Landsberg. Auch wenn viele Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes ihren Produktionssystemen einen firmenspezifischen Namen geben, nutzt doch nur ein kleiner Teil bei der Neuordnung seiner Produktion ein Ganzheitliches Produktionssystem (GPS). Nur 7,5 % der Betriebe richten ihre Produktion an allen vier Voraussetzungen für ein Ganzheitliches Produktionssystem aus, die das Competence Center für Industrie- und Serviceinnovation des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) in einer ersten Studie zum Thema herausgearbeitet hat:
4 Punkte, die ein Ganzheitliches Produktionssystem ausmachen
1. Wertschöpfung im Kundentakt
Es soll möglichst nur das produziert werden, was nachgefragt wird. Die Produktion soll so weit wie möglich dem Rhythmus des Marktes angenähert werden, um so die Menge des vorgehaltenen Materials zu reduzieren. Ziel sind Einsparungen beim Umlaufvermögen und der internen Logistik.
2. Veränderungsprozesse über Abteilungen hinweg
Statt Einzelprojekten sollen Veränderungen über Funktions- und Abteilungsgrenzen hinweg und mit indirekten Bereichen abgestimmt werden. So sollen die Nebenfolgen für vor- und nachgelagerte Bereiche in die Lösung eingehen. Ziel: globales Optimum des Wertstroms.
3. Transparenz und Standardisierung
Wertschöpfungs- und Arbeitsprozesse sollen umfassend dokumentiert und transparent gemacht werden. Anstelle situativ angpasster Arbeitsvollzüge sollen die Beschäftigten Best Practice folgen. Ziel ist ein Vergleich von geplanten und tatsächlichen Produktionsabläufen bis hin zu den kleinteiligen Prozessen der Wertschöpfung.
4. Formalisierte Verbesserungsprozesse
Statt einer situativen Kompensation sollen Fehler in der Produktion dauerhaft behoben werden. Dazu wird formalisiert die Ursache gesucht und als Best Practice dauerhaft etabliert. Ziel ist es, die Produktion in einem steten Abgleich von Soll und Ist weiterzuentwickeln und Reibungsverluste zu verringern.
Allerdings befinden sich 12 % der Betriebe an der Schwelle zu einem Ganzheitlichen Produktionssystem; diese haben drei von vier GPS-Leitbildern realisiert und können nur noch bei der Standardisierung, der kontinuierlichen Verbesserung oder in Bezug auf mehr Abgestimmtheit voranschreiten.
Weitere 14 % der Unternehmen stehen vor der Herausforderung, dass sie für ein GPS ihre Produktion technisch anpassen und insbesondere auch Lieferanten umfassender einbinden müssten, um eine Wertschöpfung im Kundentakt zu realisieren.
„Unsere Untersuchung zeigt, dass schon heute einer von 13 Betrieben des verarbeitenden Gewerbes ein Ganzheitliches Produktionssystem realisiert und davon unmittelbar profitiert hat“, sagt der Leiter der GPS-Studie am Fraunhofer ISI, Dr. Christoph Zanker. „Zudem orientiert sich jeder vierte Betrieb an wesentlichen Leitbildern von Ganzheitlichen Produktionssystemen und hat damit das unmittelbare Potenzial, es auch im eigenen Unternehmen einzuführen – oft auch ohne immense betriebliche Anpassungen.“
Für die Untersuchung der Ganzheitlichen Produktionssysteme im verarbeitenden Gewerbe hatte das Competence Center für Industrie- und Serviceinnovation im Rahmen der alle drei Jahre durchgeführten Erhebung ‚Modernisierung der Produktion‘ 1 600 Produktionsleiter befragt. Diese repräsentative Stichprobe für das verarbeitende Gewerbe zeigt, welche Leistung durch GPS im Betrieb erzielt wird.
Zudem befragten die Wissenschaftler 720 Betriebsräte aus der IG Metall und der IG Bergbau, Chemie, Energie zu allgemeinen Veränderungen und Ganzheitlichen Produktionssystemen in ihren Betrieben sowie zu den Folgen für die Beschäftigten. Diese Erhebung deckt eine große Bandbreite an mittelständischen und großen Unternehmen aus der Metall- und Chemiebranche ab. Deren Ergebnisse erlauben einen Einblick in die Sicht der Beschäftigten auf das Thema.
Die vorliegenden Analysen sind Zwischenergebnisse der im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung durchgeführten Studie „Ganzheitliche Produktionssysteme in der deutschen Wirtschaft“. Die finalen Ergebnisse werden durch die Hans-Böckler-Stiftung voraussichtlich Mitte des Jahres veröffentlicht.
Die Studie zeigt, dass Unternehmen mit Ganzheitlichen Produktionssystemen viel häufiger Methoden der Fabrikorganisation einsetzen als Betriebe ohne ganzheitliche Perspektive. Das betrifft die Methoden Wertstromdesign, Kanban, 5S/5A, Standard Work, Visual Management und Kaizen/kontinuierlicher Verbesserungsprozess. GPS-Unternehmen sind auch aktiver als Unternehmen, die ein einfaches Lean-Paradigma verfolgen, also nur eine Wertschöpfung im Kundentakt anstreben.
