Was bedeutet aus Ihrer Sicht 'Obsoleszenzmanagement'?
André Zimmer, Geschäftsführer Eichler. "Gemäß der international gültigen IEC Norm 62402 beschreibt Obsoleszenz generell den Übergang von der ‚Lieferbarkeit‘ zur ‚Nicht-Lieferbarkeit‘ bzw. von der ‚Funktionsfähigkeit‘ zur ‚Nicht Funktionsfähigkeit‘ aufgrund externer Einflüsse. In Kürze findet diese Definition hoffentlich eine etwas deutlichere Linie in der Norm.
Betrachtet man sich Bereich der industriellen Fertigung, so ist vor allem die anhaltende Automatisierung und damit verbunden die steigende Anzahl von Bauteil- und Baugruppenabkündigungen ein wesentlicher Treiber für Obsoleszenz.
Während die Betriebsdauer eines Gesamtsystems beispielsweise einer großen Produktionsanlage bzw. -maschine im Durchschnitt 20 bis 30 Jahre beträgt, verfügen einzelne Bestandteile des Systems über deutlich kürzere Lebenszyklen. Am unteren Ende dieser Skala befinden sich Elektronik-Baugruppen, wie HMI-Bediengeräte oder auch SPS-Steuerungen. Mittlerweile ist es keine Seltenheit mehr, dass bereits nach wenigen Jahren der aktiven Vermarktung die Abkündigung durch den OEM vorgenommen wird.
Da Nachfolgeprodukte in den wenigsten Fällen vollständig abwärts kompatibel gestaltet werden, sind umfangreiche und kostenintensive Migrationsaufwendungen die Folge.
Obsoleszenzmanagement hat das Ziel die Handlungsfähigkeit für den Betreiber sicher zu stellen, indem situativ reaktive, proaktive und strategische Maßnahmen angewendet und/oder kombiniert werden."
Wie hat sich das Thema in den letzten fünf Jahren entwickelt?
Zimmer: "Während in der Bahn- oder Luftfahrtindustrie Obsoleszenzmanagement seit vielen Jahren zum Standardrepertoire gehört, hat man das Thema in vielen anderen Industriezweigen bislang meist stiefmütterlich behandelt.
Die Instandhaltung wurde bislang sträflich vernachlässigt.
Hier ist aktuell ein deutliches Umdenken zu verzeichnen. Immer mehr Unternehmen beginnen die Bedeutung von Obsoleszenzmanagement als ganzheitlichem Ansatz zu verstehen.
Sicherlich spielt hier auch das Engagement zahlreicher Fachgremien und Verbände, wie der Component Obsolescence Group Deutschland (COG) eine Rolle. Grundlegende Problemstellungen werden auf breiter Basis diskutiert und rechtliche Rahmenbedingungen bzw. Standards geschaffen.
Durch die neue VDMA Richtlinie 24903 wird die Basis für einheitliche Abkündigungsmeldungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette gelegt. Konkrete Handlungsempfehlungen für den industriellen Bereich lassen sich aus der erst kürzlich im Weißdruck erschienenen VDI Richtlinie 2882 ableiten.
Zusammen mit der aktuell in der Überarbeitung befindlichen internationalen Norm IEC 62402 entsteht ein stabiles Fundament. Alles in allem eine sehr positive Entwicklung, aber es gibt noch jede Menge Arbeit."
"Nicht nur einen Automobilhersteller kostet wenige Minuten Stillstand am Ende des Tages fertige Autos, auch im Mittelstand schlummert hier enormes Potenzial." - André Zimmer
Wie wichtig wird ein gutes Obsoleszenzmanagement in den kommenden fünf Jahren?
Zimmer: "Aus meiner Sicht wird Obsoleszenzmanagement zu einem entscheidenden Faktor für den Erhalt der Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit. Dabei spielt die Instandhaltung eine ganz wichtige Rolle. Ungeplante Stillstandzeiten müssen in einer automatisierten Fertigung so kurz wie möglich gehalten werden. Zur Verdeutlichung: Nicht nur einen Automobilhersteller kostet wenige Minuten Stillstand am Ende des Tages fertige Autos, auch im Mittelstand schlummert hier enormes Potenzial."
