Mit dem bloßen Auge kaum sichtbar, aber trotzdem ganz groß: Wissenschaftler haben biologisch abbaubare künstliche Zellulosefasern hergestellt, die nicht nur viel stärker als Stahl, sondern sogar noch stärker als Spinnenseide sind. Mithilfe einer neuen Herstellungsmethode hat ein Forscherteam der Königlichen Technischen Hochschule (KTH) Stockholm zusammen mit Wissenschaftlern des Deutschen Elektronen Synchrotron (Desy) in Hamburg ein Biomaterial entwickelt, das aus Cellulose-Nanofibrillen (CNF) beziehungsweise Zellulose-Nanofasern besteht. Diese Zellulose-Fasern bilden in der Natur die Grundbausteine von Holz und anderen Pflanzen. Sie sind nur etwa zwei bis fünf Nanometer dünn und bis zu 700 Nanometer lang.
Welche Eigenschaften hat das Biomaterial?
Infolge einer fehlerfreien Molekularstruktur weisen nanoskalige Bausteine außergewöhnliche mechanische Eigenschaften auf. Zum Beispiel aufgrund einer beeindruckend hohen Festigkeit und Steifigkeit sowie eines äußerst geringen Gewichts und einer besonderen Elastizität.
Biologisch abbaubare künstliche Zellulosefasern erweisen sich als weitaus stärker als Stahl und sogar noch als die stärkere Spinnenseide, die als das stärkste biologische Material überhaupt gilt. „Nanoteilchen sind die kompaktesten Objekte, die man finden kann“, erklärt Stephan Roth, Leiter der Mikro- und Nanofokus-Messstation P03 bei Desy Hamburg. "Für die Zerstörung einer solchen Zelle müsste man sehr viel Energie aufwenden."
Daher könnte das neue Biomaterial zukünftig eine ganze Reihe von Kunststoffen substituieren, die bisher in der industriellen Produktion eingesetzt werden. "Die von uns entwickelten biobasierten Fäden aus Nanozellulose sind achtmal steifer und einige Male zugfester als die Abseilfäden aus natürlicher Spinnenseide", erklärt Daniel L. Söderberg, KTH Royal Institute of Technology in Stockholm. "Wenn man derzeit ein biobasiertes Material sucht, gibt es nichts wirklich Vergleichbares. Es ist stärker als Stahl und alle anderen Metalle oder Legierungen als auch Fiberglas und die meisten anderen synthetischen Materialien."
Für Söderberg liegt diese mechanische Performance auf dem gleichen Niveau wie Glas- oder Kevlarfasern, die jedoch eine hundertprozentige biobasierte Komponente (keine fossilienbasierten Additive) aufweisen und eine bessere Leistung erbringen als das, was auf die Stärke und Steifigkeit von Spinndrag-Seide zurückzuführen ist, die allgemein als das stärkste Biomaterial angesehen wird.
Für welche Industrie-Branchen sind die Zellulose-Nanofasern geeignet?
Den Forschern zufolge ermöglichen diese neuen Zellulose-Fasern die Herstellung von hundertprozentig biobasierter Leichtbau-Verbundwerkstoffe für strukturell anspruchsvolle Anwendungen wie beispielsweise in Automobilprodukten. Da das sehr leichte und zudem hochfeste Material deutlich Gewicht reduziert, ohne auf Sicherheit und Ausstattungskomfort verzichten zu müssen, eignet sich es ebenfalls ideal für den Einsatz in der Raumfahrt oder dem Flugzeugbau.
Die Wissenschaftler sehen auch ein großes Potenzial für medizinische Anwendungen, etwa für Implantate, denn: Zellulose ist Gewebe-verträglich und wird vom Körper in der Regel nicht abgestoßen. Somit sind Biomaterialien als Schlüsselkomponenten für Gerüste und tragende Anwendungen in der Medizin denkbar.
"Für den Fall spezieller Entwicklungen für die Medizintechnik gehen wir davon aus, dass Anwendungen innerhalb von rund fünf Jahren realisiert werden könnten. Für Leichtbauzwecke etwas länger", so Söderberg. Nach Schätzungen der Forscher bewegen sich die Herstellungskosten etwa in der gleichen Höhe wie die der derzeit verwendeten Kunststoffe.
Wie wird Biomaterial aus Nanokomponenten hergestellt?
"Wir können davon ausgehen, dass man in mittelfristiger Sicht diese Zellulose-Fasern auch 3D-drucken kann", stellt Roth heraus. "Im nächsten Schritt werden die mechanischen Eigenschaften und die Funktionalisierung geprüft. Das heißt, dass die Faser zum Beispiel wasserfest gemacht wird oder leitfähige Polymere beigemischt werden."
Eine der größten Herausforderungen bei der Herstellung von technischen Biomaterialien aus Nanokomponenten besteht laut Söderberg darin, die oft außergewöhnlichen Eigenschaften der nanoskaligen Bausteine so zu nutzen, dass das erzeugte technische Material diese Eigenschaften auch erhalten kann.
