Die virtuelle
Inbetriebnahme hat sich als wesentlicher Bestandteil moderner
Produktionsplanung etabliert. Diese Methode ermöglicht es, potenzielle
Missverständnisse in der Planungsphase zu reduzieren und bietet Herstellern die
Möglichkeit, innovative Ansätze systematisch in die Praxis umzusetzen.
„Wir haben das nicht
angesprochen, weil wir davon ausgegangen sind, dass Sie es wissen.“ Diesen Satz
habe ich im Laufe der Jahre schon häufig gehört. Mangelhafte
Kommunikation ist der Hauptgrund, warum Projekte zur
industriellen Automatisierung in der Inbetriebnahmephase nicht wie geplant
verlaufen. Egal
ob es sich um eine neue Maschine, eine neue Zelle
oder eine ganze Produktionslinie handelt: In neun von zehn
Fällen kommt es zwischen den Projektpartnern zu Missverständnissen darüber, wie
das Design aussehen soll.
Auch ein Blick in die Dokumentation
löst die Unstimmigkeiten oft nicht, da gerade ungenaue, vage oder
unvollständige Informationen die Ursache für Meinungsverschiedenheiten sind.
Ein
Paradebeispiel ist die Fehlkommunikation in Bezug auf Input, Output und
Schnittstellen. Es
kann sein, dass der Systemintegrator von einer EtherCAT-Schnittstelle für ein
zentrales Gerät ausgeht, während der Gerätehersteller glaubt, dass der
Liniencontroller mit einer Profinet-Schnittstelle ausgestattet ist. Oder vielleicht hat der Linienintegrator vergessen, die
Existenz eines Sensors zu erwähnen, der zusätzliche Informationen aus dem Feld
erfasst, die für die Sicherheitsfunktionen der Maschine wichtig sind.
Beide
Szenarien verursachen zusätzliche Kosten. Doch es
gibt eine einfache Lösung: Die Spezifikation sollte nicht allein von Menschen
erstellt werden. Virtuelle Inbetriebnahme sorgt für weitaus genauere
Spezifikationen.
Vincenzo Monaco (Rockwell Automation) spricht im Podcast Industry Insights über digitale Zwillinge und Markterschließung.
Was ist
virtuelle Inbetriebnahme?
Bevor es um
das genaue Wie und Warum geht, wollen wir zunächst definieren, was virtuelle
Inbetriebnahme beinhaltet. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass virtuelle
Inbetriebnahme nicht dasselbe ist wie Simulation. Simulation ist ein sicherer
Raum, um Ideen auszuprobieren, zu ermitteln, was möglich ist und was nicht, und
„Was-wäre-wenn“-Szenarien zu untersuchen.
Virtuelle
Inbetriebnahme folgt im digitalen Prozess des Fertigungsdesigns auf die
Simulation. Sie baut auf dieser auf und ermöglicht das Testen ganzer
Fertigungssysteme in einer virtuellen Umgebung. So lässt sich sicherstellen,
dass potenzielle Probleme vor Beginn der eigentlichen Inbetriebnahme erkannt
und behoben werden, quasi als Plattform für die Erstellung präziser
Systemspezifikationen.
Die
Verwirrung um Simulation und virtuelle Inbetriebnahme rührt daher, dass sie
dieselbe Plattform verwenden.
Virtuelle Inbetriebnahme nutzt Model-in-the-Loop (MiL), Software-in-the-Loop
(SiL), Hardware-in-the-Loop (HiL) und digitale Zwillinge, um die optimale
Fertigungs- und Maschineneinrichtung zu erstellen.
Es gibt vier
Hauptaspekte, die für virtuelle Inbetriebnahme sprechen:
Anwendungsfall
1: Erstellung eines digitalen Entwurfs (Blueprints)
Wie bereits
zu Beginn dieses Artikels angedeutet, kann die virtuelle Inbetriebnahme von
Systemintegratoren und Maschinenbauern genutzt werden, um Unklarheiten zu
beseitigen. In einer virtuellen Umgebung können Konstrukteure Details zu
mechanischen Toleranzen, Leistung, Softwareschnittstellen usw. extrahieren und
diese zur Erstellung präziser Systemspezifikationen verwenden. Auf dieser
Grundlage kann ein endgültiger digitaler Blueprint für die Konstruktion und den
Betrieb der Maschine, Anlage oder Fertigung erstellt werden, sodass keine
Unklarheiten hinsichtlich Materialien, Abmessungen, Leistung, Toleranzen,
Schnittstellen, Software- und Steuerungsarchitekturen, Funktionen und Merkmalen
auftauchen.