Aktuelle Megatrends, wie Industrie 4.0 oder das industrielle Internet der Dinge beschleunigen die Digitalisierung der Produktion und den Einsatz von Automatisierungstechnik enorm.
Es wird darauf ankommen, mit gezielten Ansätzen und Maßnahmen der steigenden Diversität an eingesetzten Systemen und Technologiegenerationen Herr zu werden, um die Anlagenverfügbarkeit aufrecht zu erhalten.
Ohne ein funktionierendes Obsoleszenzmanagement, das bereichsübergreifend fest im Unternehmen verankert ist und auch externe Partner und Dienstleister einbezieht, wird diese Entwicklung kaum zu bewältigen sein."
Was sollten Instandhalter beachten, um Ihre Maschinen am Laufen zu halten?
Zimmer: "Im Wesentlichen geht es für den Instandhalter darum, die Anlagenverfügbarkeit bis zum Ende der geplanten Betriebsdauer sicherzustellen. Dafür sollten Instandhalter die Anlagenbestandteile und deren Systemrelevanz kennen. Baugruppen, deren Ausfall weitere Auswirkungen auf die gesamte Anlage haben, sollten priorisiert behandelt werden. Dazu kommen externe Faktoren wie der Produktstatus oder die Ersatzteilverfügbarkeit am Markt.
Ist die Verfügbarkeit durch Abkündigung eingeschränkt sollte vermehrt auf Reparaturleistungen zurückgegriffen werden. Im besten Fall werden proaktiv Maßnahmen der vorbeugenden Instandhaltung ergriffen um das Ausfallrisiko von vorn herein zu verringern. Kurz gesagt: Es empfiehlt sich, eine Risikoanalyse durchzuführen um im Anschluss die geeignete Versorgungsstrategie zu wählen."
Gilt das reine Horten von Ersatzteilen als Obsoleszenzmanagement?
Zimmer: "In der Praxis ist das speziell bei abgekündigten Baugruppen ein durchaus weit verbreiteter Ansatz. In der Regel handelt es sich hier um unqualifizierte Schattenbestände.
Besonders problematisch ist, dass spezifische Anforderungen an die Lagerumgebung ebenso wenig eingehalten werden, wie die Durchführung zyklischer Refreshmaßnahmen. Das dieser Ansatz nicht zielführend ist zeigt folgendes Beispiel: Werden die Kondensatoren von spannungsfrei gelagerten Umrichtern nicht regelmäßig formiert, kann das Anlegen der vollen Betriebsspannung bei Wiederinbetriebnahme zum Platzen der Kondensatoren führen.
Grundsätzlich empfiehlt es sich, eine Versorgungsstrategie zu etablieren, die bauteilspezifische Refresh- und Reparaturmaßnahmen einschließt."
Kann Software helfen?
Zimmer: "Auf jeden Fall! Vor allem um die Basisfaktoren für ein funktionierendes Obsoleszenzmanagement herzustellen. Hier spielt vor allem das Thema Konfiguration und Stammdatenmanagement eine wichtige Rolle.
Häufig fehlt es den Fachabteilungen an einem grundlegenden Überblick der im Gesamtsystem verbauten Einzelbaugruppen samt der dazugehörigen Lagerbestände. Selbst erstellte Excel-Lösungen kommen zum Einsatz, wenn die vorhandenen Warenwirtschaftssysteme nicht weiterhelfen können.
Zur Bestimmung des individuellen Bauteilrisikos sollten die Stammdaten um weiterführende interne Daten wie MTBF- oder MTTR-Werte angereichert und mit externen Informationen, wie Abkündigungsmeldungen und Marktverfügbarkeiten kombiniert werden, damit ein aussagekräftiges Gesamtbild entsteht.
Das ist jedoch zeitaufwendig und kann von den wenigsten Unternehmen in Eigenregie gestemmt werden. Hier können Dienstleister weiterhelfen. Aktuell arbeiten wir gemeinsam mit den Spezialisten der Amsys GmbH an einer umfangreichen Lösung."
Wo und wie organisieren Sie Ersatzteile für betagtere Maschinen und Komponenten?
Zimmer: "Unser Leistungsspektrum umfasst die Reparatur und den Vertrieb von aktueller sowie abgekündigter Automatisierungstechnik für mehr als 250 Hersteller. Eine eigenständige Fachabteilung beschäftigt sich mit der Sammlung, Pflege und Auswertung von Abkündigungsmeldungen (PDNs und PCNs).
