Mehr Produktivität mit einer einfachen und kostengünstigen Automatisierung erzielen – das ist das Ziel der ‚Low Cost Automation‘. Eine eindeutige Definition für diese Art der Automatisierung gibt es nicht, gerade im Umfeld von Lean ist die Technik aber im Kommen.
Fabrik des Jahres-Kategoriesieger Eissmann Automotive Hungaria setzt beispielsweise auf die Methode. „Wir verstehen unter dem Begriff technologische und technische Lösungen, die Prozessen und Menschen dienen und die von jedem gern gelebt werden“, berichtet Managing Director Attila Böszörményi.
Dabei sei es sehr wichtig, dass diese Ideen einfach, schnell und möglicherweise billig verwirklicht werden können. Nur dann könnten die Ergebnisse von den gemeinsam entdeckten Vorschlägen in kürzester Zeit genutzt werden. So kommt Böszörményi dem ‚Prinzip der Einbindung der Mitarbeiter‘ nach, die der Motor einer kontinuierlichen Entwicklung sind.
Die drei Hauptthemen der Low Cost Automation
Aus Sicht von Eissmann müssen für eine Low Cost Automation drei Hauptthemen betrachtet werden:
Zunächst gilt es, Arbeitsplätze aus Mitarbeitersicht ergonomisch zu gestalten. Böszörményi: „Dazu reduzieren wir Bewegungsverschwendung, Zweihändige Arbeit, und vor allem ersetzen wir unsinnige Arbeit, also Arbeit ohne Wertschätzung, durch einfache Geräte, da die Verschwendung von menschlichem Wissen die größte Verschwendung ist.“
Das zweite Thema im Bereich Low Cost Automation ist bei Eissmann das Linieaufbaukonzept. „Hier achten wir immer auf die einfache Montierbarkeit, Nutzung von kostengünstigem und wiederverwendbarem Material, wie etwa flexible Rohrsysteme, Cartonplast und alltägliche Nutzungsmaterialien“, erläutert Böszörményi. Deswegen arbeiten bei Eissmann immer die Mitarbeiter, die später an der Linie arbeiten, bei der Entwicklung einer Linie mit.
Weiterhin denken die Mitarbeiter von Eissmann auch bei IT-Systemen auf Low-Cost-Ebene. „Wir haben uns dafür selbst eine Software entwickelt“, berichtet Böszörményi. Die notwendige Mannschaft aus Programmierern und Elektronikern gehört direkt zur Lean-Gruppe und sorgt für einfache und Low-Cost-Lösungen. Zusammengefasst heißt Low Cost Automation für Böszörményi: „Kostenwirksamkeit, Flexibilität, Schnelligkeit – diese sind nötig für eine nachhaltige, kontinuierliche Verbesserung.“
Einfache und angepasste Automatisierug
Auch das Institut für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) der TU Darmstadt nutzt die Methode Low Cost Automation in der sogenannten Schlanken Zerspanungszelle in der Prozesslernfabrik. Der Begriff der Low Cost Automation ist für Oberingenieur Stefan Seifermann sowohl in der industriellen Praxis als auch in der Literatur sehr vielfältig besetzt.
Video: PTW TU Darmstadt - 10 Jahre Center für industrielle Produktivität (CiP)
„Die Spanne reicht von Automatisierungslösungen, die im Vergleich zu anderen Lösungen in der Anschaffung etwas kostengünstiger sind, über einzelne Automatisierungselemente, deren Lebenszykluskosten gering sind, bis hin zum umfassenden Verständnis von Low Cost Automation im Sinne der Schlanken Produktion.“ Letzteres propagiere einfache, an die Situation und den Bediener angepasste, eigenentwickelte Automatisierungslösungen mit einem sinnvoll begrenzten Automatisierungsgrad.
Die 6 Dimensionen der Low Cost Automation:
Aus Sicht von Seifermann muss Low Cost Automation sechs Dimensionen erfüllen:
- Einfachheit und Angepasstheit
- Bedienerfreundlichkeit und Beherrschbarkeit
- Fehlersicherheit
- Angemessener Automatisierungsgrad
- Entwicklung unter Beteiligung der eigenen Mitarbeiter/Bediener
- Kostengünstigkeit
Trotz der Begriffsähnlichkeit sei ‚low cost‘ keinesfalls mit ‚low performance‘ gleichzusetzen. „Entsprechend ist der Begriff beziehungsweise sein Übertrag aus dem englischen Sprachgebrauch eventuell unglücklich und sollte vielleicht eher mit ‚angepasster Automatisierung‘ oder ‚Lean Automation‘ umschrieben werden“, so das Fazit von Seifermann.
