Staus von Container-Schiffen auf den Weltmeeren. Festsitzende Ladungen in Antwerpen, Rotterdam und Hamburg. Container-Mangel. Das Fehlen von Lastwagenfahrern. Und: Immer wieder neue scharfe Corona-Lockdowns in Shanghai, Shenzhen und anderen chinesischen Metropolen, die den Außenhandel der Volksrepublik empfindlich behindern. All das sorgte bereits vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine dafür, dass am Ende der Lieferkette Bauteile wie Mikrochips und grundlegende Werkstoffe wie Stahl, Aluminium oder Polymere für die Produktion fehlten. Mit einer Entspannung rechnen Experten frühestens Ende 2023.
Beispiellose Störung der Lieferketten führt zu höheren Kosten
„Seit 2020 erleben wir eine Störung der Lieferketten in einem Ausmaß wie nie zuvor.“ Mit dieser Aussage beschreibt Ruben Conzelmann, Vice President Purchasing bei Pilz in Ostfildern, eine Problematik, die für die gesamte verarbeitende Industrie mit großen Herausforderungen verknüpft ist. Ein zu Jahresbeginn 2022 erhobenes Meinungsbild des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) zeigt deren Relevanz auf breiterer Ebene.
Demnach klagt die Industrie über steigende Kosten beziehungsweise Ertragseinbußen (80 Prozent der Antworten), längere Wartezeiten (82 Prozent), höheren Planungsaufwand (70 Prozent), nicht abgearbeitete Aufträge (50 Prozent) oder gar Produktions-Stopps (42 Prozent) infolge der beeinträchtigten Logistiknetzwerke.
Nikolas Gebhard, Leiter Corporate Supply Chain Management bei Festo in Esslingen am Neckar, bringt die negativen Effekte auf den Punkt, wenn er sagt: „Die Probleme auf dem Transport und Logistikmarkt führen aufgrund von Umplanungen zu erhöhten Kosten und gefährden die Zuverlässigkeit unserer Lieferzeitaussagen“. Volker Göddertz, Leiter Materialwirtschaft bei Index in Esslingen am Neckar, spricht von „hohen Aufwendungen in Eskalationen“.
Ukrainekrieg sorgt für weitere Verknappung von Rohstoffen
Inzwischen haben der Ukrainekrieg und die gegen Russland verhängten Sanktionen die Nöte der deutschen Unternehmen mit der Supply Chain nicht nur verschärft, sondern sie noch um die Energiekrise angereichert. Auch die weltweite Verknappung von Stahl und Kupfer hat sich dadurch ausgeweitet. Die in regelmäßigen Abständen durchgeführten Blitzumfragen des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) illustrieren deutlich, wie sich die Stimmungslage bei den Mitgliedsunternehmen bis Sommer 2022 nochmals verdüsterte (siehe nachfolgende Grafik zur Blitzumfrage des VDMA vom 23. September).
Gravierende Beeinträchtigungen bei den Lieferketten
Am 23. Juni 2022 verzeichneten über 45 Prozent der befragten Unternehmen 'gravierende' Beeinträchtigungen bei den Lieferketten. Zum Vergleich: Zwei Jahre zuvor – am 18. Juni 2020 – lagen die entsprechenden Meldungen bei lediglich einem Prozent. Nur bei drei Prozent der Antworten im September 2022 spielte die Lieferkettenproblematik keine Rolle, während 15 Prozent der Maschinen- und Anlagenbauer nach eigenen Angaben lediglich unter geringen Auswirkungen litten.
Zu diesen gehört die Hartmetall-Werkzeugfabrik Paul Horn in Tübingen, bei der – so Geschäftsführer Matthias Rommel – die Versorgung mit den notwendigen Rohstoffen auf dem globalen Markt gegeben sei: „Die Werkzeugbranche ist im Vergleich zu anderen Branchen in der Metallindustrie nicht direkt von der Lieferkettenproblematik und der Materialknappheit betroffen.“
Übergreifende Task Force, um die Situation zu meistern
Das Gros der im VDMA vertretenen Unternehmen (81 Prozent im September 2022; 87 Prozent im Juni 2022) hatte zuletzt jedoch mindestens mit 'merklichen' Schwierigkeiten zu kämpfen. Um diese zu meistern, habe zum Beispiel Pilz frühzeitig eine abteilungsübergreifende Task Force gegründet, in der Einkauf, Entwicklung, Produktion und Vertrieb eng miteinander kooperierten.
Bosch Rexroth in Lohr am Main baue auf durchgängige Digitalisierung, wie Reinhard Schäfer, Mitglied des Vorstands mit Zuständigkeit für Fertigung und Qualität, berichtet. Zusammen mit seinen Lieferanten habe das Unternehmen ein effektives Abweichungsmanagement implementiert, mit dessen Hilfe sich kurzfristig Prioritäten und Auftragsreihenfolgen in der Fertigung verändern ließen.