Verzahnte digitale Prozesse sowie ein internationales Beschaffungsnetzwerk ermöglichen es uns, bereits frühzeitig auf Hersteller- bzw. Marktveränderungen reagieren zu können und unsere Beschaffungsplanung entsprechend anzupassen. So können auch längst abgekündigte Bauteile bei Bedarf beschafft werden.
Die fachgerechte Aufbereitung und Lagerung findet direkt im Elektronik-Service-Center in Pürgen statt. Mit über 80.000 Artikeln betreiben wir eines der größten Läger in diesem Bereich. Mittlerweile bieten wir unseren Kunden diesen Service auch im Rahmen des Lagermanagements an. "
Auf was ist dabei zu achten?
Zimmer: "Werden Ersatzteile beschafft kommt es speziell bei abgekündigten Baugruppen ganz besonders darauf an, dass die Funktionsfähigkeit und Qualität gesichert ist. Wie bereits beschrieben müssen ggfs. vor bzw. bei der Lagerung zusätzliche Reparatur- und Refreshmaßnahmen durchgeführt werden.
Sofern Instandhaltungsabteilungen nicht über entsprechende Kenntnisse oder die zugehörige technische Ausrüstung verfügen, sollten Bezugskanäle wie eBay kritisch beäugt werden. Hier hat im Verlauf der letzten Jahre der Handel mit Plagiaten drastisch zugenommen. In diesem Fall lohnt sich die Beschaffung über spezialisierte Dienstleister. Diese können die Funktionsfähigkeit durch Testläufe mit moderner Prüftechnik belegen und bieten darüber hinaus meist zusätzliche Leistungen, wie verlängerte Garantiezeiträume oder Refreshleistungen für Lagerbestände."
Wie wichtig sind die Mitarbeiter beim Obsoleszenzmanagement?
Zimmer: "Die Mitarbeiter zählen bei der Implementierung eines umfassenden Obsoleszenzmanagements zu den wichtigsten Faktoren. Das Verständnis für die Bedeutung und die Vorteile sollte sich nicht nur auf eine einzelne Abteilung, wie die Instandhaltung beschränken.
Unserer Erfahrung nach schöpfen Unternehmensorganisationen, in denen Obsoleszenzmanagement bereichs- und hierarchieübergreifend praktiziert und aktiv gelebt wird, mit Abstand die größten Synergieeffekte. Das fängt bei Planern und Entscheidern im Evaluationsprozess an und zieht sich bis zu Instandhaltung und Einkauf. Jeder Bereich verfügt über relevante Informationen und Fachwissen. Dieses Wissen zu bündeln und nutzbar zu machen ist ohne die Mitarbeiter nicht möglich.."
Kann man Obsoleszenzmanagement lernen?
Zimmer: "Selbstverständlich. Wie bereits erwähnt existieren mehrere Normen und Richtlinien zu diesem Thema, die herangezogen werden können. Darüber hinaus gibt es verschiedene Beratungs- und Schulungsangebote, die besonders Einsteigern zu empfehlen sind.
Als Reparaturdienstleister für Automatisierungstechnik mit über 40 Jahren Markterfahrung haben wir früh festgestellt, dass auf Kundenseite in diesem Bereich eine steigende Nachfrage nach Schulungen besteht. Seit 2011 veranstalten wir bundesweit Instandhaltungsseminare zum Thema Obsoleszenzmanagement.
Hier arbeiten wir Hand in Hand mit dem Deutschen Obsoleszenz-Papst Björn Bartels. Die eintägigen Veranstaltungen stoßen auf reges Interesse bei den Unternehmen. Im November 2019 findet die nächste Veranstaltung statt, diesmal in Berlin."
Immer informiert mit dem Newsletter der INSTANDHALTUNG
Ihnen hat gefallen, was Sie gerade gelesen haben? Dann abonnieren Sie unseren Newsletter!
So bleiben Sie zu allen Neuigkeiten und Trends aus der Instandhaltungs-Branche auf dem Laufenden. Profitieren Sie von den Vorteilen unserer unterschiedlichen Newsletter-Formate - kostenlos!