Differenzierung als Erfolgsmodell
Für Ralph Winkler, Geschäftsführer des Beratungshauses Lean Partners, wiederum geht es im Umfeld von Low Cost Automation immer darum, sich von Wettbewerbern zu differenzieren. „Automatisierung von der Stange limitiert die Differenzierung“, erklärt der Geschäftsführer“, „wirkliche Vorteile gegenüber dem Wettbewerb können nur durch neue Lösungen erzeugt werden.“ Dafür müssten Unternehmen die Chancen nutzen, einzigartige, intelligente Automatisierungen zu entwickeln, die ihre Wirschaftlichkeit und Alleinstellung erhöhen. Diese Art der Automatisierung wird laut Winkler oft Low Cost Intelligent Automation (LCIA) genannt.
LCIA bedeutet aus Winklers Sicht, dass Automatisierung nur bis zu einem gewissen Grad günstig ist, dann eher teuer wird. Diesem Ansatz wohnt ein Grundgedanke inne: Menschen können bestimmte Bewegungen besonders gut, die nur schwer und teuer zu automatisieren sind.
„Dazu gehören das Einlegen und Positionieren, das Erkennen von Ausrichtung von Teilen und Umgang mit kleinen Abweichungen/Ungenauigkeiten“, erklärt Winkler. Ziel von LCIA sei es also, genau diese menschlichen Fähigkeiten besonders pfiffig zu nutzen und Automatisierung nur für die anderen Bewegungen (Betreiben, Auswerfen, Transport) zu nutzen.
Einfache Pflege
LCIA bietet der Erfahrung von Winkler nach auch Vorteile in der Phase des Anlagenbetriebs: komplizierte Systeme erforderten hochqualifizierte Experten für die Instandhaltung, Fehlerbehebung, Reparatur und die Weiterentwicklung. LCIA-Anlagen seien einfacher zu pflegen.
„LCIA sind einfache, aber intelligente Automatisierungslösungen, die einen hohen wirtschaftlichen Effekt bei verhältnismäßig niedrigen Investitionskosten haben“, fasst Winkler zusammen. LCIA nutze dabei speziell die menschlichen Fähigkeiten beim Einlegen und Positionieren von Teilen, aber auch die Kreativität der Menschen im Prozess.
Automatisierung als "Grundrecht"
Bastian Nordmeyer, Geschäftsführer von Tinkerforge, versteht unter Low Cost Automation eine ähnliche Automatisierungs-Philosophie: „Hierbei soll jeder, der etwas zu automatisieren hat, die Möglichkeit dazu haben. Dies soll zum einen durch kostengünstige Automatisierungskomponenten, die flexibel eingesetzt werden können, gewährleistet werden. Zum anderen aber auch durch andere Nutzungskonzepte, sodass teures Fachpersonal dafür nicht notwendig ist.“
Fünf Beispiele für erfolgreiche Low Cost Automation
Beispiel 1: Eissmann Automotive Hungaria
Als Beispiel für erfolgreiche Low Cost Automation bei Eissmann Automotive Hungaria nennt Managing Director Attila Böszörményi den ‚Karakuri‘. „Der Karakuri ist ein trickreiches Instrument, welches mit der Verwendung der kinetischen, potenziellen Energie und Gravitation – welche nie kaputt gehen – die nötigen aber nicht wertschöpfenden menschlichen Bewegungen ersetzt“, erklärt der Werkleiter. Das System sei kosteneffektiv, da anstatt eines Motors mit elektrischem Antrieb und Sensorsteuerung eine voll mechanische, günstige Lösung angewendet werde.
„Diese Instrumente werden für die automatische Weitergabe von Materialien und Leergütern eingesetzt“, sagt Böszörményi. Vorteil vom Karakuri sei die ergonomische, schnelle und einfache Umsetzung, dadurch sei keine besondere Wartung nötig. Böszörményis Fazit: „Das Ausdenken, wie ein solches System funktioniert, braucht seine Zeit und fordert Kreativität. Es ist aber Motivation für alle Mitarbeiter. Mit Karakuri sparen wir zwei bis drei Sekunden je Zyklus ein, was bei einer Fertigungslinie mit 5.000 Stück Tagesausbringung einen halben Mitarbeiter für weitere wertschöpfende Arbeit freisetzt.“
Beispiel 2: Fahrerloses Transportsystem
Das Fraunhofer IML hat mit Locative ein neuartiges fahrerloses Transportfahrzeug (FTF) entwickelt, das nach dem Baukastenprinzip konstruiert ist. Chassis, Lastaufnahmemittel, Steuerung, oder Kommunikation lassen sich aus verschiedensten Bausteinen zusammensetzen und an den jeweiligen Bedarf anpassen. Das Locative entspricht der Vision ‚low cost‘ in mehrerlei Hinsicht, teilt Fraunhofer IML mit. Zum einen wurde der initiale Prototyp des Instituts so engineered, dass es möglich ist, ihn mit Hardwarekosten unterhalb 500 Euro zu bauen.