Da die Einführung Ganzheitlicher Produktionssysteme viele Ressourcen erfordert, stellt sich die Frage, ob Unternehmen mit einem GPS auch wirtschaftlich leistungsfähiger werden. Denn für die Umstellung müssen die Mitarbeiter viele Arbeitsstunden leisten, es fallen häufig Honorare für externe Berater an und manchmal müssen die Firmen in einen dezentralen Maschinenpark investieren.
Das Ergebnis ist eindeutig: Der Studie zu Folge haben GPS-Betriebe gegenüber vergleichbaren Unternehmen eine klar höhere Produktivität, die als totale Faktorproduktivität gemessen wurde. Auch stellte das Fraunhofer-Institut fest, dass Firmen mit einem GPS einen geringeren Anteil an Fehlteilen und Reklamationen haben, die Durchlaufzeit eindeutig kürzer ist und Waren häufiger zum vereinbarten Termin ausgeliefert werden. Gegenüber Firmen mit einem einfachen Lean-Paradigma schneiden Unternehmen mit einem GPS ebenso hinsichtlich Produktivität, Termintreue und Durchlaufzeit besser ab.
Auf der anderen Seite steigen der Studie zu Folge durch Ganzheitliche Produktionssysteme jedoch die Belastungen für die Beschäftigten. So sehen über 80 % der Betriebsräte gesundheitliche Mehrbelastungen im Produktionsbereich durch eine Wertschöpfung im Kundentakt. Aber immerhin 40 % der Arbeitnehmervertreter nehmen auch eine höhere Beteiligung der Beschäftigten an Verbesserungsprozessen durch GPS wahr.
Nach Ansicht von Janis Diekmann, der die Analysen zur GPS-Studie des Fraunhofer ISI durchgeführt hat, „müssen die Mehrbelastungen, insbesondere durch eine Produktion im Kundentakt, reduziert werden, sollen die Ganzheitlichen Produktionssysteme dauerhaft zum Erfolg des Unternehmens beitragen.“ Die Gestaltung der Arbeitsschritte einer Wertschöpfung im Kundentakt erfordere einige Sorgfalt und auch einen Blick in die Zukunft. Damit Ganzheitliche Produktionssysteme auch mit einer älteren Belegschaft erfolgreich sein können, müssten bestehende Lösungen angepasst werden.
Für Dr. Zanker wird die weitere Verbreitung von Ganzheitlichen Produktionssystemen auch davon abhängen, „wie GPS-Konzepte mit neuen Lösungen von Industrie 4.0 zu wettbewerbsfähigen Produktionssystemen verbunden werden.“ Die Durchdringung des Produktionsbereiches mit Informationstechnologien der Industrie 4.0 werde zu einem neuen Baustein von GPS. Dr. Zanker prognostiziert, dass mit der Verfügbarkeit und der schnelleren Anpassung und Verbreitung von Best Practices Ganzheitliche Produktionssysteme in der Industrie 4.0 noch umfassender als bisher zur Geltung kommen können.
Anwender: Elektror Airsystems steigerte nach einem Umzug die Produktivität
Die Elektror Airsystems GmbH in Waghäusel musste ihren Auftragsdurchlauf neu gestalten, weil das Produktionswerk des Herstellers von Industrieventilatoren modernisiert wurde, die Anforderungen an den Umweltschutz sich veränderten und neue Produkte hergestellt werden sollten. Zudem war das Fachpersonal auf einzelne Bereiche spezialisiert, so dass es nicht in anderen eingesetzt werden konnte.
Um einen umfassenden Veränderungsprozess zu initiieren, kooperierte der Werkleiter von Elektror in Waghäusel, Markus Fuchs, mit dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) Stuttgart. Die Wissenschaftler entwickelten für den Ventilatorenhersteller ein Logistikkonzept, das bei der Erweiterung des Produktionsstandortes einen optimalen Materialfluss ermöglichen sollte.
Umgesetzt wurde dieses Logistikkonzept von einer jungen, komplett neuen Führungsebene, die sich den Anforderungen des Marktes und den neuen Produkten stellte, zusammen mit den bisherigen Mitarbeitern am Standort Waghäusel.
Probleme bei der Umsetzung des Konzeptes traten teilweise auf, weil die bisherigen Mitarbeiter von den neuen Technologien und Maschinen überfordert waren.
Dem begegnete der Werkleiter mit Weiterbildungsmaßnahmen und Schulungen. Auch stellte Fuchs neue Fachkräfte ein, die regelmäßig Inhouse-Schulungen erhalten. Zudem sind an dem Standort 10 % der Belegschaft Auszubildende.
Werkleiter Fuchs schaffte es mit dem Konzept, die Verarbeitung der Materialien prozesssicher zu machen, die Fertigungszeiten zu verkürzen sowie die Qualität der Produkte und die Liefertermintreue zu erhöhen. Dies hat nach Einschätzung von Fuchs dazu geführt, dass Elektror als mittelständischer Betrieb wieder attraktiver für junge Bewerber geworden sei, sowohl was die Ausbildung als auch die Festanstellung betrifft. Elektror erfahre viel Lob in der Öffentlichkeit und könne sich so auch gegen große Unternehmen in der Region behaupten.
Gunnar Knüpffer