Das bedeutet, dass bei der Installation die Parameter und
Komponenten bereits getestet und verifiziert sind. Das minimiert Spekulationen und
verbessert den Integrationsprozess.
Sobald ein
digitaler Entwurf erstellt wurde, kann er als „Kopier- und Einfüge”-Werkzeug
zum Duplizieren und Replizieren von Linien und Konfigurationen verwendet
werden, was die standortübergreifende Konsistenz an allen Fertigungsstandorten
erleichtert und die Zeit verkürzt, die benötigt wird, um neue Produkte und neue
Anlagen in Betrieb zu nehmen.
Anwendungsfall
2: Weniger Zeit- und Kostenaufwand nach der Installation
Ein großer
Anlagenbauer berichtete einmal, dass beim Bau einer neuen Anlage nur 20 Prozent
der Kosten auf die Planung, den Einkauf und die Installation entfielen. Der
größte Teil, rund 80 Prozent, entstünde nach der Installation der Anlage durch
Nacharbeiten, Fehlerbehebung, die Integration von Maschinen und generell die
Inbetriebnahme der Anlage. Derselbe Anlagenbauer sagte auch, dass die Behebung
aller Fehler und Ausfälle nach der Installation durchschnittlich zwölf Monate in
Anspruch nehme.
Dieser
zusätzliche Zeit- und Kostenaufwand lässt sich durch virtuelle Testläufe vermeiden,
bei denen verschiedene Prozessabläufe, Maschineninteraktionen und sogar
Bedienereingriffe getestet werden. Derartige Simulationen liefern wichtige
Erkenntnisse über potenzielle Engpässe und Fehlerquellen.
Durch die Lösung von
Problemen in der virtuellen Welt können Unternehmen Ausfallzeiten und
unerwartete Störungen in der realen Welt vermeiden. Dies ist ein proaktiver
Ansatz, um Probleme zu antizipieren und zu lösen, Prozesse zu optimieren und
Projektkosten zu verwalten.
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Anwendungsfall
3: Zukunftssichere Produktionslinien aufbauen
Durch die
Erstellung eines umfassenden digitalen Zwillings des Prozesses können
Unternehmen zahlreiche Konfigurationen, Anpassungen und Skalierungsoptionen
ohne teure physische Modifikationen untersuchen. Dies
gewährleistet, dass die Produktionslinien auch bei veränderten
Marktanforderungen oder schwankenden Produktionsvolumina zuverlässig und sicher
angepasst werden können. So wird sichergestellt, dass der Produktionsprozess auch bei
künftigen Herausforderungen agil und robust bleibt.
Anwendungsfall
4: Sicherheitssysteme auf Herz und Nieren prüfen
In vielen
Produktionsumgebungen entscheidet die Funktionsfähigkeit von
Sicherheitsfunktionen über Leben und Tod. Nehmen wir zum Beispiel die
Herstellung von EV-Batterien: Stromschläge, Chemikalienexposition und schwere
Lasten gehören zu den zentralen Gesundheits- und Sicherheitsrisiken für
Bediener, die in dieser Umgebung arbeiten. Allerdings ist es nicht einfach, vor
der Installation einer Anlage alle Sicherheitsfunktionen umfassend zu testen,
vor allem weil die meisten Sicherheitssysteme nicht für einzelne Maschinen
ausgelegt sind.
Virtuelle
Inbetriebnahme ermöglicht das Testen und Verifizieren von Sicherheitsstrategien
und -systemen in einer kontrollierten Umgebung, die die reale Produktion
nachbildet. So erhalten Anlagenbauer ein realistisches Bild davon, wie eine
Maschine auf eine Sicherheitsverletzung reagiert, wenn alle Interaktionen und
Verhaltensweisen der Anlage berücksichtigt werden.
Herausforderungen
der virtuellen Inbetriebnahme angehen
Der
Mehrwert, den die virtuelle Inbetriebnahme in Automatisierungsprojekten bieten
kann, ist offensichtlich. Deshalb wollen immer Unternehmen diesen Ansatz
verfolgen. Allerdings stoßen sie auf Herausforderungen, die es zu bewältigen
gilt, damit die virtuelle Inbetriebnahme erfolgreich umgesetzt werden kann.