In einem Produktionsverfahren, das hydrodynamische Fokussierung genannt wird, gelang es, winzige Holz-Zellulose-Fasern (Fibrillen) parallel auszurichten. Im Gegensatz zu natürlichem Holz, worin diese Fasern völlig chaotisch strukturiert sind, weisen die neuen Fasern des Kunststoffs eine sehr feste und widerstandsfähige Konsistenz auf. Um dies zu erreichen, werden die Nanofasern in einem Stahlblock durch einen dünnen Kanal aus Wasser mit der Breite eines Millimeters geleitet.
Der Kanal verfügt über jeweils zwei seitliche Zuflüsse, durch die entionisiertes Wasser sowie Wasser mit niedrigem pH-Wert zuströmt. Die verschiedenen pH-Werte üben dann einen Einfluss auf die Oberflächenladungen aus. Das bedeutet, die Faserbestandteile richten sich beim Drücken durch den engen Kanal parallel aus.
Gleichzeitig wird eine Verklumpung verhindert. Auf diese Weise kann der Strom der Nanofasern beschleunigt und zusammengepresst werden. Das Verfahren sorgt dafür, dass sich die Nanofasern nicht nur in der gewünschten Orientierung ausrichten, sondern auch von selbst zu einem eng gepackten Faden verbinden.
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Das heißt, die Nanofasern können dank der sogenannten supramolekularen Kräfte, die zwischen den Nanofasern wirken, aneinander haften. "Dafür müssen wir sogenannte Wasserstoffbrückenbindungen induzieren", berichtet Roth. "Wir geben Säure dazu, die durch Protonierung die Oberfläche der Nanofibrillen verändert. Daraus entstehen sehr starke Bindungen – wie mit einem Kleber, nur ohne Kleber." Der Prozess kann laut den Wissenschaftlern auch für die Steuerung der Gruppierung von Kohlenstoff-Nanoröhrchen oder anderen Nanofasern angewandt werden.
Röntgenstrahlen überwachen die Produktion
Zur Überwachung des Produktionsverfahrens kommt die Röntgenlichtquelle Petra III (Positron-Elektron-Tandem-Ring-Anlage) des Hamburger Forschungszentrums Desy zum Einsatz. Der helle Röntgenstrahl von Petra III ermöglicht es, den Prozess und die genaue Struktur des Fadens im Detail zu verfolgen, zu analysieren und zu optimieren. Dies ist gemäß den Forschern nur mit Petra III am Hamburger Desy-Forschungszentrum realisierbar.
Das Beugungsmuster der Röntgenstrahlung liefert den Wissenschaftlern die Bestätigung, dass sich die Fasern parallel anordnen und durch zwischenmolekulare Bindungskräfte verbinden. "Wir stellen Fäden von bis zu 15 Mikrometern Dicke und mehreren Metern Länge her", so Roth. Ein Mikrometer ist ein tausendstel Millimeter. Laut den Forschern lassen sich die Fäden auch in größerer Dicke fertigen.
Dieses Potenzial hat das Biomaterial in der Industrie
Sollen neue Materialien von der Industrie verwendet werden, müssen sie zunächst einmal technische, ökologische und ökonomische Vorteile erwarten lassen und in ausreichender Menge vorhanden sein. Zu den Vorteilen gehören im Fall der Zellulose-Kunststoffe die technischen Eigenschaften: Messungen ergeben eine Biegesteifigkeit des Biomaterials von 86 Gigapascal und eine Zugfestigkeit von 1,57 Gigapascal. Laut Söderberg sind die hergestellten biobasierten Nanozellulosefäden achtmal steifer und einige Male zugfester als die Abseilfäden der natürlichen Spinnenseide.
Doch diese grundlegenden Eigenschaften allein entscheiden nicht über den möglichen Einsatz in der Industrie. "Letztlich reicht es nicht aus, dass das Material produziert werden kann, sondern es ist ebenso notwendig, dass das Material industriell weiter bearbeitbar ist", betont Martin Dehn, Leiter Emerging Technologies and Concepts bei Airbus. "Ein superstarkes Material, das beispielsweise nicht gewickelt werden kann, ist operativ nicht einsetzbar. Es gilt immer, dass die Summe aller Eigenschaften besser sein muss."
Der Automobilhersteller Porsche steht mit seinen Tier-1-Lieferanten sowohl in der Vor- als auch der Serienentwicklung in permanentem Austausch über zukunftsweisende Materialien. "Sind am Markt neue interessante Materialien, insbesondere mit Praxisbewährung, vorhanden, werden sie im Technologie-Radarsystem des Innovations-Managementsystems erfasst", sagt Stephan Schmitt, Leiter Werkstofftechnik bei Porsche.
"Porsche nimmt auch über die Rennabteilung eine Sonderstellung ein, da bereits bei kleinen Fahrzeugstückzahlen neue Materialien im Vorfeld erprobt werden können." Für Schmitt sollte das 'Supermaterial' fertigungstechnisch abgesichert als Halbzeug für Beimengungen oder als Faden für Webstrukturen zur Verfügung stehen. Mit diesen Optionen würde das Material an vielen Stellen im Fahrzeug einsetzbar sein, vergleichbar zu Faser- und Partikel-verstärkten Werkstoffen als auch Textilien.
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