung auf die kryogene Kühlung mit CO2 nicht sonderlich aufwendig. Wenn ich aber an Produktionsbedingungen mit Werkzeugwechslern und anderen Komponenten denke, wird die serientaugliche Umrüstung bereits deutlich aufwendiger.
Es sind dann spezielle Lösungen erforderlich, wie beispielsweise ein speziell angepasster Werkzeugrevolver für eine Drehmaschine. Es ist schwierig, konventionelle Maschinen mit vertretbarem Aufwand umzurüsten. Für die allermeisten Bearbeitungen ist die Investition in eine spezielle Maschine notwendig.
Es gibt auch den weiteren Aspekt der Arbeitssicherheit. Das ist zwar beherrschbar, aber ich würde mir eine spezielle Gassensorik wünschen, um kritische Situationen zu beherrschen. Damit ließe sich eine kritische Konzentration von CO2 im Arbeitsraum erkennen.