Herausforderung
1: Der Einstieg
Das
Hauptproblem, besteht darin, dass es Unternehmen schwerfällt zu definieren, was
sie mit der virtuellen Inbetriebnahme erreichen wollen. Sie verstehen zwar den
Wert, der sich erzielen ließe, können dies jedoch nicht immer in klare Ziele
umsetzen. Infolgedessen haben virtuelle Inbetriebnahmeprojekte oft Schwierigkeiten,
in Gang zu kommen.
Die virtuelle Inbetriebnahme gestaltet
sich effizienter, wenn Unternehmen einen klar strukturierten Fahrplan
verfolgen, Unterstützung durch das Management vorhanden ist und die Erwartungen
der beteiligten Stakeholder-Teams, etwa Softwareentwicklung, Maschinenbau und
Elektrotechnik, aufeinander abgestimmt sind. Es ist außerdem empfehlenswert,
klein und mit einem strukturierten Pilotprojekt anzufangen.
Herausforderung
2: Datengenauigkeit
Die
Erstellung eines genauen digitalen Zwillings ist das Herzstück jedes virtuellen
Inbetriebnahmeprojekts, hängt jedoch von der Verfügbarkeit der richtigen Daten
ab. Allzu oft sehen wir virtuelle Inbetriebnahmeprojekte, die enttäuschend
endeten, weil ungenaue oder veraltete Daten zu einer Diskrepanz zwischen dem
virtuellen Modell und der tatsächlichen Leistung geführt haben.
Diese
Herausforderung wird noch verschärft, wenn versucht wird, komplexe mechanische,
elektrische und softwaretechnische Interaktionen in einem digitalen Raum
abzubilden. Die Lösung besteht darin, von Anfang an auf Datenkonsistenz und
-validierung zu achten und sicherzustellen, dass die richtigen Daten erfasst
und passende Sensoren verwendet werden.
Herausforderung
3: Integration und interdisziplinäre Koordination
Eine
weitere große Herausforderung besteht darin, die Kluft zwischen verschiedenen
Ingenieursdisziplinen zu überbrücken. Virtuelle Inbetriebnahme erfordert eine
enge Koordination zwischen Maschinenbauingenieuren, Steuerungsingenieuren und
Softwareexperten, die jeweils ihre eigenen Werkzeuge und Methoden verwenden. Sicherzustellen,
dass alle Beteiligten bei Simulationsstandards, Datenformaten und
Leistungskennzahlen auf dem gleichen Stand sind, kann sich als schwierig erweisen.
Die Arbeit in derselben Umgebung und auf derselben Plattform ist dabei ebenso
hilfreich wie die Verwendung vordefinierter Funktionsblöcke, die die Anwendung
der virtuellen Inbetriebnahme erleichtern können. Omron und Dassault Systemes
haben gemeinsam eine Bibliothek mit IT/OT-Funktionsblöcken entwickelt, die
sowohl in der Simulationsumgebung als auch in der realen Welt verwendet werden
können.
Herausforderung
4: IT-Infrastruktur
Es macht
keinen Sinn, wenn ein Unternehmen versucht, virtuelle Inbetriebnahme zu
implementieren, wenn die IT-Infrastruktur schwach oder fragmentiert ist.
Virtuelle Inbetriebnahme erfordert eine robuste IT-Umgebung, darunter
notwendige Hardware- und Softwareunterstützung, um komplexe Simulationen
kontinuierlich ausführen zu können. Die Integration in bestehende IT-Systeme
und die Cybersicherheit erhöhen die Komplexität zusätzlich, was weitere
Investitionen und ein sorgfältiges Management erfordert.
Timo Kistner (Nvidia) spricht im Podcast Industry Insights unter anderem über physische KI in der Fertigung und KI für Mitarbeitende.
Viel mehr als eine digitale Nachbildung
Es zeigt
sich vermehrt, dass KI und maschinelles Lernen dazu beitragen können, die
Simulationsgenauigkeit zu verfeinern und die mit der virtuellen Inbetriebnahme
verbundene Lernkurve zu verkürzen. Durch die Integration fortschrittlicher
Algorithmen in den virtuellen Inbetriebnahmeprozess ermöglichen diese
Deep-Technologien digitalen und virtuellen Zwillingen, kontinuierlich aus
historischen und Echtzeitdaten zu lernen, was zu Simulationsmodellen führt, die
physikalische Systeme genauer widerspiegeln.