Das Thema ‚low cost‘ höre aber nicht beim Invest für die Hardware auf, sondern betreffe auch die Kosten für die Inbetriebnahme. So wird für das Locative keine IT Infrastruktur benötigt, noch besonders geschultes Personal. Das FTS kann aus dem Katalog bestellt werden und laut Fraunhofer IML von jedermann einfach in Betrieb genommen werden. Dadurch ist es in besonderem Maße für kleine und Mittelständische Unternehmen interessant, die sich bisher derartige Automatisierung aus Ermangelung von Personal für Inbetriebnahme und Wartung nicht leisten konnten.
Beispiel 3: Modularer Baukasten
Mit Robolink gibt Igus Konstrukteuren einen modularen Baukasten an die Hand, um kostengünstig selbst eine zuverlässige Robotiklösung zu realisieren. „Die Modularität und der Kunststoff ermöglichen dabei sehr günstige Automatisierungslösungen“, sagt Produktmanager Martin Raak, „ein Robolink-Gelenk ohne Motor gibt es bereits ab 243 Euro bei Abnahme von einem Stück; ein Vier-Achs-Roboter ohne Steuerung lässt sich ab 1 500 Euro umsetzen.“ Die Motoren, Encoder, Verkabelungen und weiteres Zubehör seien optional erhältlich. Igus liefert darüber hinaus montierte Arme.
Ein Großteil der Anwendungen sieht Raak im Bereich F&E. „Hier geht es um Anwendungen mit Sprühwasser etwa im Bereich Reinigung, Spülen – oder um die Positionierung von Kameras, Sensoren oder Messköpfen.“ Aber auch industrielle Kunden setzen laut Igus das Robolink-System ein, etwa für Pick&Place-Aufgaben in der Elektronikproduktion. „Wir arbeiten eng mit Anwendern aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammen, um gemeinsam mit ihnen das System auf die jeweiligen Anforderungen anzupassen und weiterzuentwickeln“, sagt Raak.
Beispiel 4: Elektronisches Baukastensystem
Tinkerforge bietet ein elektronisches Baukastensystem, mit dem sich Automatisierungsaufgaben schnell, kostengünstig und einfach realisieren lassen. Aus aktuell über 70 verschiedenen Modulen, angefangen von einem einfachen Schalter über Motorsteuerungen und I/O Module bis hin zu einem komplexen Laser-Entfernungssensor, kann der Anwender die für sein Projekt notwendigen Module zusammenstellen.
„Das Tinkerforge-Baukastensystem ist für viele Anwendungen im Vergleich zu anderen Automatisierungssystemen deutlich günstiger“, berichtet Geschäftsführer Bastian Nordmeyer. Durch die Möglichkeit, das System mit nahezu jeder Programmiersprache zu steuern, falle zudem die Bindung an ein bestimmtes Fachpersonal weg.
Ein Einsatzbereich des Baukastensystems ist etwa die Überwachung von Umweltbedingungen. „Ein Kunde wollte in seiner Produktion an verschiedenen Stellen Umweltparameter aufzeichnen und diese zur späteren Auswertung in eine existierende Datenbank speichern“, erinnert sich Nordmeyer. Die Integration gestaltete sich mittels WLAN und Ethernet hardwaretechnisch sehr einfach. Die Software war mittels ein paar Zeilen Python-Codes sehr schnell geschrieben. Mit Kosten von unter 150 Euro pro Knoten war das System günstiger als andere Lösungen und lässt sich zukünftig einfach erweitern.
Beispiel 5: Low-Cost-Automatisierung
Am Institut für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW) der TU Darmstadt sind verschiedene Low-Cost-Automatisierungslösungen für die zerspanende Industrie entwickelt worden. „Alle entwickelten Lösungen kommen in der Schlanken Zerspanungszelle in der Prozesslernfabrik CiP der TU Darmstadt zum Einsatz und werden dort auf Herz und Nieren auf ihre Praxistauglichkeit geprüft“, berichtet Oberingenieur Stefan Seifermann.
Zu den Low-Cost-Automatisierungslösungen gehören eine automatisierte Programmanwahl durch Nutzung von Leistungsabfragen der Spindel, Bauteilentnahmemechanismen über Sondervorrichtungen für die Spindel, eine pneumatisch verstellbare Bauteilpositionierung, eine optische Bauteillageerkennung unter Verwendung eines Raspberry-Pi, Reinigungsmechanismen von Bauteil und Spannsitz über Druckluft- oder KSS-Lösungen sowie nachrüstbare Türöffnungs- und Schließmechanismen über Pneumatikzylinder.