Mitunter Verständnis für Projektverzögerungen
Parallel dazu beschreibt Thomas Kucher, Head of Supply Chain Germany beim Pressenspezialisten Schuler in Göppingen, ein Phänomen, das von sich aus etwas zur Entspannung der Situation beiträgt: „Viele unserer Kunden verzeichnen ebenfalls Störungen in ihren Lieferketten und bringen deshalb einen gewissen Grad an Verständnis für Projektverzögerungen auf. Sie wissen, dass wir alles dafür tun, um die Anlage schnellstmöglich ans Laufen zu bringen.“
In ähnlicher Manier äußert sich Oliver Palmert, Leiter Supply Chain Management beim Verpackungsmaschinenhersteller Schubert in Crailsheim: „Wir dürfen mit Stolz sagen, dass wir bis dato bei jeder einzelnen Maschine unserer Lieferverpflichtung nachgekommen sind.“
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Halbleiterkrise mit großen Auswirkungen
Kritisch für Technologieunternehmen wie Bosch Rexroth, Festo, Pilz, Schubert, Schuler oder Trumpf sind insbesondere die Engpässe in der Halbleiterindustrie. Doch auch bei einfachen elektrischen Bauteilen hapert es offenbar. Kucher weiß, dass selbst Kabel und Stecker mitunter schwer aufzutreiben sind. Moritz Ziegler, Leiter globale Einkaufssteuerung bei Trumpf in Ditzingen, verweist darauf, dass aufgrund der höheren Nachfrage bei gleichzeitiger Verringerung des Angebots die Preise für Elektronik stark angezogen hätten.
Damit sitzen die genannten Firmen gleichsam in einem Boot mit den Automobilherstellern, die schon länger mit dem Chip-Mangel konfrontiert sind und frühzeitig Maßnahmen dagegen einleiten mussten. BMW hat etwa bereits Ende 2021 direkte Vereinbarungen mit Mikrochipproduzenten wie Inova Semiconductors oder Globalfoundries abgeschlossen, um die Versorgung mit Halbleitern dauerhaft abzusichern.
Aufwertung des Lagers und Dual Sourcing als Zukunftsstrategie
An Strategien zur Stärkung der Supply Chain-Resilienz mangelt es nicht. Eine davon heißt 'Renaissance des Lagers'. Laut Festo erhalten zielgerichtete Lagerstrategien eine ganz neue Bedeutung. Dies offenbart auch eine Blitzumfrage des DIHK von August 2021. Demnach favorisieren 57 Prozent der interviewten Unternehmen diese Maßnahme zur Milderung oder Behebung der Lieferengpässe.
Ahmed Farid, Vice President Global Supply Chain & Facility Management bei Knapp, einem österreichischen Anbieter von Logistiklösungen, sieht die Einrichtung von verstärkten Pufferlägern entlang der Lieferkette lediglich als temporäres Instrument. Langfristig denkt er eher an eine Verkürzung der Transportwege.
Für Unternehmen mit lokaler, regionaler oder wenigstens 'deglobalisierter' Supply Chain ist das heute schon Realität. So setzt Schubert beim Sourcing zu 92 Prozent auf Deutschland und zu 95 Prozent auf die EU. Zudem sind 'Dual Sourcing' oder sogar 'Multiple Sourcing' bei vielen Unternehmen auf dem Vormarsch. Dazu wird für Teilegruppen mit erhöhtem Risiko die Technik möglichst so standardisiert, dass zwei oder mehr Hersteller ohne großen Aufwand als Zulieferer in Frage kommen.
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Weitere Lösung: Substitution von Bauteilen und Produktionsverfahren
Diesen Weg beschreiten unter anderem Festo, Pilz, Schuler, Trumpf und auch Knapp. Weitere Lösungen, um die Lieferkette zu optimieren, finden sich in der Substitution von Bauteilen und Produktionsverfahren. So habe Bosch Rexroth die Krise genutzt und fehlende Zulieferteile durch per additive Fertigung im eigenen Haus hergestellte Komponenten ersetzt. Pilz wiederum liefere seit Herbst 2021 Sicherheitsrelais mit transparentem Gehäuse aus, um den stockenden Nachschub von grünem Kunststoffgranulat auszugleichen. Dies habe keinerlei technische Einschränkungen für die Kunden.
Ende der Problematik erst Ende 2023?
Wie lange die Lieferkettenproblematik noch anhält, hängt von vielen Faktoren ab. Schäfer bemerkt immerhin eine leichte Verbesserung in den vergangenen Wochen. Möglicherweise spiegelt sich diese in der schon erwähnten Blitzumfrage des VDMA wider: Das erhobene Zahlenmaterial lässt durchaus den Schluss zu, dass sich zwischen Juni und September 2022 die Stimmung nicht weiter eingetrübt, sondern sogar leicht aufgehellt hat.
Ob das schon eine Trendumkehr bedeutet, lässt sich nur schwer beantworten; denn die meisten Experten sagen erst für Ende 2023 eine Entspannung voraus. Gut sieht es anscheinend bald für die Versorgung mit Halbleitern und Chips aus. Branchenanalyst Alan Priestley vom IT-Marktforscher Gartner rechnet in diesem Bereich für 2023 und 2024 sogar mit Überkapazitäten.
überarbeitet von: Dietmar Poll