KI-gesteuerte
virtuelle Inbetriebnahme kann auch Risiken proaktiv identifizieren, Ausfallmodi
vorhersagen und Korrekturmaßnahmen vorschlagen, bevor diese zu kostspieligen
Ausfallzeiten in der realen Welt führen. Außerdem können KI-Tools die
Koordination zwischen Maschinenbau, Elektrotechnik und Softwareentwicklung
erleichtern. So lassen sich etwa Datenformate automatisch standardisieren und
konsolidieren, Systeminteraktionen in Echtzeit simulieren und Konfigurationen
auf der Grundlage interdisziplinärer Erkenntnisse anpassen.
Zusammenfassend
lässt sich sagen, dass die Einbindung von KI und maschinellem Lernen in die
virtuelle Inbetriebnahme die Genauigkeit und Vorhersagefähigkeiten des
digitalen Zwillings verbessert und die Systemoptimierung durch Echtzeit-Tests
und automatisierte Reaktionen beschleunigt. Da Hersteller zunehmend auf derartige
Techniken setzen, wird der virtuelle Inbetriebnahmeprozess immer robuster,
agiler und kostengünstiger, was den Weg für immer komplexere und skalierbare
Systeme ebnet.
Virtuelle
Inbetriebnahme beinhaltet nicht nur die Erstellung einer digitalen Nachbildung
zu Simulationszwecken. Sie ist vielmehr ein integrierter Ansatz, der es
Unternehmen ermöglicht, gezielt und sicher Innovationen umzusetzen. Sie ist ein
Werkzeug, das die Kommunikation zwischen Maschinenbauern und
Anlagenintegratoren unterstützt, eine Strategie, die digitale Simulation nutzt,
um Fertigungsprozesse und Maschinenkonfigurationen vor der tatsächlichen Installation
zu optimieren. Mit der verstärkten Nutzung und Weiterentwicklung von KI und
maschinellem Lernen werden die Erkenntnisse künftig noch tiefer, die Modelle
robuster und die Prozesse schlanker.
FAQ: Virtuelle Inbetriebnahme
1. Was ist der Unterschied zwischen Simulation und virtueller Inbetriebnahme?
Simulation dient dazu, Ideen in einem hypothetischen Raum zu testen und mögliche Szenarien durchzuspielen. Virtuelle Inbetriebnahme hingegen geht einen Schritt weiter: Sie testet das gesamte Fertigungssystem in einer digitalen Umgebung – inklusive Softwarelogik, Schnittstellen und Maschinenverhalten. So lassen sich reale Abläufe vor der physischen Inbetriebnahme umfassend prüfen.
2. Welche typischen Probleme lassen sich mit virtueller Inbetriebnahme vermeiden?
Virtuelle Inbetriebnahme reduziert Missverständnisse zwischen Projektbeteiligten, etwa bei Schnittstellen (z. B. Profinet vs. EtherCAT), unvollständiger Dokumentation oder fehlenden Sicherheitskomponenten. Dadurch werden teure Nacharbeiten, Fehlfunktionen und Verzögerungen in der Projektumsetzung vermieden.
3. Wie hilft virtuelle Inbetriebnahme bei der Kostensenkung?
Ein Großteil der Projektkosten entsteht nach der Installation – durch Fehlerbehebung und Nacharbeiten. Virtuelle Inbetriebnahme ermöglicht es, diese Probleme bereits im Vorfeld digital zu identifizieren und zu beheben. Das spart nicht nur Zeit, sondern kann laut Erfahrungsberichten die Nachbesserungskosten um bis zu 60 % senken.
4. Welche Rolle spielt der digitale Zwilling in der virtuellen Inbetriebnahme?
Der digitale Zwilling bildet das reale Produktionssystem detailgetreu ab – inklusive Mechanik, Elektronik und Software. Er ermöglicht die Erstellung eines digitalen Blueprints, der später zur Replikation von Anlagenkonfigurationen genutzt werden kann. Damit wird eine konsistente Umsetzung über mehrere Standorte hinweg realisierbar.
5. Wie verbessert Künstliche Intelligenz die virtuelle Inbetriebnahme?
KI verfeinert die Genauigkeit virtueller Modelle, indem sie aus historischen und Echtzeitdaten lernt. Dadurch lassen sich Systemverhalten präziser simulieren, potenzielle Ausfallmodi frühzeitig erkennen und Korrekturmaßnahmen vorschlagen. Zudem erleichtert KI die Integration unterschiedlicher Entwicklungsdisziplinen durch automatische Datenstandardisierung.